© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Ein Tabubruch bahnt sich an
Korsika: Streit um Autonomnie-Regelung spitzt sich zu / Innenminister Chevènement trat von seinem Amt zurück
Charles Brant

Nach achtmonatigen Verhandlungen beabsichtigt die französische Regierung, Korsika einen Status zu verleihen, der der Sonderstellung der Insel politisch Rechnung trägt. Dieser Vorschlag hat unter den Souveränisten der Rechten wie der Linken einen Sturm des Protestes ausgelöst.

Am Dienstag trat Innenminister Jean-Pierre Chevènement von seinem Amt zurück, weil er die Pläne der Regierung des Ministerpräsidenten Lionel Jospin, Korsika eine beschränkte Autonomie zu gewähren, nicht mittragen wollte. Nachfolger des 61jährigen Linksnationalisten wird der bisherige Parlamentsminister und Regierungssprecher Daniel Vaillant. Chevènement, Verfechter eines starken Nationalstaates, fürchtet, daß eine Sonderbehandlung des Volkes der Korsen auch andere nach Autonomie oder Freiheit strebende Völkerschaften des französischen Staatsverbandes, wie die Basken oder die Bretonen ermuntern könnte.

Immerhin würden Jospins Pläne Korsika als einzigem Departement das Recht verleihen, Gesetze der Nationalversammlung abzuändern. Jospin hofft, auf diesem Wege den seit über zwanzig Jahren schwelenden Konflikt auf der Mittelmeerinsel zu beenden. Begrüßt wird das Vorhaben im Elsaß, der Bretagne und Savoyen.

"Korsika wird Europa noch Anlaß zum Staunen geben." Diese Prophezeiung stammt von Jean-Jacques Rousseau, der mit Pasquale Paoli befreundet und der Architekt eines Verfassungsentwurfs für ein freies und souveränes Korsika war. Ist diese Stunde nun gekommen? Die wütenden Proteste, die die von der Regierung ins Auge gefaßte Schaffung einer begrenzten "legislativen Befugnis" für Korsika auslösten, könnten sie ankündigen. Jacques Chirac höchstselbst hatte ebenfalls Bedenken angemeldet und seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß der Entwurf die "Einheit" der Republik respektieren werde. Michèle Alliot-Marie, Vorsitzende des RPR, schließt sich dem selbstverständlich an. Unter den linken Gruppierungen teilt der Mouvement des Citoyens (Bürgerbewegung) diese Haltung ebenso wie die kommunistische Partei. Dagegen haben Francois Bayrou, Vorsitzender des UDF und Befürworter eines Europas der Nationen, und Alain Madelin von den Liberaldemokraten ihre Zustimmung bekundet.

Die Gegner des Regierungsvorhabens kritisieren einerseits, daß es Anlaß zu erneuten Gewaltausbrüchen gebe, andererseits, daß es nicht gründlich genug durchdacht sei. In der linken Wochenzeitung Le Nouvel Observateur vom 17. August antwortete Lionel Jospin ihnen mit einem ausführlichen Beitrag. Sichtlich um Klarheit bemüht, rechfertigte der Premierminister sein Vorhaben als den Versuch, "endlich den Weg in eine Zukunft des Friedens und Fortschritts auf der Insel zu finden". Er fügte hinzu, "daß Einheit nicht notwendigerweise Einheitlichkeit bedeuten muß, daß das Inseldasein und die besonderen Gegebenheiten Korsikas es erforderlich machen, neue Wege zu gehen, die uns erlauben, Einheit mit Diversität zu verbinden". Seine Kritiker erinnerte er daran, "daß die Mehrheit der Inseln im Verbund unserer Nationen Europas schon einen autonomen Status genießen, der weit ausgeprägter ist als die für Korsika anvisierten Änderungen".

Jenseits der Kluft zwischen Rechten und Linken prägen sich zwei entgegengesetzte Meinungen aus: Auf der einen Seite stehen jene Franzosen, die sich aus den Fesseln des Zentralismus befreien wollen. Auf der anderen die Jakobiner, die in ihren abstrakten Überzeugungen befangen sind und jede Abweichung von den heiligen Grundsätzen der "Grande Nation" ablehnen. Diese Jakobiner – zu denen man General Gallois ebenso zählen muß wie Jean-Louis Debré oder der Publizist Max Gallo, der vor kurzem Hagiographien von Napoleon und de Gaulle verfaßte – sehen "die Heimat in Gefahr". Die geplante Dezentralisierung und Machtverteilung ist ihnen zutiefst suspekt, wenngleich sie sich nur auf Korsika beziehen und unter staatlicher Kontrolle verlaufen soll. Im Namen der "Einheit und Unteilbarkeit" der französischen Republik haben sie dem korsischen Volk seit jeher die Eigenständigkeit verweigert und kämpfen auch weiterhin dagegen, im Elsaß und in Lothringen Deutsch als "Regionalsprache" anzuerkennen.

Der heftige Tonfall dieser Argumente wirkt befremdend. Korsika, so wird behauptet, sei nicht der richtige Ort für Experimente in Sachen Autonomie. Vom Ausland wie von den Interessen der Mafia ferngesteuert, haben die Korsen angeblich ein Monopol auf Gewalt und Skandale. Diese Argumentation greift ein wenig zu kurz, wenn man an die Skandale um den Konzern Elf-Aquitaine und die Crédit Lyonnaise-Bank denkt, in die der französische Staat jüngst verwickelt war. Auf Korsika hat nichts dergleichen jemals stattgefunden. Mafia und Drogenhändler sind von Paris bis Monaco auf dem Festland genauso aktiv wie auf Korsika. Und die korsische Gewalt – die in der Tat spektakulär ist und nicht selten tödlich ausgeht – scheint kaum der Erwähnung wert im Vergleich mit der Unsicherheit in den Städten und Vorstädten, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und sogar in den Schulen, deren Verbreitung der Staat tatenlos zusieht. Was die Korruption angeht – niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß sie überall in der Republik existiert.

Daß die Jakobiner sich so schwertun, ist nicht verwunderlich. Schließlich ist ein Regierungsvorhaben, das Korsika Eigenständigkeit gewährt und "Einheit und Diversität" verbinden will, ein Schlag gegen das sakrosankte Dogma der "einen und unteilbaren" Republik. In einem Frankreich, das gerade erleben muß, wie sehr der Mythos der Staatsnation sich erschöpft hat, ist allerdings die Zeit reif dafür. Die Bekundungen, die aus verschiedenen Regionen mit stark ausgeprägter Identität laut werden, sind der beste Beweis dafür.

So schätzt die – notorisch linkslastige – Union démocratique bretonne (UDF) Jospins Vorstoß als "eine ungemeine Ermutigung" ein und kündigte an, "daß die Frage einer innerstaatlichen Autonomieregelung für die Bretagne bei den Regionalwahlen 2004 der größte politische Prüfstein sein wird". Auch die Ligue savoisienne tat ihre zustimmende Begeisterung kund. Im Elsaß jubeln sogar diejenigen, die sonst eher als moderat gelten. Der Senator und frühere Minister Daniel Hoeffel zeigte sich glücklich über die "territoriale Restrukturierung, die Korsika in Angriff nimmt". Der Region werde so eine zentrale Rolle zukommen. Selbst der überaus vorsichtige Adrien Zeller, Präsident des Regionalrates, ist der Meinung, die für Korsika geplante Reform sei "problemlos auf andere Regionen Frankreichs übertragbar". Und der Zeichner Tomi Ungerer nutzt die Gelegenheit für Lobpreisungen auf die elsässische Justiz.

Ein Tabubruch bahnt sich an. Die Frage der Dezentralisation, die seit der Revolution immer wieder diskutiert wird, ist erneut hochaktuell. Ob der gerade eingeleitete Prozeß tatsächlich durchgezogen wird, ist allerdings fraglich. Die Ermordung des ehemaligen Nationalisten-Chefs Jean-Michel Rossi am 7. August, der Anschlag, der am 13. August auf die Behörde für wirtschaftliche Entwicklung in Ajaccio verübt wurde und für den bislang niemand die Verantwortung übernommen hat, könnten als Vorwände dienen, das Vorhaben auf Eis zu legen.

Man muß hinzufügen, daß auch die jakobinischen Fanatiker ihrerseits niemals vor Provokationen und der Anwendung von Gewalt zurückgeschreckt sind. Aufmerksamen Beobachtern ist nicht verborgen geblieben, daß der blutige Anschlag auf ein McDonald’s-Restaurant in der Bretagne trotz einer Massenverhaftung in den folgenden Tagen schon seit mehreren Monaten unaufgeklärt geblieben ist.


 
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