© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Der Verlust des Politischen
von Werner Olles

Die Linksentwicklung ist keineswegs etwas spezifisch Deut sches. Sie betrifft alle europäischen Länder, vielleicht mit Ausnahme Österreichs, der Schweiz, Polens und der baltischen Staaten, und sie ist nicht auf Europa beschränkt. Es ist dies auch nicht ein vorübergehender einmaliger Vorgang, sondern ein langanhaltender Prozeß der Veränderung und einer Angleichung, der über nationale Grenzen hinwegschwappt und den politisch-kulturellen und sozio-ökonomischen Überbau der demokratisch verfaßten Gesellschaften völlig neu gestaltet.

Linkswendungen von politischen Parteien, von gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen oder einzelnen Menschen sind dabei nur selten das Resultat geistiger Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Ideologien, Weltanschauungen oder Wertemustern. Was sich in den Köpfen an willkürlichen und universalen Verbindlichkeiten niederschlägt, ist vielmehr primär Ausdruck kultureller, machtpolitischer, sozialer, ökonomischer und materieller Veränderungen, die die Menschen erleben oder erleiden. Diese institutionalisierte Form bürgerlicher Selbstvergewisserung transzendiert am Ende alles konkret Politische in Richtung auf die von Konservativen, Rechten und Nationalen schon immer mit berechtigtem Argwohn betrachteten negativen Phänomene der Massendemokratie. Aber anstatt nun gegenüber einem derartig substanzlosen Denkstil der anonymisierten und atomisierten Massengesellschaften andere Prioritäten zu setzen – das Politische, die Geschichte, die Anthropologie – beteiligten sich die Konservativen und in deren Gefolge auch die sogenannten "rechten" Parteien an der Abschwächung des Politischen, indem sie zu dieser Farce auch noch die Elegie schrieben: nämlich den Staat mit Marx nur als eine "übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft" mißzuverstehen. Das sicherte ihnen zwar einen gewissen musealen Status, forcierte jedoch nach einer kontinuierlichen Folge politisch-strategischer Fehleinschätzungen entscheidend ihren Niedergang. Ungestraft schaut man nicht der Verwischung zwischen Staat und Gesellschaft – und dem damit unweigerlich verbundenen Zerfall der staatlichen Strukturen – zu. Da genügt es längst nicht mehr, daß die Konservativen bis heute immer noch diejenigen sind, die am deutlichsten die allseitige Korrumpierbarkeit der Menschen und die Verkommenheit der Gesellschaft zu erkennen vermögen. Politisches Dasein muß in erster Linie immer eine besondere Form des Willens zur Macht sein.

Genau wie die Konservativen in der Kulturrevolution von 1968 der Suggestion ihrer eigenen Dramatik erlagen und fortan nicht selten in politischen Fragen als ihre eigenen Konkursverwalter auftraten, wurde mit der welthistorischen Wende von 1989 und dem Nieder- und Untergang der realsozialistischen Staaten sowohl der Lebensnerv der klassischen, orthodox-traditionalistischen, marxistischen Linken, aber auch der demokratischen, liberalen Status quo-Linken – von ein paar Einzelpersönlichkeiten abgesehen existierte bereits seit Mitte der sechziger Jahre keine antikommunistische Linke mehr – und ihrer zahlreichen Gefolgschaft schwer getroffen. Während jedoch die Rudimente der kommunistischen Linken heute fast verschwunden sind und sie, allen Regierungsbeteiligungen zum Trotz, seitdem an chronischer Auszehrung und Substanzverlust leidet, konnte sich die liberale und sozialdemokratische Linke relativ schnell von diesem Schlag erholen und ihre beschämende Rolle gegenüber den Freiheitsbewegungen in den kommunistischen Diktaturen in den letzten Jahrzehnten vergessen machen.

Gleichzeitig mit der Wende feierte das internationale Finanzkapital Triumphe. Fast zwei Billionen US-Dollar jagen heute täglich um den Erdball, 95 Prozent davon allein zu spekulativen Zwecken. Die Durchsetzung von Globalisierung und Deregulierung, die einherging mit der vollständigen Diskreditierung des Planungsgedankens, kreierte einen "Paläo-Liberalismus" (Günter Maschke), bei dem inzwischen nur noch das Recht des Stärkeren gilt, und dessen globale Durchsetzung einer uniformen Massenkultur im welthistorischen Maßstab gesehen bislang einmalig ist.

Die politische Bedeutung nationaler Regierungen und Institutionen sank im gleichen Ausmaß, wie die politische Macht multinationaler Banken und Großkonzerne zunahm. Die globalen Finanz- und Spekulationsmärkte lassen die wenigen verbliebenen nationalen Selbstbestimmungsrechte immer mehr zur Makulatur werden.

Die Medien befinden sich, von wenigen Randerscheinungen abgesehen, in den Händen der großen Konzerne und der von diesen abhängigen politischen Klasse. Sie infiltrieren das Alltagsbewußtsein der Menschen und manipulieren heute die öffentliche Meinung in einer Weise, daß selbst Goebbels und die Desinformationsstrategen des KGB vor Neid erblassen würden. Besonders augenscheinlich wurde dies bei der NATO-Aggression gegen Rest-Jugoslawien. Auf der anderen Seite sind die Medien aber auch in der Lage, je nach Bedarf Politiker aufzubauen (Schröder, Fischer, Merkel) oder hinzurichten (Heitmann, Kohl).

 

Die Konservativen und auch die rechten Parteien beteiligten sich an der Abschwächung des Politischen. Dabei muß politisches Dasein in erster Linie immer eine besondere Form des Willens zur Macht sein.

 

Diese Entwicklung zersetzte die letzten Reste an politischem Bewußtsein und Klassenbewußtsein in einem ohnehin bereits zur bloßen Bevölkerung atomisierten Volk, dessen substantielle Dekadenz inzwischen jeden Rahmen sprengt.

So betrachten zum Beispiel die allermeisten Arbeitnehmer die Gewerkschaften, die früher einmal als Kampforganisationen oder zumindest Interessenvertretungen der Arbeitnehmerschaft galten, bestenfalls noch als Versicherungsinstitute, und von einem solidarischen, gewerkschaftlichen Bewußtsein kann längst keine Rede mehr sein. Die politische Linke – inklusive der Gewerkschaftsführungen – reagierte auf diesen Prozeß einer zunehmenden Entmachtung von Politik, der Aushöhlung der Demokratie und der Nivellierung der Parteien bei gleichzeitiger Annahme der konstruktivistischen Ideologien einer permanenten ethischen Vergewisserung (Menschenrechte, Multikulturalität etc.) auf allen Ebenen mit einer entschlossenen Abkehr von den letzten Resten gewisser bislang noch vorhandener populistischer und antikapitalistischer Positionen und einer verkrampften Distanz zu Volk und Nation. Die Sozialdemokratie degenerierte in einem geradezu atemberaubenden Tempo zur "Neuen Mitte", während der Aufstieg der Grünen von einer klassischen linksradikalen Pöbel-Partei der Post-68er-Bundesrepublik zur politischen Konsens-Avantgarde der Neuen Mittelklasse (NMK) nur diejenigen noch überraschen konnte, die diese lächerlichste und aller deutschen Bewegungen seit 1945 einmal ernst genommen haben und in ihr die metaphysische Wirkmacht sozialer und ökologischer Urkräfte vermuteten.

Grünen-Sprecher Trittin begrüßte beispielsweise die Einführung des Euro mit dem Argument, dadurch würden in Zukunft nationalistische Alleingänge unmöglich. Noch tiefer können ehemalige Marxisten nun wirklich nicht sinken! Und Joseph Wilhelm Fischer, "der unfähigste Außenminister seit Ribbentrop" (Bruno Bandulet), dessen "Putz-Trupps" in den frühen siebziger Jahren Andersdenkende terrorisierten und den früheren sozialdemokratischen Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt "an die SA erinnerten", sieht allen Ernstes Auschwitz als "das einzige Fundament der Berliner Republik".

Mit einem Schock reagierten jedoch auch die wenigen verbliebenen Reste der Konservativen – sofern sie nicht ohnehin bereits zu etwas autoritären Ordo-Liberalen mutiert waren – auf den Zusammenbruch der altbewährten Ordnung. Während der Konservativismus der fünfziger und frühen sechziger Jahre wenigstens noch als politische und kulturelle Stimmung spürbar gewesen war – seine Illusionen hatte er schon vor und unter Hitler verloren –, vermochte er auf die Mitte-Links-Entwicklung der achtziger und neunziger Jahre in der Gesellschafts-, der Kultur-, der Bildungs-, und der Innen- wie Außenpolitik nur noch wie ein delirierender Fratzenschneider des heroischen Tons zu reagieren. Als jämmerliche Parodie des einst mächtigen preußischen Konservativismus Bismarcks oder auch jenes der Zwischenkriegszeit besaß er keinerlei politisches Gewicht mehr. Entsetzt über die breite Basis der Mitte-Links-Entwicklung, der, vorangetrieben durch die Medien, inzwischen ein beträchtlicher Teil der entsolidarisierten Gesellschaft zuneigt, beschlossen auch die bürgerlichen Parteien, nach links zu rücken und ihren alten konservativen Anspruch ohne jede Not preiszugeben. Ein wenig schönes Beispiel dafür war Wolfgang Schäubles Jubel über Maastricht als "eine Übereinkunft über das Ende des keynesianischen Sozialstaates".

Diese Entwicklung in der Gesellschaft und in den Parteien ist jedoch längst noch nicht abgeschlossen. Und sie wird weitergehen, solange keine demokratische rechte oder konservative Partei entsteht, besteht oder sich gar zu einer relevanten Kraft entwickelt. Da dies aber ohne Unterstützung durch entsprechende politische Bewegungen nicht möglich ist und weil zudem dafür ganz offensichtlich einstweilen die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt, wird der Drang zur Mitte, der in Wirklichkeit ein Drang nach links ist, vermutlich eher noch zunehmen.

Hinzu kommt, daß viele sogenannte Rechte nationale Stärke und Weltmarktorientierung wollen. Damit kommen sie jedoch aus dem Gegensatz nicht heraus, die Teilhabe an der internationalen Konkurrenz als Mittel nationalen Erfolgs zu befürworten, ohne den möglichen Mißerfolg gewärtigen zu wollen: das Unterliegen in der Konkurrenz, das Niederkonkurriertwerden nationaler Kapitale durch ausländische, inklusive Arbeitsplatzverlust und sinkendem Steueraufkommen in Deutschland. Solange der Nationalstaat für diese "Rechten" positiv auf die kapitalistische Ökonomie bezogen ist, dürfen sie auch nichts gegen die Konsequenz einwenden, wenn sich aus der ökonomischen Entwicklung heraus die Spielräume und Regulierungsmechanismen des Nationalstaates erheblich verringern.

 

Die Geschichte

des Konservativismus seit Ende der fünfziger Jahre ist eine Geschichte des Niedergangs, der Degeneration politischen Bewußtseins und der Unterordnung unter bürgerliche Ideologien.

 

Echte Konservative müßten hingegen gegenüber diesen "rechten" Münchhausiaden, die verknüpft sind mit einem Utopismus der schlechtesten Sorte, die Verdichtung von sozialen und materialen Stoffwechselprozeßen auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene fordern und dem Primat der Steigerung von Geschwindigkeiten und der Durchlässigkeit des Raumes neue Leitbilder entgegensetzen: Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung bis hin zur Autarkie der Kleinräumigkeit und symbiotischen-synergetischen Wechselwirkungen.

Die bürgerlichen Parteien rücken jedoch nach links, nicht nur, weil dies den Erfordernissen und Bedürfnissen der ökonomischen Entwicklung entspricht, sondern weil es auch die Stimmung an ihrer Basis ausdrückt. Es liegt also nicht nur am schwachen Führungspersonal, sondern die Mitglieder haben auch die Führung, die sie verdienen, genau wie das Volk in einer Demokratie die Regierung hat, die es verdient. Man muß diesen Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn sie einem als Konservativen nicht gefallen.

Es rächt sich jetzt auf fatale Weise, daß gerade bei bürgerlichen Politikern über Jahrzehnte die einzige Botschaft "Wirtschaftswachstum" hieß. Der CDU-Konservative Bruno Heck hatte noch Mitte der sechziger Jahre richtig bemerkt, daß eine Gesellschaft, die "kein Ethos jenseits der Ökonomie" mehr kennt, mit der Zeit auch kein Interesse mehr an ihrer eigenen großartigen Geschichte und Kultur hat. So überließ man dann bereitwillig das geistige Klima den von der Achtundsechzigern und ihren Apologeten okkupierten Medien, die die Wirklichkeit nach den von ihnen vorgegebenen Mustern einordneten und zurechtbogen und die Nation als Schutzgehäuse gegen marktradikale Dogmatik einerseits und neokeynesianistische Illusionen andererseits und als Votum gegen eine Dauerverunsicherung von Identitäten der Lächerlichkeit preisgaben.

Aber auch der allzu frühe Jubel mancher Konservativer über Fähigkeiten, Menschlichkeit und Geist einer Generation, die sich im Gegensatz zu den Achtundsechzigern nicht mehr über politische Programme oder Inhalte definierte, sondern allein durch ihre Sucht nach Konsum, hat sich inzwischen weitgehend gelegt. Was hier ideologisch überhöht wurde, war nichts anderes als die Illusion einer übersättigten Mittelklasse, die sich mit den Segnungen staatlicher Alimentationen über ihre eigene Macht- und Einflußlosigkeit hinweglog. Denn immerhin tauschten die Achtundsechziger noch Papiere aus, lasen und diskutierten Bücher, verfaßten Flugschriften und verfolgten politische, wenngleich auch falsche und teilweise verbrecherische Ziele, während die Spaßjugend der "Generation Golf" zwar schnell und leicht Geld verdient und sich pausenlos amüsieren will, aber intellektuell nicht einmal in der Lage ist, ihre eigene Erbärmlichkeit und Hofnarren-Funktion zu durchschauen.

Die Geschichte des Konservativismus seit Ende der fünfziger Jahre ist eine Geschichte des Niedergangs, der Degeneration politischen Bewußtseins und der Unterordnung unter bürgerliche wirtschaftliche und politische Ideologie. Im Spannungsfeld zwischen prämodernem Traditionalismus und kapitalistischer Moderne, zwischen konsumistischer Massenkultur und subjektiver Widerspruchsverarbeitung berührte er zwar die Knotenpunkte der spätbürgerlichen Aporie, konnte aber zur praktisch-kritischen Bewußtseinsentwicklung und zur Formierung einer widerständigen Subjektivität kaum etwas beitragen. Diesen Prozeß aufzuhalten und dem Konservativismus wieder eine Perspektive zu geben ist notwendig. Ihn umzukehren, wird eine schwierige theoretische und praktische Arbeit sein, zumindest solange Konservative es immer noch geduldig akzeptieren, nicht als regulärer und normaler Teil der Gesellschaft behandelt zu werden. zudem verlangen Wesensgehalt und subjektive Funktionalität der neoliberalistischen Ideologie auch eine wissenschaftliche Neubegründung konservativ-revolutionärer Ethik und Moral. Ohne das Wiederaufleben gesellschaftlicher Bewegungen, und ohne daß diese zu einer Restitution politischen Bewußtseins führen, ist eine konservative Wende aber unmöglich.

Mit Hilfe des Dialektischen und Historischen Materialismus haben die Marxisten recht genau die Bedingungen für eine revolutionäre Situation analysiert und definiert: wenn nämlich die "Oberen" nicht mehr so weitermachen können, und die "Unteren" nicht mehr so weiterleben wollen wie bisher. Von dieser Situation sind wir zwar weiter entfernt denn je, aber in der Politik ist wie in der Geschichte nichts ewig. Wenn eines Tages die Krisenhaftigkeit des Systems in den Metropolen aufbricht und schwere soziale Erschütterungen und Verwerfungen zur Folge hat, wird auch das Bewußtsein durch ein neues Sein einer Veränderung ausgesetzt werden, und dann ist vielleicht endlich eine politische Wende möglich.

Welche politischen Organisationsformen jenseits der unrevidierbar nach links gerückten bürgerlichen Parteien das Resultat einer solchen Emanzipation sein werden, und ob sich aus einer solchen Praxis theoretische Vereinheitlichungen ergeben, die in einer Wiederaufnahme und Aktualisierung des Konservativismus und in einer Annäherung von Anspruch und Wirklichkeit der Konservativen bestehen müßten, sind offene Fragen. Und natürlich sind auch immer mehrere Ausgänge des Geschehens möglich. Es bedarf jedoch der Vorbereitung und des Kampfes der verbliebenen Konservativen, um auch in einer für sie mißlichen Zeit heute schon Bausteine zu setzen, um kommende Chancen einst nutzen zu können.

 

Werner Olles schrieb zuletzt auf dem Forum in der JF 21/00 ("Von der Neuen Linken lernen")


 
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