© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Eingeklemmt zwischen Moskau und Minnesota
Estland: Die Privatisierung des estnischen Energiemonopolisten stellt die Ostsee-Republik vor ungeahnte Probleme
Carl Gustaf Ströhm

In welches Dilemma die vom Kom munismus befreiten Staaten geraten können, zeigt sich diese Tage in Estland. In der nördlichsten der baltischen Republiken ist eine hitzige Debatte darüber entbrannt, ob die Regierung richtig handelte, als sie beschloß, den staatlichen estnischen Energiekonzern zur Privatisierung freizugeben – und zu 49 Prozent an den amerikanischen Elektrizitätskonzern NRG-Energy (Minnesota) zu verkaufen.

Die Amerikaner sind nicht nur bereit, 55 Millionen Dollar als Kaufpreis zu bezahlen, sondern wollen 361 Millionen Dollar zur Modernisierung der alten Sowjet-Technik investieren. In Estland werden die Kraftwerke hauptsächlich mittels Ölschiefer beheizt – eine nicht gerade sehr umweltfreundliche Technologie. Estlands Premier Mart Laar – Chef einer Mitte-Rechts-Koalition – lobte das bevorstehende Geschäft mit den Amerikanern – in erster Linie aus politischen Gründen. "Wer könnte ein besserer Fürsprecher Estlands bei der US-Regierung sein, als amerikanische Firmen, die bei uns Gewinn machen wollen?" sagt Laar. "Offen gesagt, ich tat einen Seufzer der Erleichterung ... die USA hat erklärt, daß das Engagement der NRG die amerikanische Präsenz in der Region sichern wird. Das ist für Estland eine gute Nachricht." Der Preis, den man für Sicherheit zahle, könne niemals zu hoch sein, meinte Laar ferner und fügte hinzu: "Es ist der Preis von Menschenleben, nicht von Kilowattstunden." Den Gegnern des Projekts warf der Ministerpräsident vor, einer "ehemaligen Supermacht" in die Hände zu spielen – womit Rußland gemeint ist, das in seiner sowjetischen Ausprägung Estland jahrzehntelang beherrscht und unterdrückt hat.

Dennoch regen sich auch Widerstände gegen das amerikanische Geschäft – und zwar nicht nur aus den Reihen der Linken oder von den (in Estland außerhalb der russischen Minderheit nicht starken) "Sowjet-Nostalgikern". Örtliche Geschäftsleute, aber auch einzelne bürgerliche Politiker sind nicht gerade begeistert, daß der amerikanische Konzern für die kommenden 15 Jahre ein Monopol in Estland aufbauen wird, das es den Amerikanern faktisch ermöglicht, den Strompreis dramatisch zu erhöhen. Das wiederum würde nicht nur die estnische Endverbraucher treffen, sondern könnte die mühsam erkämpfte Konkurrenzfähigkeit estnischer Exporte gefährden. Zu allem Überfluß könnte die Geschäftspolitik des US-Konzerns die Inflation anheizen und damit die Stabilität der estnischen Krone in Frage stellen. Eine Strompreiserhöhung von 20 Prozent, wie sie die Amerikaner bereits angekündigt haben, ist gewiß kein Pappenstiel.

Die Oppositionsparteien haben eine Kampagne gestartet – etwa mit Zeitungsanzeigen, in denen ein Mann mit gefesselten Händen in einer Gefängniszelle sitzt, über ihm eine erloschene Glühbirne. "Haben wir das gewollt?" lautet der Text. Auch wurden bisher 110.000 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt. Auch linksstehende Kritiker meinen, ein Monopol entspreche nicht den Regeln der EU, in welche Estland aufgenommen werden möchte. Es sei bedauerlich, sagte ein estnischer Politiker, daß es bisher nicht gelungen sei, das Land an das skandinavische oder westeuropäische Stromnetz anzuschließen. Dabei stelle die Verlegung eines entsprechenden Kabels durch die Ostsee nach Finnland oder Schweden an sich kein Problem dar.

Aber, so fügen Kritiker des Projektes hinzu, Estland müsse sich auf jeden Fall vom immer noch bestehenden Elektrizitätsverbund mit Rußland lösen. Im Falle einer Krise oder eines Konflikts hätte Rußland nach dem bisherigen Stand die Möglichkeit, zumindest Teile der estnischen Stromversorgung lahmzulegen. So sind viele Esten – auch solche, die man durchaus als Freunde des Westens bezeichnen kann – buchstäblich hin- und hergerissen zwischen der Furcht vor einem US-Monopol – und der Furcht vor dem großen östlichen Bruder, der ihnen das Licht ausknipsen könnte.

Die Amerikaner wiederum weisen darauf hin, daß die heutigen estnischen E-Werke derart veraltet sind und sowjetisch heruntergewirtschaftet sind, daß die Stromversorgung eines Tages aus ganz banalen technischen Gründen zusammenbrechen könnte. Da es keine kapitalkräftigen und erfahrenen inländischen Investoren gebe, könne nur die Übernahme durch die NRG den Esten eine konstante Energieversorgung garantieren.

Natürlich investieren die amerikanischen Interessenten nicht aus purer Menschenliebe in Estland. Aber die Esten verbinden wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten miteinander. Da die Nato keine Anstalten macht, das Problem der estnischen Sicherheit durch unverzügliche Aufnahme des Landes als Vollmitglied zu lösen und auch die EU den Beitritt Estlands hinzieht, ist der amerikanische Elektrizitätskonzern für die Esten ein sicherheitspolitischer Strohhalm, an den man sich klammert. Ob die amerikanische Regierung in einem künftigen "Ernstfall" Estland allein deswegen verteidigen wird, weil dort Amerikaner Geld investiert haben, ist eine offene frage. Wer die estnische E-Werks-Debatte verfolgt, kann sich so eines Unbehagens nicht erwehren: wieder scheut der Westen davor zurück, die einfachste und "sauberste" Lösung anzusteuern – nämlich Estland in die Nato aufzunehmen. Wäre das der Fall, müßte eine Debatte über Stromversorgung in Estland nicht unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten geführt werden.


 
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