© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Wir dürfen normal werden
Dieter Stein

Letzte Woche erhielt ich Besuch von einer Kolle gin einer großen polnischen Wochenzeitschrift. Sie schreibt über das Thema "Rechtsradikalismus" und die deutsche Debatte dieses Sommers zu diesem Thema. Sie suchte mich auf, weil sie den Chefredakteur einer Zeitung sprechen wollte, die eine rechtskonservative Ausrichtung zu haben scheint. Warum haben die Deutschen ein Problem mit diesem Thema, will sie wissen. Was ist da los? Warum immer diese Nervosität, dieser Aktionismus, diese Kampagnen? Wie immer ist es leichter, mit einem ausländischen Journalisten über das Thema "Nation" zu sprechen als mit einem deutschen. Deutsche haben häufig Schluckbeschwerden, wenn sie über ihr eigenes Land sprechen. Meist setzen sie sich aufrecht hin, bekommen ein verächtliches Gesicht und geben distanzierte Sätze von sich.

Die Polin hat einen deutschen und einen polnischen Paß. Wie sie die Debatten über die deutsche Nation und die Einwanderungsfrage empfindet, frage ich. Sie bestätigt, daß ihr die deutsche Servilität, Unterwürfigkeit, Selbstanklage, Dauerbetroffenheit in der Kombination mit blasierter Arroganz, Überheblichkeit und moralischem Größenwahn ebenso auf die Nerven geht wie mir. Sie bleibe deshalb immer öfter in Polen, weil sie immer mal wieder "normalen Menschen" sein wolle. Das irrationale und gespaltene Verhälnis der Deutschen zu ihrer eigenen Identität und ihrer Nation werde ihr immer unerträglicher.

Die polnische Kollegin versteht nicht, warum man in Deutschland nicht in der Lage ist, das Problem der Zuwanderung nüchtern und offen zu diskutieren. Ihr ist der Anteil an Ausländern auch zu hoch, und sie sieht sich darin mit vielen länger in Deutschland lebenden, insbesondere europäischen Einwanderern einig. Das Thema wird von den Deutschen hypermoralisch überfrachtet und tabuisiert. Das öffnet die Gasse für Fremdenfeindlichkeit, meine ich. Wenn das Thema nicht frei in der Öffentlichkeit debattiert werden kann, die Aspekte der Kriminalität, die Probleme an den Schulen – dann weicht dieses Thema aus und wird von Extremisten besetzt.

Das Gespräch zeigte, daß in Deutschland lebende Ausländer die unsouveräne Behandlung der Einwanderungsfrage mit Sorge betrachten. Sie sind irritiert von den flatternden Nerven der politischen Klasse und dem Mangel an Selbstbewußtsein. Der wilhelministisch herausposaunte BRD-Kosmopolitismus, der alle Ausländer (oft instinktlos gleich mitsamt deutschen Juden) in einen Topf steckt, und im Multikulti-Rausch ohne Rücksicht auf differierende Kulturen unterschiedslos und tölpelhaft gnädig umarmt, ist ihnen fremd und besorgniserregend.

Es ist leider bisher nur von wenigen begriffen worden, daß die in Deutschland lebenden Ausländer nicht Gegner, sondern natürliche Verbündete auf dem Weg zu einer deutschen Normalisierung sind. Denn sie wollen am allerwenigsten in einem ruhelosen, identitätslosen Land leben, das sich selbst verleugnet, sondern in einer selbstbewußten Nation.


 
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