© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Kolumne
Hinsehen!
von Klaus Motschmann

Der Kampf um die Bewahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde gehört zu den Lieblingsthemen aller Humanisten, Ideologen und sonstigen Weltverbesserer. Sie dürfen sich dabei grundsätzlich einer breiten Zustimmung des Volkes sicher sein. Allerdings stellt sich mehr und mehr die Frage, wer denn den Begriff "Menschenrechte" definiert und feststellt, wann sie verletzt werden. So werden offenkundige Menschenrechtsverletzungen entweder überhaupt nicht wahrgenommen oder regelrecht tabuisiert; zum Beispiel die Christenverfolgungen in zahlreichen islamischen Ländern oder aber die zwar "legale", aber nach wie vor grundgesetzwidrige Tötung von jährlich 150.000 ungeborenen Kindern. Auch wenn man bedenkt, daß es zu allen Zeiten unterschiedliche Ansatz- und Schwerpunkte im Kampf um die Menschenrechte gegeben hat, so sollte der Grundsatz von der Beachtung aller Menschenrechte zumindest nicht demonstrativ mißachtet werden, wie es heute vielfach der Fall ist.

Dazu gehören vor allem die subtilen, deshalb jedoch nicht weniger gravierenden Verletzungen der Menschenwürde durch demonstrative Mißachtung der geistigen Urteilsfähigkeit und Herausforderungen der moralischen Integrität. Man denke z. B. an Argumente, die dem Adressaten entweder einen IQ unter 100 oder aber mangelnden Mut zum öffentlichen Widerspruch unterstellen. Sie zielen durch ihre offenkundigen Widersprüche, ihre eindeutig rechts- und verfassungswidrigen Schlußfolgerungen insbesondere auf Lehrer und Journalisten, Politiker aller Ebenen und Pfarrer, Publizisten und sonstige "Mittler der veröffentlichten Meinung" ab, von denen man weiß, daß sie es anders wissen – sei es aufgrund von Erfahrungen, gewachsenen Überzeugungen oder lange Zeit vorherrschenden Lehrmeinungen, zum Beispiel der 68er. Niemand zwingt sie, wider besseres Wissen ihre Einstellung zu ändern und auf dem Absatz kehrtzumachen. Aber was geschieht, wenn sie sich weigern, freiwillig in das "Chorheulen der Wölfe" einzustimmen, und die allenthalben geforderte Zivilcourage aufbringen, eine wohlbegründete eigene Meinung zu behaupten und sich dem erwarteten (freiwilligen) Gesinnungs-TÜV versagen? In der Regel gesellschaftliche Ächtung.

Auf diese Weise werden nicht nur elementäre Menschenrechte durch massive Beeinträchtigungen oder gar Mißachtung der Gewissensfreiheit verletzt, sondern die Grundlagen für ein "Reich der Lüge und der Verrücktheit" (Arnold Gehlen) gelegt. Deshalb die Mahnung: Nicht wegsehen!

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen