© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
"Arbeiter gegen Globalisierung"
Gyula Thürmer, Vorsitzender der ungarischen Arbeiterpartei, über EU-Osterweiterung, die PDS und die Zukunft des Kommunismus
Alexander Barti

Herr Thürmer, am 20. August feierte Ungarn sein tausendjähriges Staatsjubiläum. Sehen Sie eine Kontinuität zwischen dem Königreich, welches 1946 offiziell abgeschafft wurde und den nachfolgenden Staatsformen?

Thürmer: Es existiert natürlich eine Kontinuität was die Staatlichkeit Ungarns betrifft. Die ungarische Arbeiterpartei fühlt sich dieser Kontinuität verpflichtet, und deswegen feiert sie dieses Jubiläum auch. Allerdings glauben wir nicht, daß es eine Kontinuität zwischen der Monarchie und der heutigen demokratischen Republik gibt. Es ist zum Beispiel lächerlich, wenn man eine Kopie der ungarischen Königskrone bei verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Anlässen präsentiert.

Demnach lehnen Sie auch das ungarische Staatswappen mit der Königskrone ab.

Thürmer: Ja natürlich, es ist aberwitzig, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine Krone als Staatssymbol zu führen.

Seit der sogenannten Wende von 1990 bemüht sich Ungarn verstärkt um eine politische Westanbindung. Wie sehen Sie den im März 1999 erfolgten Eintritt Ungarns in die Nato?

Thürmer: Wir sind ein Land, das zur sogenannten westeuropäischen Zivilisation gehört. Das bedeutet aber nicht, daß Ungarn auch Mitglied des westlichen Militärbündnisses sein sollte. Die ungarische Arbeiterpartei war gegen die Aufnahme Ungarns in die Nato. Der Kosovo-Krieg hat gezeigt, daß das Nordatlantische Verteidigunsbündnis das ungarische Territorium vor allem als Stützpunkt für seine Bomber benutzt hat. Heute ist die Mitgliedschaft eine realpolitische Tatsache, wir akzeptieren sie also. Trotzdem sind wir der Meinung, daß gewisse negative Aspekte der Nato unbedingt vermieden werden müssen. Ich meine damit, daß die Stationierung von Atomwaffen in Ungarn nicht geduldet werden darf.

Sie sind vor einiger Zeit in Begleitung von Albert Szabó, dem Anführer der faschistischen Bewegung MNSZ (Magyar Népjóléti Szövetség, Ungarischer Wohlfahrtsbund), nach Bagdad gereist. Und während der Kosovo-Krise haben Sie mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevics persönliche Gespräche geführt. War das nicht eine eindeutige Demonstration gegen die Nato und den Westen?

Thürmer: Erstens muß ich richtigstellen, daß ich noch nie persönlich in Bagdad gewesen bin. Die ungarische Arbeiterpartei hat praktisch keine offiziellen Kontakte zu der Regierung in Bagdad. Richtig ist, daß unsere Delegation im Irak an einer internationalen Solidaritätskonferenz teilgenommen hat. Wir sind der Meinung, daß das irakische Volk nicht von den Vereinigten Staaten bombardiert werden darf. Die Probleme dort unten kann man nicht mit Krieg und wirtschaftlichen Sanktionen lösen. Zweitens ist Jugoslawien ein Nachbarland, und die historische Erfahrung hat gezeigt, daß es besser ist, wenn Ungarn mit seinen Nachbarn in Frieden lebt. Daher sind wir gegen eine militärische und ökonomische Aggression gegen Jugoslawien. Die ungarische Regierung hatte im Vorfeld der westlichen Aggression behauptet, Jugoslawien plane einen Angriff gegen den ungarischen Staat. Deswegen bin ich nach Belgrad gefahren und habe mit Milosevic gesprochen. Dabei stellte sich wie erwartet heraus, daß Jugoslawien natürlich keine Aggression gegen Ungarn geplant hatte.

Ungarn strebt auch die Aufnahme in die Europäische Union an. Halten Sie den Eintritt für notwendig? Wenn ja, wann könnte er erfolgen?

Thürmer: In dem heutigen Europa ist die Europäische Union eine Realität, an der man nicht vorbeikommt. Daher sind wir der Überzeugung, daß Ungarn an dieser politischen und ökonomischen Integration teilnehmen muß. Gleichzeitig muß man aber auch ganz klar sehen, daß die Mitgliedschaft nicht nur positive Folgen für das ungarische Volk haben wird. Die Arbeiterpartei will zum Beispiel die ungarische Landwirtschaft verteidigen. 70 bis 80 Prozent der ungarischen Agrarproduktion erfolgt noch in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Man kann diese Produktionsform ruhig beibehalten, ohne daß daraus eine ideologische Frage wird. Außerdem sind wir dagegen, daß sich in Ungarn jeder Ausländer Land kaufen kann. Ähnlich wie in Österreich sollte es auch in Ungarn ein Kaufverbot für Ausländer geben. Die Werktätigen sollen den Lohn und die Sozialversicherung erhalten, wie sie in Westeuropa üblich sind. Meiner Meinung nach ist die Frage der EU-Erweiterung noch nicht entschieden. Wir hoffen aber, daß Ungarn in zwei bis drei Jahren in die Europäische Union aufgenommen wird.

Auf der Homepage der Arbeiterpartei kann man lesen, daß sie mit den kommunistischen Parteien in Deutschland, KPD, bzw. DKP, und mit den Sozialisten der PDS in Verbindung steht. Welche der Parteien wird von der ungarischen Arbeiterpartei bevorzugt?

Thürmer: Die ungarische Arbeiterpartei ist eine moderne links-sozialistische, kommunistische und humanistische Partei. Die PDS ist eine links-sozialistische Partei und deswegen haben wir ein gutes Verhältnis zu ihr. Mit ihr treffen wir uns regelmäßig. Wir sind aber gleichzeitig auch eine kommunistische Partei, die in Zukunft die kapitalistische Gesellschaft transformieren möchte. Daher haben wir auch gute Kontakte zu den Kommunisten in Deutschland. Sie sind ein wichtiger Teil der deutschen Arbeiterbewegung.

Auf welcher Ebene bewegen sich die Beziehungen zur PDS?

Thürmer: Auf höchster Ebene. Ich war zum Beispiel auf dem letzten Parteitag der PDS. Mit Lothar Bisky und Gregor Gysi treffen wir uns regelmäßig. Hans Modrow war vor einigen Wochen in Budapest, und mit den Mitgliedern der PDS im Europäischen Parlament haben wir auch gute Beziehungen.

Wie beurteilen Sie den Rückzug von Gregor Gysi aus der Parteispitze, nachdem seine Vorschläge auf dem letzten Parteitag durch die orthodoxen Kommunisten innerhalb der Partei zurückgewiesen wurden?

Thürmer: Jedes Land hat eine komplexe Geschichte, wie auch jede Partei eine eigene, komplexe Geschichte hat. Das Verhalten von Gysi und seinen Parteigenossen ist für mich eine innere Angelegenheit der PDS.

Glauben Sie, daß durch den Rückzieher von Gysi die Ausdehnung der PDS nach Westdeutschland gefährdet ist?

Thürmer: Die PDS ist in der früheren DDR entstanden, aber sie ist mittlerweile eine gesamtdeutsche Partei. Meiner Meinung nach ist es selbstverständlich, daß sie im Westen neue Formen der Arbeit und neue Methoden der Präsentation anwenden muß.

2002 wählen die Ungarn ein neues Parlament. Glauben Sie, daß die bürgerliche Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán abgewählt wird?

Thürmer: Heute herrscht ein Gleichgewicht zwischen der sozialistischen Opposition und dem bürgerlichen Block. Das bedeutet, daß die Sozialisten die Stimmen der bürgerlichen Wähler nicht bekommen können und umgekehrt. Allerdings gibt es sehr viele unzufriedene Menschen in Ungarn, denn ca. 80 Prozent der Bevölkerung lebt heute schlechter als noch vor zehn Jahren. Wir gehen davon aus, daß bei den nächsten Wahlen die Wahlbeteiligung um drei bis vier Prozent höher sein wird als bei der letzten Wahl 1998. Dieses Mehr an Stimmen werden vor allem zwei Parteien bekommen: einmal die rechtsradikale MIÉP (Magyar Igazság és Élet Pártja, Partei des Ungarischen Lebens und der Wahrheit) und wir, die ungarische Arbeiterpartei. Ich glaube, daß die bürgerliche Koalition abgewählt werden kann. Die beste Regierung wäre eine Mitte-Links-Regierung unter Führung der Sozialisten und mit Beteiligung der Arbeiterpartei. Die Arbeiterpartei kam 1998 auf vier Prozent der Stimmen und verfehlte damit nur knapp die Fünf-Prozenthürde. Wir haben zur Zeit 16.000 Parteimitglieder, und landesweit stellen wir 15 Bürgermeister und rund 300 Abgeordnete in den kommunalen Selbstverwaltungen. Daher glaube ich, daß die Arbeiterpartei nach der nächsten Wahl sicherlich im Parlament vertreten sein wird.

Umfragen in Ungarn deuten darauf hin, daß die MIÉP eventuell den Einzug in das Parlament verpassen könnte. Glauben Sie, daß die MIÉP bei der nächten Wahl aus dem Parlament rausfliegen wird?

Thürmer: Es gibt eine wirkliche Gefahr, daß die MIÉP stärker wird; man kann auch nicht ausschließen, daß sie dann in Form einer Koalition an die Regierung kommt. Wir möchten diese Entwicklung unbedingt vermeiden und die Stimmen von der MIÉP für uns gewinnen.

Kann man die MIÉP mit den Freiheitlichen (FPÖ) in Österreich vergleichen?

Thürmer: Ich glaube, daß die wichtigsten theoretischen Elemente der beiden Parteien übereinstimmen. Auch die politische Situation beider Länder ist sehr ähnlich. Österreich ist in die Europäische Union eingetreten und es entstanden verschiedene soziale Konflikte und Probleme, die von der Haider-Partei ausgenutzt wurden. István Csurka, der Parteivorsitzende der MIÉP, nutzt diese sozialen Konflikte hier in Ungarn aus. Die Situation in Ungarn ist aber noch problematischer als in Österreich, weil wir hier 600.000 bis 800.000 Zigeuner haben. Es herrscht Armut bei großen Teilen der Bevölkerung, und es gibt das Problem des Antisemitismus. Das sind Probleme, die in Österreich nicht existieren. Die Rechtsradikalen in Ungarn können alle diese genannten Probleme für ihre Interessen instrumentalisieren.

Wie ist das Verhältnis der Arbeiterpartei zu den Sozialisten (MSZP) des Ex-Ministerpräsidenten Gyula Horn – gibt es da nicht viel Konkurrenz?

Thürmer: Ja, wir stehen in Konkurrenz zueinander. Wenn wir bei den letzten Wahlen zusammengearbeitet hätten, hieße der heutige Ministerpräsident nicht Viktor Orbán sondern er wäre ein Abgeordneter der Sozialistischen Partei. Mittlerweile haben wir das verstanden. Es gibt mindestens zwei Tendenzen bei den Sozialisten: die einen wollen mehr mit der Mitte, mit dem Ungarischen Demokratischen Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF) und den Liberalen (Szabad Demokrata Szövetség, SZDSZ), zusammenarbeiten. Die andere Gruppe sieht in der Kooperation mit der Arbeiterpartei die Zukunft. Diesen Richtungskampf können wir nicht beeinflussen, aber wir hoffen, daß die sozialistischen Parteiführer eine weise Entscheidung finden werden und dem französischen Beispiel folgen: dort arbeiten Kommunisten und Sozialisten sinnvoll zusammen.

Was halten Sie davon, daß voraussichtlich Miklós Németh, der letzte Ministerpräsident der Kádár-Ära, für die Sozialisten (MSZP) als zukünftiger Ministerpräsident ins Rennen geschickt werden könnte? Glauben Sie nicht, daß Herr Németh zu einer Generation gehört, die nicht mehr ans Ruder kommen sollte?

Thürmer: Die Sozialisten benötigen einen Generationswechsel, so wie das in Spanien geschehen ist. Die spanischen Sozialisten haben heute einen 30jährigen Generalsekretär. Eine solche Entwicklung wird auch in Ungarn nicht ausbleiben. Ob der linke Kandidat für die nächsten Wahlen Herr Németh wird oder irgend jemand anders, das weiß ich nicht. Miklós Németh ist ein Realpolitiker, und Ungarn benötigt heute einen wirklichen europäischen Realpolitiker an der Regierungsspitze.

Wie erklären Sie sich, daß die Liberalen (SZDSZ), die vor der Wende aktiv in den Bürgerrechtsbewegungen mitgearbeitet haben, heute mit ihren ehemaligen Gegnern, den Sozialisten, koalieren? Wie kommt dieser Linksruck zustande?

Thürmer: Liberale Tendenzen hatten in der ungarischen Geschichte noch nie einen langfristigen Erfolg. Und obwohl die Liberale Partei in den letzten zehn Jahren eine große Rolle in der Politik gespielt hat, gehe ich davon aus, daß sie bei den nächsten Wahlen 2002 nicht mehr in das Parlament einziehen wird. Eventuell bekommt sie einige Direktmandate. Die Ursache dafür sehe ich in dem Mangel an Visionen, die die Liberalen für das ungarische Volk auf Lager haben.

Heute reden alle von der Globalisierung. Sehen Sie in der Globalisierung die Möglichkeit, die kommunistische Weltgesellschaft einzuführen, oder bedeutet sie eher eine Gefahr für die Menschen?

Thürmer: Das kapitalistische System kann nicht alle Probleme lösen, das ist hinreichend bekannt. Gegen die Phänomene des Kapitalismus entwickelt sich schon Widerstand, denken Sie zum Beispiel an die Krawalle in Seattle beim Weltwirtschaftsgipfel. Die Werktätigen der Welt bzw. Europas wollen sich gegen die Globalisierung wehren. Daher glauben wir, daß die Arbeiterbewegungen, das heißt die linken Bewegungen, weltweit organisiert werden müssen.

Zum Abschluß noch eine persönliche Frage: Wie kommt es, daß Sie so gut Deutsch sprechen?

Thürmer: Nun, ich habe einen deutschen Namen, und mir gefällt die deutsche Sprache. In Goethes "Faust" gibt es das Lied des Thürmers, vielleicht hängt mein Name damit zusammen. Vor einigen Jahrhunderten kam meine Familie vielleicht aus Deutschland.

 

Dr. Gyula Thürmer ist Vorsitzender der ungarischen Arbeiterpartei (MP). Geboren am 14. April 1953 in Budapest, studierte er von 1971 bis 1976 am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau. Abschluß als Volkswirt. 1976 bis 1980 wissenschaftliche Mitarbeit an der Politischen Hochschule in Budapest, Doktor der Politischen Wissenschaften. Gleichzeitig diplomatischer Dienst im ungarischen Außenministerium. 1980 bis 1982 Diplomat in Moskau. 1982 bis 1988 Mitarbeiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP). 1988 bis 1989 außenpolitischer Berater des letzten Generalsekretärs der MSZMP. Thürmer ist Mitglied des Rates der EU-kritischen Bewegung (TEAM). Er gehört zum Verwaltungsrat der Zeitschrift "International Correspondence".

 

Gulaschkommunismus
Ungarns Postkommunisten frönen alten Rezepten

Die ungarische Arbeiterpartei ist eine der Nachfolgeparteien der Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), mit der jahrzehntelang ihr Generalsekretär János Kádár seine Herrschaft zemetiert hatte. Dabei verfolgte er eine Politik des relativen Wohlstandes, die mit dem Begriff "Gulaschkommunismus" weltweit bekannt wurde. Nach der Wende spaltete sich die MSZMP in zwei Lager. Die Arbeiterpartei (Munkáspárt, MP) wurde Ende 1989 gegründet. Sie konnte bis jetzt die Fünf-Prozent-Hürde des ungarischen Parlamentes nicht überwinden. Allerdings wurde sie mit vier Prozent nach den letzten Wahlen stärkste außerparlamentarische Partei. Die anfängliche Zielsetzung der Arbeiterpartei war die Fortsetzung des sogenannten "Kádárismus". In den letzten Jahren hat die Partei eine ideologische Wendung durchgemacht und vertritt seitdem einen "humanistischen Kommunismus". An der Transfomation der Gesellschaft in ferner Zukunft wird festgehalten.

 

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