© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Banale Bilder
Kino: "Joe Goulds Geheimnis" von Stanley Tucci
Ellen Kositza

New York 1942: Dem Reporter Joseph Mitchell (Stanley Tucci, gleichzeitig regieführend) begegnet während eines Kneipenbesuchs ein älterer Mann mit absonderlichem Benehmen: Er führt unverständliche Selbstgespräche und verspeist Unmengen von Tomatenketchup, das er ohne Rücksicht auf mögliche Flecken aus der Flasche auf seinen Teller ploppen läßt. Jeder im Viertel kennt ihn offensichtlich, er scheint als eine Art "Original" einen gewissen Sonderstatus innezuhaben.

Mitchell ist fasziniert von dem schrillen Alten. Nachdem er einige Male mit ihm gesprochen hat, erkennt er in Joe Gould (Ian Holm), dem Mann, der die Sprache der Möwen zu verstehen behauptet, den letzten wahren Bohemien. Goulds großes Projekt ist eine gigantische "mündlich mitgeteilte Geschichte der Menschheit". Dabei handelt es sich um Notizen aus Alltagsgesprächen, die er, auf zehntausende lose Manuskriptzettel verteilt, mit sich herumträgt oder in den Wohnungen seiner Künstlerfreunde lagert, denn der irre Gould selbst ist obdachlos. Seine Armut ist dabei selbstgewählt. Aus begütertem Elternhaus stammend und selbst hochintelligent, hatte er seine Universitätsbildung abgebrochen und damit dem bürgerlichen Leben vollends den Rücken gekehrt.

Derartige Karrieren intellektueller Clochards sind längst ein Klischee, das wohl nichtsdestoweniger interessant erscheint. Mitchell jedenfalls erliegt der irren Exzentrik des "Professor Möwe", wie er ihn nennt, und verfaßt eine mehrteilige Reportage über ihn für den New Yorker. Dadurch avanciert Gould in der Millionenstadt zu einer Berühmtheit, es finden sich Gönner, die sein Leben finanzieren, und auch die New Yorker Künstlerszene sieht in dem Schriftsteller einen neuen Star. Gould seinerseits hängt sich mehr und mehr an seinen "Entdecker" Mitchell, während dem Reporter sein journalistisches Objekt bald zu aufdringlich wird und er sich in seinem Redaktionsbüro häufig verleugnen läßt. Zusätzlich hegt er einen merkwürdigen Verdacht gegen den Mega-Schreiber Gould, der sich bald bewahrheiten soll ...

So verrinnt der Film und nervt dabei beträchtlich. Regisseur Tucci, der nach eigenem Bekunden für "Geschmack, Stil und Ästhetik der vierziger Jahre" schwärmt, fängt nicht mehr als banale Bilder von Straßenzügen und Künstlerfeten ein und überzeugt auch als Hauptdarsteller mit schüchtern-smartem Dauergrinsen nicht. Joe Goulds Armgefuchtel und "Möwengeschnatter", seine wirren Auftritte als Mittelpunkt rauschender Szeneparties werden rasch zur anstrengenden Belastung für den Zuschauer. Beim eigenen Großvater oder einem sonderlichen Straßennachbarn hätten derlei alberne Marotten womöglich einen niedlichen Charme – beginnende Altersdemenz, würde man, nicht ohne liebevolle Rührung, konstatieren und einmal mehr feststellen, daß Greise und Kleinkinder sich doch gleichen. Die auf einer Begebenheiten beruhende Geschichte des Joe Gould jedoch ist eben nicht das "einfühlsame Porträt über ein New Yorker Original", sondern eine eher überflüssige kineastische Beschaulichkeit.

Während Joseph Mitchells Buchvorlage teilweise euphorische Kritiken unter anderem von Doris Lessing, Ian McEwan und Salman Rushdie einheimste, erweist sich der Film als behäbige wie geschwätzige Schickeria-Notiz aus der Jahrhundertmitte, die den Kinobesuch kaum lohnt.

 

Gleichzeitig mit dem Film erscheint das Buch von Joseph Mitchell: "Joe Goulds Geheimnis" (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 192 Seiten, 34 Mark)


 
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