© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
"Opfer der Spaßgesellschaft"
Christian Meier über die aktuelle Lage im Rechtschreibkampf, den Reform-Widerstand der Deutschen Akademie und die hiesige Lesekultur
Moritz Schwarz

Herr Professor Meier, seit der Rückkehr der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zur alten Rechtschreibung vor einigen Tagen wartet alles voller Spannung auf den nächsten Schritt. Sie sind der Präsident der renommiertesten Institution zur Pflege der deutschen Sprache und fordern das "wohlverdiente Ende" der Rechtschreibreform. Wird Sie jetzt kippen?

Meier: Das ist nicht genau zu sehen. Wir hoffen darauf, aber manchmal wird man auch enttaüscht. Sicher ist, die Dinge stehen auf der Kippe. Viel braucht es nicht mehr. Es hängt vor allem von der Vernunft der Redaktionen und Kultusminister ab.

Entscheidend sind aber doch nicht die Redaktionen, sondern die Verlage?

Meier: Ja sicher, aber in den Verlagen kann man nicht völlig überhören, was die Redaktionen sagen.

Warum hat man nicht einmal eine so bedeutende Einrichtung, wie Ihr Institut an der Reform beteiligt?

Meier: Man hat Anfang der neunziger Jahre etwa dreißig Organisationen zu einer Anhörung eingeladen. Diese Einladung ist bei uns nicht eingegangen. Bezeichnend ist nun, daß kein Interesse bestand, bei der Institution, die eigentlich eine besondere Zuständigkeit dafür hat – mehr jedenfalls als Dolmetscherverbände oder die Bundesanstalt für Industrienorm – einmal nachzufragen, warum sie sich nicht meldet. Man hat mir später einmal gesagt, man sei froh gewesen um jeden, der sich nicht geäußert habe. Wir sind dann, wie die meisten anderen auch, erst mit der fertigen und beschlossenen Reform konfrontiert worden. Wir haben sogleich, als die Wörterliste bekannt wurde, protestiert. Diesen Protest haben wir mehrfach wiederholt und auch unsere Hilfe angeboten, etwa bei einer Reform der Reform. Die ja wohl mindestens notwendig ist. Diese Hilfe ist jedoch nie angenommen worden.

Wie erklären Sie sich das?

Meier: Wir erhielten stets zur Antwort, wir sollten uns an die Rechtschreibkommission wenden. Worauf wir aber verzichtet haben, da wir uns nicht einfach einbinden lassen wollten. Denn man beobachtet ja, daß andere Institutionen dadurch ihre Selbständigkeit eingebüßt haben. Wir wollten aber unsere Unabhängigkeit behalten, was sicher auch der Sache dienlich ist. Aber an einer unabhängigen Instanz war man offenbar nicht interessiert.

Wären Sie denn mit einer geglückten Reform zufrieden gewesen?

Meier: Wir haben eine eingreifende Reform immer für falsch und unnötig gehalten. Als sie einmal da war, haben wir – um zu retten, was zu retten war – einen Kompromiß-Vorschlag eingebracht. Wir wollten uns in der "ss/ß"-Frage – wider bessere Einsicht – unterwerfen, im übrigen aber einiges übernehmen und anderes modifizieren. Diesen Vorschlag vesandten wir an die Ministerien, wie üblich, ohne Antwort zu erhalten. Aber wir haben klargemacht, daß wir zu diesem Kompromißvorschlag lediglich angesichts der Machtverhältnisse bereit waren. Da man auf den Kompromiß nicht eingegangen ist, fühlen wir uns auch nicht daran gebunden.

Haben Sie mit den Bürgerinitiativen, wie dem "Verein für Rechtschreibung und Sprachpflege" (VRS), gegen diesen staatlichen Willkürakt zusammengearbeitet?

Meier: "Zusammengearbeitet" ist zuviel gesagt, aber man hat ein paar Kontakte gehabt. Speziell Herr Ickler hat eine sehr nützliche Arbeit für die Sache geleistet. Zum Beispiel durch das sehr gute, soeben erschienene neue Rechtschreibwörterbuch, das er erarbeitet hat. Wir befürworten selbst durchaus die Beseitigung einiger Ungereimtheiten in unserer Schrift. Der Duden hatte sicherlich einige Dinge falsch gemacht, anderes fester gehämmert, als es notwendig gewesen wäre. Den Regeln täte eine elastischere Handhabung bestimmt gut. Dies würde ich als die subsidiäre Tätigkeit des Staates in dieser Hinsicht verstehen: Er soll, wie er es immer gemacht hat, in Kleinigkeiten – und zwar nicht im Widerspruch zu den Schreibgewohnheiten – wohltuend regulieren.

Sie halten also den Staat nicht für legitimiert, ohne Volksabstimmung so tief in die deutsche Sprache einzugreifen?

Meier: Ich halte es für geradezu rechtswidrig, daß Kultusminister tiefer in die Schreibung eingreifen. Sie haben das noch nie in deutschen Landen getan, weder in Bayern noch in Preußen. Außer 1941 unter den Nationalsozialisten, allerdings ist dieser Beschluß dann nie umgesetzt worden. Unsere sogenannten "demokratischen" Kultusminister sind also die einzigen, die das gewagt haben. Und dies finde ich skandalös. Dabei fühle ich mich als Bürger noch mehr bevormundet und geohrfeigt denn als Leser und Schriftsteller.

Wo liegt nach Ihrer Meinung eigentlich die Hoheit über die Sprache: bei den Politikern, dem Volk, den Dichtern oder den Linguisten?

Meier: Es gibt da keine Hoheit, sondern dies ist von Alters her die Sache eines demokratischen Prozesses. Es hat ja viele Unebenheiten in der deutschen Sprache gegeben, übrigens auch Rücksichtslosigkeiten: Goethe selbst hat gesagt, er kümmere sich nicht darum, das interessiere ihn nicht, und es sei ganz gut, unterschiedlich zu schreiben. Bei allem Respekt, aber das halte ich heute nicht mehr für eine gute Regel, denn der Leser – und sehr viele von uns müssen heute sehr viel lesen – muß, ohne über Eigenheiten von Rechtschreibung zu stolpern, möglichst schnell den Sinn einer Äußerung erfassen können. Sonst können wir vieles gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen und eine demokratische Gesellschaft sollte zur Kentnis nehmen, was in ihr geschrieben wird. Dazu braucht es einheitliche, klare Regeln. Die Schreibenden haben im Laufe der Zeit eine einheitliche Form hervorgebracht. Also in einem Prozeß, der nirgendwo im Staat seinen Mittelpunkt gefunden, sondern in der Breite der Gesellschaft stattgefunden hat, allerdings an manchen Stellen konzentriert, etwa bei Grammatikern, Schriftsetzern oder Redakteuren. Sehr schön ist das darzustellen an der "th"-Schreibung, die 1901 offiziell abgeschafft wurde: Etwa "Thal" oder "thun". Dieses Längungs-"h" war beim "t" im Anklang an das griechische "th" stets vor den Vokal gesetzt worden. Dann ist man darauf gekommen, daß dies eigentlich sinnlos ist, da es sich ja um deutsche und nicht um griechische Worte handelt. So verschwindet dieses "th" etwa seit den achtziger Jahren des neunzehntenJahrhunderts aus den Büchern. Bei der Reform 1901 hat man dann gesagt: gut, dann gibt es das künftig nicht mehr. Hier hat der Staat also subsidiär angesetzt und an einer bestimmten Stelle das vollzogen, was längst angelegt war. Die andere Sache, die man 1901 gemacht hat, war die Verwandlung des "c" – Köln schrieb sich zum Beispiel mit "c" – in "k" oder in "z". Man hat immer schon im neunzehnten Jahrhundert versucht eine Lautschrift einzuführen, etwa den "Kaiser" mit "ei" oder "Obst" mit "p" zu schreiben, und damit auch im preußischen Kultusministerium Gehör gefunden, doch scheiterte es immer an deren Einsicht, wenn dies die Mehrheit der Schreiber nicht überzeugt, wird es nicht gemacht, gleich wie gut die Reform ausgedacht sein mag. Dies halte ich für die richtige Haltung eines Kultusministers.

Ist die Rechtschreibreform nicht Ausdruck einer Nutzubarmachung der Sprache und damit einer Geringschätzung?

Meier: In gewissem Umfang ja. Nämlich insofern, als sie in der Absicht dieser Nutzbarmachung gegen verschiedene bewährte Regeln verstößt. Wenn es möglich ist, Schreibung ohne Verluste zu vereinfachen, so ist das ja durchaus zu begrüßen. Doch hier werden erhebliche Verluste in Kauf genommem. Allein neunundneunzig Prozent der Bücher sind nach wie vor in alter Rechtschreibung gedruckt. Erstens wird also die Einheit der Schreibung zerstört, zweitens wird uns eine ganze Reihe von Unsinnigkeiten auferlegt. Zum Beispiel darf ich nach der neuen Schreibung nicht mehr sagen "So leid es mir tut", denn nach der neuen Schreibung wird "leid" groß geschrieben und das Wort "so" verbindet sich zwar mit Adjektiven, nicht jedoch mit Substantiven. Ich muß also künftig sagen, "So sehr es mir Leid tut", denn dann bezieht es sich auf das "tun". Aber es ist sowieso Unsinn, wenn man versucht, uns vorzumachen, die Schrift sei nur das Gewand der Sprache. Nein, die Schrift ist eine der beiden Möglichkeiten, in der uns Sprache begegenet.

Selbst wenn man sich auf dieses Nützlichkeitsargument der Reformer einläßt, trifft es überhaupt zu?

Meier: Es ist überhaupt nicht bewiesen, daß die Rechtschreibreform eine Erleichterung beim Schreiben bringt, denn die einzige Untersuchung dazu kommt zum entgegengesetzten Ergebnis, und die Kultusminister haben bislang ihrerseits keine Untersuchung vorgelegt. Aber selbst wenn es eine Erleichterung brächte, dann fragt sich, ob man das überhaupt darf, eine ganze Schrift zu ändern, nur weil dann das Schreiben leichter fällt. Es geht doch darum, eine Sprache und Schrift zu lernen, wie sie ist. Statt dessen werden nun über 600 Worte aus dem deutschen Wortschatz gestrichen. Wie kommen Kultusminister dazu, in einem zivilisierten Land einer Sprachgemeinschaft aufzuerlegen, daß "schneuzen" von "Schnauze" kommt, wie die neue Regel es behauptet. Im übrigen haben Menschen weder eine Schnauze noch würden sie sie beim Schneuzen benutzen. Sie benutzen nämlich die Nase. Das Wort hat eine ganz andere Herkunft. Das sind doch Ungeheuerlichkeiten, die einen aufschreien lassen.

Ein Sieg in Sachen Rechtschreibreform steht jetzt möglicherweise bevor. Gleichzeitig nimmt aber eine andere Bedrohung für unsere Sprache ungehindert zu: Die Anglisierung des Deutschen. Wie beurteilt die Deutsche Akademie diese Gefahr?

Meier: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wir haben uns der Sache auf einer Tagung gewidmet. Ich glaube, da gibt es keinen Königsweg. Vieles ist schlichtweg unvermeidlich, und wenn man das vermeiden will, wie dieser "Verein Deutsche Sprache" (VDS) in Dortmund, macht man sich leicht lächerlich. "Brainstorming" etwa, das können Sie eben nicht einfach mit "Gehirnsturm" wiedergeben. Da muß man versuchen, nach und nach einzuwirken, mehr Möglichkeit sehe ich im Augenblick nicht. Aufpassen muß man natürlich.

Aber ist das nicht eine Herausforderung, sich phantasievolle deutsche Alternativen einfallen zu lassen?

Meier: Sicher, aber es gibt viele Worte, die nur schwer ersetzbar sind. Viele Worte kommen auch mit der Sache zu uns, aber sicher gibt es auch so Albernheiten wie "Handy". Man sollte das Problem nicht zu ernst nehmen, denn Sprachen haben einen riesigen Magen und scheiden so manches auch wieder aus. Sicherlich aber sollte man auf eine Mäßigung hinwirken.

Sie sehen darin also keinen Ausdruck von mangelndem Sprachgefühl oder einer Anbiederung?

Meier: Eine Anbiederung sehe ich darin zweifellos. Ich halte es zum Beispiel für sehr problematisch, wenn man ganze Vorlesungen nur noch auf Englisch hält, denn da beseitigt man zum Beispiel oft die deutsche Fachterminologie, die häufig gar nicht schlecht ist. Da begeben wir uns unseres eigenen Reichtums, und wir geben so die Erneuerungsfähigkeit der eigenen Sprache auf, zumal wir sie auch nicht im Hinblick auf neue Gegebenheiten weiterbilden.

Tausende von Bürgern engagieren sich in den verschiedenen Sprachschutzvereinen, wie etwa den genannten VRS oder VDS. Aber herrscht nicht dennoch noch zuviel Gleichgültigkeit im Volk?

Meier: Sicher, aber das ist nie anders gewesen. Doch auch sensible Leser und Sprecher haben eine Funktion in einer Sprache, und auf die soll man auch Rücksicht nehmen. Abgesehen davon sind zwei Drittel in einer Umfrage zwei Drittel, sonst wäre die Zahl derer, denen es egal ist, größer. So gleichgültig kann die Schreibung dem Volk also nicht sein. Ich finde es schon auffällig, daß die Umstellung der FAZ nicht nur mit Zustimmung, sondern mit regelrechten Begeisterungsstürmen unter der Leserschaft quittiert worden ist. Und das ist in anderen Zeitungen auch so. Es wird häufig nur einfach unterdrückt, damit es nicht an die Öffentlichkeit kommt. Ich würde es aber andererseits für gut halten, wenn zum Beispiel die Deutsche Bank oder einer dieser Großbetriebe, die ebenfalls auf die neue Schreibung umgestellt haben, dies jetzt ändern. Damit würde es auch den Kultusministern leichter fallen, "Schluß jetzt" zu sagen.

Die Aktivisten sind letzlich nur einige wenige und wurden obendrein häufig verlacht. Fehlt nicht ganz entscheidend die bürgerliche Bildungsschicht in Deutschland?

Meier: Die gibt es natürlich nicht mehr, dennoch gibt es aber noch unendlich viele Leser, gehen Sie mal auf die Buchmesse. Es wird trotz allem nach wie vor sehr viel gekauft und gelesen.

Sie sehen keinen Niedergang der Buch- und Lesekultur in Deutschland?

Meier: Von einem Niedergang würde ich nicht reden.

Dietrich Schwanitz sieht durchaus Gefahr im Verzug: Er empfiehlt dringend, Kinder erst fernsehen zu lassen, wenn sie sich ans Lesen gewöhnt haben.

Meier: Da gibt es in der Tat gewisse Gefahren, denen kann man aber auch vorbeugen. Herr Schwanitz hat einerseits recht, andererseits malt er zu schwarz. Wir sind zur Zeit Opfer der Spaßgesellschaft, aber es wird auch wiedermal etwas ernster werden.

Wie beurteilen Sie die deutsche Gegenwartsliteratur? Viele bemängeln, den jungen Autoren falle nichts mehr ein, alles sei nur noch Pose.

Meier: Das kann ich nicht sagen. Ich finde manches an der Literatur der Jüngeren faszinierend, sehr gekonnt, aber auch als Ausdruck der Probleme, der Sicht- und Erlebnisweisen dieser Generation hochinteressant. Anders steht es mit dem Rummel, den manche veranstalten. Aber ich halte es für möglich, daß uns geradezu eine literarische Blüte ins Haus steht.

Ist ein Strukturfehler nicht die moralische Selbsttabuisierung des Schicksals des deutschen Volkes in unserer Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, wie der "Spiegel" dies unlängst erst für den Bombenkrieg konstatierte?

Meier: Ja, wir haben in der Tat da eine große Lücke in unserer Literaturgeschichte. Dieses Phänomen ist noch nicht wirklich untersucht worden.

Wie beurteilen Sie vor diesm Hintergrund die Wendung einiger Dichter wie Walser, Hochuth oder Strauß ins Konservative. Ist das eine Normalisierung?

Meier: Das ist nicht leicht zu sagen. Wahrscheinlich ist es eine Normalisierung. Ich würde sagen, daß ganze Dimensionen, die zunächst ausgeblendet waren, jetzt so peu a peu wieder zurückkehren. Insofern ist es eine Gegenbewegung gegen gewisse Tendenzen und als solche durchaus zu begrüßen. Die Weise, in der dies und das breitgetreten wird, ist zuweilen etwas brenzlig, aber die Welt ist viel reicher, als sie in der Literatur nach dem Krieg erschien, und so müssen gewisse Dinge einmal wiederkommen.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die literarische Ächtung Ernst Jüngers in Deutschland, der im Ausland durchaus ganz anders geschätzt wird?

Meier: Ich schätze ihn sehr und beachte ihn auch. Fälschlicherweise ist er zu simpel mit unserer NS-Vergangenheit in Verbindung gebracht worden. Er selbst war ja gar kein Nazi. Auch wenn er in den zwanziger Jahren einige merkwürdige Dinge nach rechts getan hat, gegenüber den Nazis hat er eine sehr klare, vernünftige und gar nicht kritisierbare Haltung der Ablehnung eingenommen. Diese Unterscheidung hat man aber eben nicht getroffen. Allerdings ist er auch ein schwieriger Schriftsteller und nicht so leicht zu verstehen.

Ist da eine großartige Sprache nicht ein bißchen mißachtet worden?

Meier: Zweifellos, ohne jede Frage.

 

Prof. Dr. Christian Meier ist Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 1996 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt sowie Mitglied der wissenschaftlichen Akademien von Berlin, Athen und Oslo. Geboren wurde er 1929 in Stolp/ Hinterpommern.

 

Auswahl aus den Veröffentlichungen: "Cäsar. Eine Biographie", Siedler (1982); "Sprache in Not?", Wallstein-Verlag (1997); "Die parlamentarische Demokratie", Hanser (1999)

 

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