© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Die unerwünschte Opposition
Neue Gegner der Etablierten werden sich nicht der alten Parolen und der alten Taktik bedienen
Karlheinz Weißmann

Vor einiger Zeit kam Günter Grass zu der Feststellung, daß es in Deutschland keine Opposition mehr gebe. Was er damit meinte, hatte nichts mit Zweifeln an der Funktionstüchtigkeit des Bundestags und der Existenz einer aus PDS, FDP, CDU und CSU bestehenden Minderheit im Parlament zu tun, die der Regierung widerstrebt. Was Grass meinte, war, daß das Land von einem großen Konsens bestimmt werde, daß die satte Zufriedenheit alle Konfliktfähigkeit lähme.
Man spürte förmlich den Unmut des „Engagierten“, der erst auflebt, wenn sich seine Empörungsbereitschaft Luft machen kann, jenes Verhaftetsein an die Atmosphäre der ausgehenden sechziger und dann der siebziger Jahre, als Grass seine Hochzeit hatte und entscheidende Anregungen nicht nur für sein politisches Denken, sondern auch für seine Frisur und die Wahl seiner Kleidung erhielt. Wenn Grass die Notwendigkeit einer Opposition beschwört, dann meint er eine Opposition der Progressiven, idealerweise die Wiederbelebung jenes Konzerts kritischer Geister, das einmal für Willy Brandt und die Studenten, für die Entspannung zwischen den Blöcken und den frühen Marx, für die Anerkennung der Einmaligkeit deutscher Schuld und ein Ende des „Wiedervereinigungsgeredes“ eintrat. Leute in Tweedsackos mit Ärmelflicken und Cordhosen, dazwischen ein bißchen Existentialistenschwarz oder die leicht unförmig werdenden, selbstgestrickten musterreichen Wollpullover, Pfeifenraucher und Rotweinkenner, Jazzhörer, Abonnenten der Zeit, des Spiegels, der Frankfurter Rundschau, später (nicht von Anfang an!) allesamt Verehrer von Jürgen Habermas und bevorzugte Teilnehmer an den Tagungen Evangelischer Akademien.


Natürlich kommt das alles nie zurück, aber mit seiner Nostalgie ist Grass keineswegs allein. In einem unlängst erschienenen Buch von Bettina Gaus, langjährige Bonner Korrespondentin der Berliner tageszeitung, geht es auch um den Mangel an Opposition. Der Band trägt den Titel „Die scheinheilige Republik“ und beklagt das „Ende der demokratischen Streitkultur“ (DVA, Stuttgart/München 2000; JF 26/00). Es handelt sich um ein erstaunlich schlechtes Buch, das nicht einmal den beschränkten Anforderungen genügt, die man an aktuelle Produktionen stellen muß, die eine Konjunktur nutzen möchten; in diesem Fall die Konjunktur, die sich aus dem Unmut über den CDU-Finanzskandal ergibt.


Ohne Entscheidendes zu übergehen, wird man sagen können, daß Frau Gaus die Anpassungsbereitschaft ihrer peer group beklagt. Sie kann sich nur schwer damit abfinden, daß einerseits die Bundesregierung als Repräsentantin der Achtundsechzigergeneration gilt, andererseits Gerhard Schröder und Joschka Fischer schon habituell mit der APO immer weniger zu tun haben, mehr noch, daß die Führer von damals samt und sonders in der Versenkung verschwunden sind, während die „Opportunisten“ (Gaus über Schröder) oder die „Epigonen“ (Gaus über Fischer) das Feld beherrschen.


Was verstört, ist auch hier der Verlust des Vertrauten, für Bettina Gaus die Allgegenwart der Freizeitkleidung mit Schweißhemd, Jeans und Turnschuhen, die lila Latzhosen und die Batik-Tücher, die Frauen mit den Ohrgehängen nur auf einer Seite, die pflichtmäßige Lektüre der taz und des „Kursbuchs“, die „Betroffenheit“, die unerbittliche Verteidigung des „alternativen“ Lebens im Kleinen beim Verlangen nach Biokost und im Großen bei der Sehnsucht nach „Ökotopia“ und vielleicht auch ein bißchen die Sehnsucht nach den Wochenendschlachten um Brokdorf oder die Startbahn West. Grass und Gaus gehören zwei verschiedenen Generationen an, aber was sie trennt, wiegt leicht, es verbindet sie nämlich eine spezifische politische Blindheit.
Man kann das vor allem in dem Buch von Frau Gaus merken, aber auch bei Grass ist die Fehlwahrnehmung deutlich zu spüren: Es mangelt beiden die Phantasie, eine andere als die Opposition von links vorzustellen. Sie wurden sozialisiert in einer Ära, die wesentlich bestimmt war von der politischen Abschottung Westdeutschlands durch den Mauerbau und die Protektion des großen Allierten.


Sie lebten in einer Welt ohne Ernstfall, die deshalb alle möglichen Petitessen als Ernstfälle imaginieren konnte: von der Zulassung der „Pille“ und der Frauenquote über die „Kontaktsperre“ und die „Berufsverbote“, über den Boykott von Früchten aus Südafrika, Friedenserziehung und Neonazismus. Anlaß zu politischer Erregung war preiswert zu haben, echte Herausforderungen oder Gefährdungen gab es in den vergangenen vierzig Jahren nicht. Das war die Voraussetzung für den Siegeszug einer Weltanschauung, die sich ihrer moralischen Überlegenheit sicher sein wollte und noch sicherer, was die Feststellung des politisch Guten und des politisch Bösen betraf.
Wie jeder Siegeszug, so hat auch dieser irgendwann ein Ende. Die Lage ändert sich, und es wird ein Gegner auftreten, der sich nicht der alten Parolen und nicht der alten Taktik bedient. Grass und Gaus spüren das, aber die neue Gefahr bleibt undeutlich, deshalb das Gerede von der fehlenden „Opposition“. Dabei haben selbst die Führer der „demokratischen Sozialisten“ mittlerweile Zweifel an ihrem Endziel und lassen die Basis alleine, und das Häuflein SPD-Abgeordnete, das unlängst meinte, an das linke Gewissen der Partei appellieren zu müssen, steht ebenso verlassen da.
Wer noch erwartet, daß sich die alten Muster wiederholen, wird eine Enttäuschung erleben. Die „Opposition“, wenn es sie denn geben sollte, wird eine andere als die vertraute Gestalt haben. Auffällig ist schon, daß zwei Phänomene von Grass wie von Gaus bei ihrer Klage völlig ausgespart wurden, obwohl deren oppositioneller Gehalt unbestreitbar ist: der „Populismus“ und die Kritik der „political correctness“. Beides kommt in der Sehnsucht nach „Streitkultur“ nicht vor. An der Existenz von Massenbewegungen, die sich gegen unkontrollierte Zuwanderung, Steuerdruck, Bürokratisierung und Verfall der inneren Sicherheit wenden, und der Auflehnung einzelner gegen jene schleichende Zensur, die zuerst Diskussions- und dann Meinungsverbote erzwingt, kann diese Ignoranz aber nichts ändern.


Es handelt sich wie bei jeder echten Opposition um eine unerwünschte Opposition. Ihre Wortführer sind nicht so handzahm, wie man und wie es auch Günter Grass und Bettina Gaus im Grund gerne hätten. Sie verweigern sich nicht nur rituell, sondern tatsächlich dem consensus omnium. Wenn man ihre Vertreter einfach aus der Debatte ausschließt, dann wird das auf die Dauer so wenig nützen wie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, als der christlich-humanistisch-antikommunistisch-bürgerliche Konsens mit grauen Anzügen und damenhaften Kleidern, geputzten Schuhen und den Pappritzschen Anstandsregeln, der Klassikerlektüre und den Kriegserinnerungen herrschte und die zornigen jungen Männer fernzuhalten suchte.


Eine neue Lage bringt immer neue Formen der Opposition mit sich, die nächsten werden wahrscheinlich nicht nach dem Geschmack der Grass und Gaus sein. Man sollte sich eben überlegen, ob man wirklich bekommen will, was man sich wünscht.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und unterrichtet als Studienrat an einem Gymnasium.


 
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