© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Fehlende Normalität
Schröders PR-Reise durch die neuen Bundesländer wirkt demütigend
Paul Leonhard

Was ist eigentlich das Besondere, wenn Gerhard Schröder in Deutschland unterwegs ist? Warum soviel des Aufhebens, wenn ein Bundeskanzler zwei Wochen lang einen Teil eines Landes besucht, dessen Regierungschef er seit zwei Jahren ist? Warum schicken die überregionalen deutschen Medien mit großem Tamtam Reporterteams los, um noch vor dem Schröderschen Expeditionskorps zu erkunden, wo der Mann da eigentlich herumreisen will?

Selten hat ein Titelbild des Hamburger Nachrichtenmagazins den Nagel so auf den Kopf getroffen wie das zum Auftakt der Schröder-Reise: Ein Kanzler in Khakiuniform, den Tropenhelm keck auf den Schädel gestülpt und den linken Arm auf die Hüfte gestützt. Ein Sieger mit schwarzrotgoldener Fahne, umgeben von einem ihm zu Füßen liegenden Medientroß: Der Westen entdeckt das Ossiland.

Selten hat sich aber der Spiegel mit einem Titelbild auch selbst so geoutet. Warum dieses Medienspektakel, als ob Schröder in die Wüste führe? Wo ist hier der journalistische Neuigkeitswert? Es scheint, als würden die Meinungsmacher mit Sitz in Hamburg und München erst jetzt wieder jenen Teil der Republik entdecken, über den zu schreiben sie sich doch im Revolutionsherbst 1989 auf die Fahne geschrieben hatten.

Und was ist das eigentlich für ein Teil unseres Vaterlandes, in dem Tausende die Straßen säumen, um dem Bundeskanzler zuzuwinken, als wäre ein fremder Staatsmann zu Besuch? Nur weil Schröder den Osten zur "Chefsache" erklärt und nach zwei Jahren Wartezeit nun in einer wirren Kreuzfahrt quer durch fünf neue Länder spurtet, wird ihm zugejubelt? Oder offenbart sich da das Obrigkeitsdenken, was den Deutschen innewohnt? Wieso jubelt alles, wenn jeder zweite keine Arbeit hat? Fragen über Fragen.

In Görlitz, der östlichsten Stadt der Bundesrepublik, wollten die Bürger dem Kanzler etwas flüstern. Schließlich gibt es am Untermarkt der niederschlesischen Metropole an einem Renaissance-Portal den historischen Flüsterbogen. Sie hätten Schröder einiges zugeraunt: Über schlechte Zahlungsmoral und das absolut nicht ausreichende Beschleunigungsgesetz beispielsweise. Oder über die unterschiedlichen Tarife für Beamte im Osten und Westen. Oder über das immer noch zu komplizierte Steuerrecht. Und vor allem wollten die Görlitzer schonungslos die Probleme ansprechen, die sie und die anderen Bürger der neuen Länder beschäftigen: Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, fehlende Freizeitangebote für die Jugend, Bevölkerungsschwund. Aber die Menschen kamen nicht zu Wort. Den Kanzler plagte auch am Etappenort Nummer 13 das, was für die gesamte Sommerreise symptomatisch war, der Zeitmangel. In zwei Wochen 31 Stationen zu bewältigen, ist wahrlich keine Kleinigkeit.

Warum unternimmt ein Kanzler so eine Reise? Warum springt der Mann von Sachsen zurück nach Thüringen, um dann kurz Sachsen-Anhalt tangierend in jener niederschlesischen Ecke zu landen, die seit 1945 wieder zu Sachsen gehört? Und warum schlägt er in der zweiten Reisewoche einen Bogen von Mecklenburg-Vorpommern über Brandenburg erneut nach Sachsen-Anhalt, um wieder im SPD-Ländle Manfred Stolpes anzukommen? Warum tut er das? Um kurz vor dem zehnten Jahrestag der deutschen Einheit zu demonstrieren, daß da noch längst nicht zusammengewachsen ist, was zusammengehört? Um aller Welt deutlich zu machen, daß es noch immer zwei Teile Deutschlands gibt: den leistungsstarken Westen und den am Tropf hängenden Osten? Was mögen die auf ihre viele Jahrhunderte alte Geschichte stolzen Sachsen und Brandenburger, die Mecklenburger und Thüringer gedacht haben, als da ein Kanzler auf Entdeckungsreise in ein "unbekanntes Land" startete?

Schröders Sommerreise verdeutlicht die Hilflosigkeit und die Unkenntnis der Bundesregierung gegenüber dem, was sich in einem Drittel der Republik tut. Auch wenn die Ministerialbürokratie inzwischen teilweise von Bonn nach Berlin umgezogen ist – von dem, was im Osten läuft, haben die wenigsten eine Ahnung. In den vergangenen zehn Jahren hat ein gigantischer Verdrängungswettbewerb stattgefunden, bei dem nicht nur die alte SED-Führungsschicht hinweggefegt wurde, sondern auch alle aufstrebenden Keimlinge einer neuen bodenständigen Elite von nach Osten übergesiedelten Karrieristen zertreten wurden. Die Verwaltungen der öffentlichen Einrichtungen, die Leitungen von Stiftungen, der großen Verbände und der Gewerkschaften sind von Westdeutschen besetzt und vor allem die Personalabteilungen der großen Unternehmen. Ebenso ein Großteil der Lehrstühle an den Hochschulen.

Die Erfahrungen jener elitären Schicht sind aber nicht mit denen der Menschen in den neuen Ländern identisch. Es gibt zwischen dieser an den Schaltstellen sitzenden Minderheit und der Mehrheit der Bevölkerung keine gemeinsame Sprache.

Die Reise Schröders unterstreicht, daß längst keine Normalität in dieser Republik herrscht. Wäre die Bundesrepublik ein Deutschland einig Vaterland, hätte Schröder vor der Jubelfeier in Dresden alle Bundesländer besuchen und sich über Probleme und Erfolge informieren müssen. Oder er hätte beispielsweise eine Reise durch zwei benachbarte Länder wie Bayern und Thüringen unternommen und dabei wahrscheinlich einen besseren Eindruck über die wirtschaftlichen und mentalen Unterschiede gewonnen.

So ist die Tour durch "Neufünfland" eine Demütigung für die Menschen östlich der Elbe. Was als PR-Tour für den Kanzler gedacht war, könnte sich als böser Rückschlag erweisen. Denn er weckt bei den Menschen mit seiner Reise vielleicht Erwartungen, die er gar nicht erfüllen kann.


 
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