© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Spielerische Grenzüberschreitung
Ulrich Becks sensationelle Entdeckung der "Warum eigentlich nicht"-Denkfalle
Philip Plickert

Die Globalisierung hat Feinde – denIslam, Rechtsextreme, Kulturchauvinisten, Gewerkschaften, Oskar Lafontaine e tutti quanti.Gott sei Dank hat sie aber auch Freunde. Einer davon ist Ulrich Beck, Professor für Sozialwissenschaft an der Universität München. Er gehört zu den bekanntesten Theoretikern der "postnationalen Gesellschaft", forscht und schreibt viel und macht sich Sorgen, Sorgen um die Demokratie. Eine Plattform dafür bietet ihm jetzt ein Sammelband, ediert von den ZEIT-Redakteuren Werner A. Perger und Thomas Assheuer, mit Beck wahlverwandten Beiträgen von Zygmunt Baumann ("Die Demokratie zwischen den Fronten"), Francis Fukuyama ("Ich oder die Gemeinschaft"), Alain Touraine ("Lob auf die Zivilgesellschaft"), Avishai Margalit ("Kann es eine gerechte Weltgesellschaft geben?") sowie anderen Reitern auf den Wellenkämmen des Zeitgeistes. Darin fragt Beck: "Was kommt nach Rot-Grün? Nach New Labour? Wenn die Politik der linken Mitte in Europa gescheitert ist?" Ja, was kommt dann – der Eiermann aus Kärnten?

Beck hat eine dunkle Vermutung und schreibt darum: "Meine Vermutung: Neue Totalitarismen des Warum-eigentlich-nicht, die überall (nicht nur in Österreich oder der Schweiz) an die Macht drängen." Um diese Einschätzung zu begründen, muß Beck weit ausholen. Zunächst geht es um die "Frage nach der Ortsbestimmung des Politischen in der Zweiten Moderne". Umfangreiche wissenschaftliche Studien haben ergeben, daß seit der griechischen Antike Politik stets in Raum und Zeit gedacht und praktiziert wurde, also stets auf ein konkretes Territorium ausgerichtet war. Beck will den Griechen durchaus keinen Vorwurf machen, problematisch jedoch findet er, daß das Denken in territorialen Dimensionen zur Bildung der Nationalstaaten führte, und in der Folge "zerfällt die Menschheit in politische Räume und Einheiten" (eine Art zweiter Sündenfall nach der folgenschweren Aufteilung des Urkontinents!).

Nun kommt die erste knallharte These des 1944 im ländlichsten Hinterpommern geborenen und vielleicht darunter leidenden Soziologen: "An allen Begriffen und Institutionen des Politischen klebt immer noch die Scholle." Und das ist nicht gut so, denn "das territoriale Apriori des Politischen zerfällt in dem Maße, wie sich die postnationale Gesellschaft herausbildet". Was aber meint Beck mit der "postnationalen Gesellschaft"? "Vieles – zunächst aber eine Globalisierung der Biographien, in deren Verlauf der Kurz- und Kettenschluß von der Hautfarbe auf die Herkunft, auf die Sprache, auf den Paß, auf die nationale Identität zum alltagspeinlichen Fehlschluß wird."

Zum Beispiel ist es wirklich peinlich zu glauben, nur weil Herr Beck mit Vornamen Ulrich heißt, im Land der Dichter und Denker geboren wurde, weißer Hautfarbe ist, als Muttersprache nicht englisch oder indisch sondern deutsch spricht, in München Soziologie lehrt und die Leser der ZEIT laufend mit Neuigkeiten aus dem postnationalen Nirwana versorgt, nur deshalb habe er irgend etwas mit dem territorialen Hirngespinst "Deutschland" zu tun!

Die "ethnische Öde", die er in Bayern vorfindet, kotzt Beck schon lange an. Er träumt von Vielfalt und von "Vielfarbigkeit". Was er immer noch schmerzlich vermißt, nennt sich "Globalisierung von innen". Wie funktioniert denn das, Herr Beck? Beck: "Die Menschen handeln international, arbeiten international, heiraten international, leben, reisen, konsumieren und kommunizieren international, die Kinder werden international, das heißt mehrsprachig und im generalisierten Nirgendwo des Fernsehens und Internets erzogen". Halt, Herr Beck! Wir haben Sie schon verstanden, "Transnationalität der eigenen Lebenszusammenhänge ist nicht nur ein Privileg der global players". Auch wir empfinden mit den Randgruppen, Ausgeschlossenen und Illegalen, die gegen Überwachungsinstitutionen und strukturelle Diskriminierung den "transnationalen Bogen mit bewundernswerter Kreativität spannen". Aber woher kommt diese Kreativität, die auch den Wissenschaftler Ulrich Beck auszeichnet? Wirklich nur aus dem "generalisierten Nirgendwo des Fernsehens und Internets"?

Wir können Ihren weiteren Ausführungen leider nicht ganz folgen, Herr Beck: "Inwieweit und in welchem Sinn trägt die Individualisierungspolitisierung zur Politisierung oder Depolitisierung der Politik bei?" Auch mit anderen Fragen martern Sie Ihr Hirn, zum Beispiel beschäftigt Sie die gewandelte Einstellung der Menschen zur Fortpflanzung: "Was bedeutet es eigentlich, wenn Kinder nicht mehr als gott- oder naturgegebenes Fatum, sondern als elterliche Dauergestaltungsaufgabe mit antizipiertem Vorwurfsrecht der hergestellten Kinder auf eingebaute Produktmängel – und als grundgesetzlich geschützte Kleinerwachsene, Zukunftserwachsene wahrgenommen und behandelt werden müssen?" Ja was bedeutet das eigentlich, Herr Beck? Fragen Sie doch einfach Ihre eigenen, hoffentlich nicht mit justiziablen Produktmängeln behafteten Kleinerwachsenen!

Kehren wir noch einmal zurück zur "postnationalen Gesellschaft". Da liegt ja laut Professor Beck noch einiges im argen! So habe etwa die Wirtschaft längst den globalen Schritt getan, sagen Sie, nur die Regierungen und die Gewerkschaften hätten die Entwicklung verschlafen. Das ist allerdings nur teilweise richtig. Immerhin sind 97 Prozent der Unternehmen in Europa kleine und mittlere Betriebe, die gar nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang über staatliche Grenzen hinweg tätig sind. Und diese Mittelständler tragen achtzig Prozent der Steuerlast, kümmern sich in der gleichen Größenordnung um Arbeits- und Ausbildungsplätze usw. Also bildet der Mittelstand den wirtschaftlichen Grundpfeiler Europas und nicht etwa die drei Prozent multinationalen Konzerne.

Aber solche Kleinigkeiten können Ulrich Becks Grundthese nicht im geringsten erschüttern, daß in Zukunft "regional" und "national" überhaupt nicht mehr zählen, "international" aber alles sein werde.

Im letzten Teil von Becks Studie "Die postnationale Gesellschaft und ihre Feinde" geht es noch einmal richtig zur Sache. Nicht etwa an geistiger Inkontinenz à la Beck leidet unsere Zeit, sondern an "Grundlagenkontingenz", erfahren wir. Damit führt Beck erneut einen klingenden Begriff ein, den niemand versteht, in dem sich aber "die geistige Situation verdichtet, ihre Explosivität verdeckt zündelt". Beck schwadroniert, nicht die Entscheidung, sondern die Nicht-Entscheidung werde immer brisanter, nämlich die gegenwärtige Nicht-Entscheidung vieler, Dämme zu errichten gegen die gefährlichen "Warum eigentlich nicht"-Argumentierer. Schon für die nahe Zukunft hat Beck gedanklich richtig, grammatikalisch leider falsch gesehen: "Es beginnt die postnationale Gesellschaft und ihre Feinde." Gegen diese Feinde des globalen Traums helfen nach Becks Auffassung nur "entschiedene Tabus".

Der "Totalitarismus des Warum-eigentlich-nicht" schreit nach Gegenmaßnahmen, meint Beck, denn immer öfter finden wir diese vorgeblich harmlosen Sätze: Warum eigentlich nicht die NS-Verbrechen mit dem stalinistischen Terror vergleichen (Beck spricht natürlich von "gleichsetzen und relativieren"), warum eigentlich nicht "den verklemmten deutschen Selbsthaß endlich abstreifen" oder "das Gedenken an den Holocaust aus dem öffentlichen in den privaten Raum verlagern und zur Gewissensentscheidung des einzelnen erklären"? Vor diesen Fragen fürchtet sich Beck offensichtlich sehr. Darum hat er seine Forderung nach "entschiedenen Tabus" sogar kursiv gedruckt.

Entschiedene Tabus! – jetzt dringen wir zum Kern des Beck’schen Totalliberalismus vor – aber da: "Warum eigentlich nicht, wenn Kinderschänder, gewalttätige Jugendliche und der Zerfall der Renten weiter um sich greifen, den Ordnungsstaaten folgen und Täter mit öffentlichen Stockschlägen bestrafen?" Was für ein Unglück, wie schade! Gerade dieser schönen Stelle schwindet die sprachliche Sicherheit. Die Stringenz der Argumentation, die Brillanz der Gedanken des postnationalen Theoretikers Ulrich Beck hat gelitten bei den langen Aufenthalten im "generalisierten Nirgendwo".

Herr Beck! Der Zerfall der Renten – Stockschläge – Ordnungsstaaten? So etwas druckt die ZEIT ab? In der Tat wäre es unmenschlich, zur Lösung der Rentenproblematik körperliche Züchtigung zu erwägen. Sie warnen eindringlich vor der hinterhältigen "Warum eigentlich nicht"-Denkfigur (Ist es schon wieder soweit?), welche die bösen "Renten-Täter" mit öffentlichen Schlägen bestraft sehen will. Sind Sie sicher, daß dies in den "Ordnungsstaaten" (ganz an der Spitze Österreich und die Schweiz) so üblich ist? Hoffnungen, wenn auch nur schwache, setzen Sie, Professor Beck, in diesem Zusammenhang auf die SPD, die sich, wenn es soweit käme, gewiß rühmen würde, "daß sie eine Begrenzung auf 15 Stockschläge und die freie Arztwahl durchgesetzt hat".

Gerade das Beispiel der "warum eigentlich nicht"-gefolterten Rentner illustriert den von Beck beschriebenen "totalitären Charme" der "Tabubrüche von rechts". Fassen wir die Taktik der rechten Provokateure noch einmal zusammen: "Die im Geist der Aufklärung Geschulten wappnen sich mit der Verführungskraft spielerischer Grenzüberschreitung, um politische Aufklärungspostulate abzuräumen. Die Raffinesse der Frageform erlaubt es, den Spieß umzudrehen. Die Aufklärer von gestern sollen in die Falle der Gegenaufklärung tappen." Warum eigentlich nicht?

 

Werner A. Perger / Thomas Assheuer (Hg.): Was wird aus der Demokratie?, Leske & Budrich, Opladen 2000, 112 Seiten, 19,80 Mark


 
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