© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Das Leben ist eine Metapher
Benjamin von Stuckrad-Barre ist die Strafe für eine veränderte Schreib- und Lesekultur
Silke Lührmann

Momentan scheint keine bundesrepublikanische Zeitung, die etwas auf sich hält, an ihm vorbeizukommen. Selbst in Bild, das sich nicht wirklich durch feuilletonistische Ambitionen auszeichnet, fand er Erwähnung – zwar nicht namentlich, aber immerhin als "Jungschriftsteller, der sich gerade wieder die Hose zumachte".

Sein gerade erschienenes viertes Buch "Blackbox" vermarktet Benjamin von Stuckrad-Barre mit einer Lesetour durch Theater, Universitäten, Kirchen und mittlere Konzerthallen, einer CD mit dem garantiert ironisch gemeinten Titel "Bootleg" ("Raubkopie"), auf der Götz Alsmann Robbie Williams, die Bild-Gesellschaftsreporterin Katja Keßler sich selbst als Nackedei und Sibylle Berg "in einen Telefonhörer hinein Ernst August von Hannover" vorträgt, und dem über seine Homepage und einen Mailorder-Versand betriebenen Verkauf von T-Shirts in drei verschiedenen Motiven "und anderen schönen Sachen". Und das alles ganz uneigennützig: Er habe diesen "Größenwahn, daß die Welt meine Texte braucht". Seine früheren Veröffentlichungen "Soloalbum" (1998), "Livealbum" (1999) und "Remix: Texte 96–99" (1999) bescherten ihm bislang eine Gesamtauflage von einer Viertelmillion.

Ansonsten hat der 25jährige gebürtige Bremer und heutige Wahlberliner Witze für die "Harald-Schmidt-Show", Musikkritiken und Hamburger Lokales für die taz, Berlinerisches für die FAZ und bestimmt viele erheiternde Schulaufsätze geschrieben, die er hoffentlich bald gewinnbringend ins Internet stellt. Gelesen hat er auch schon beim "Rock am Ring"-Festival. Um seinen Streit mit Pur-Sänger Hartmut Engler nicht in Johannes B. KernersTalkshow vertiefen zu müssen, erschien er gar nicht erst. Gründe genug für die Kritikerelite, ihn mit verachtungsvoller Faszination als "Schnöselschreiber"oder "Rotzlöffel" zu würdigen.

Literatur als Happening ist nicht ganz neu, Literatur als Merchandising schon eher: Spektakel und Werbepause in einem. Aber muß es den Philistern – den dynamischen Jungunternehmern, den stammelnden Schau- und grinsenden Fußballspielern, den erfolgsgeküßten Chefredakteuren dieser Welt – vorbehalten bleiben, reich und schön zu sein? Ist Kunst nur dann Kunst, wenn sie brotlos ist? Wohl kaum. Hat nicht jede Form der Selbstausbeutung etwas Edles, auch wenn man dabei satt wird? Wohl kaum. Das weiß auch Benjamin von Stuckrad-Barre – und möchte sich doch nicht als "Nummernschild der Generation Fiat Punto" fühlen müssen: "Da wird man doch als Werbebande mißbraucht."

Vorgelebt haben es ihm jenseits des Atlantiks die urbanen bratpack-Autoren, das sogenannte "Görenrudel" um Michael Chabon ("Die Geheimnisse von Pittsburgh"), Jay McInerney ("Bright Lights, Big City"), Bret Easton Ellis ("Unter Null"), Tama Janowitz ("Die Sklaven von New York"). Die verstanden, daß sie ihr Image gleich mitverkaufen mußten, um einen der lukrativen, bis zu sechsstelligen Dollarvorschüsse zu ergattern, die Verleger Ende der 1980er Jahre in coolen Schick und Sex-Appeal zu investieren bereit waren. Ein paar von ihnen verstanden wenigstens auch, daß ihre Seelen von dieser Transaktion unberührt blieben – an deren Existenz, geschweige denn ihren Marktwert, glaubt Mephisto schon längst nicht mehr.

Statt ihn einfach als Kompliment aufzufassen, macht sich von Stuckrad-Barre im Stern-Interview viel Mühe, dem Vorwurf der Zeit zu widersprechen, er schreibe "H&M-Literatur": Das zeige "bloß, daß die noch nie bei H&M waren und gar nicht wissen, daß man da ausgezeichnete Unterhosen kaufen kann. Der Kritiker Ulrich Greiner beispielsweise weiß nur, daß seine Tochter sagt: ‚Ulrich, ich brauche 100 Mark.‘ Dann sagt er: ‚Du sollst mich nicht Ulrich nennen.‘ Dann sagt die ‚Vati‘, und er gibt ihr 200 Mark, und dann geht sie zu H&M. Mehr weiß er nicht."

Wenn das keine H&M-Geschichte ist, dann ist das, was er schreibt, tatsächlich keine H&M-Literatur. In "Blackbox" gibt es statt Erfahrungen nur noch Metaphern und zwar vor allem eine - das elektronische Gehirn, das nicht denkt, sondern Eingaben prozessiert. Oder, anders ausgedrückt, Alt B Suchen nach: Erfahrung. Ersetzen durch: Metapher. Alle ersetzen. 119 Ersetzungen vorgenommen. Das ist clever, gut beobachtet und vielleicht doch ein bißchen selbsterlebt. Dann wäre es schade um einen geistreichen Kopf, der sich – hätten ihm leidenschaftlichere Musen zur Verfügung gestanden als Harald Schmidt und der Maustreiber seines Computers – auf mehr gestalterische Wagnisse hätte einlassen können.

"Blackbox" ist ein in Sri Lanka geschriebenes Buch, dem man nicht anmerkt, ob sein Autor je vom Schreibtisch aufgestanden ist. "In der Tat, für hinterher, nach der Rückkehr, für Diaabende, Wieder-da-Telefonate oder, jawohl, Postkarten war es toll; man konnte erzählen, man habe ausschließlich mit sogenannten Locals gesprochen, selbstverständlich unter Zuhilfenahme beinahe aller Gliedmaßen, sei auf diese Weise dem ursprünglichen Charakter des Landes näher gekommen, als das im standardisierten, durch Massentourismus jeglicher Eigenheit beraubten Küstengebiet möglich gewesen wäre (...) Doch während er so vorbildlich reiste, fühlte der junge Mann sich wie im Zoo, nur andersherum: An einem verregneten Tag allein am Gehegerand, wenn die anderen Geschöpfe in der Überzahl sind und es fraglich ist, wer eigentlich gerade wen beobachtet und welche Seite des Gatters nun Freiheit und welche bloß Auslauf bedeutet." Alle Reisen führen ins Ich: Bei Gottfried Benn oder Max Frisch ist solche Überheblichkeit erträglich, weil einer glaubwürdig gelebten Weisheit geschuldet. Mit 25 sollte man so zynisch, so wenig neugierig nicht sein.

In Aufmachung, Stil und Zielpublikum erinnern die acht "Blackbox"-Erzählungen bewußt an Douglas Couplands "Generation X". Aber während Coupland den pflanzentötenden Büromief eines "McJobs" ganz offenbar aus eigener Anriechung kennt und weiß, welch üble Kopfschmerzen er verursacht, kann sich von Struckrad-Barre lieblose Lacher auf Kosten seines Personals leisten: "Er ruft seine Sekretärin, kann sich aber den Namen nicht merken, die wechseln auch so häufig, Rotationsprinzip, gläserne Firma, Effizienzgarantie, also nennt er sie Ey."

Von Pornographie unterscheidet sich diese Art zu schreiben vorwiegend dadurch, daß sie sich zwar außer Atem, aber nie ins Schwitzen bringen läßt. Sie reizt attraktive Benutzeroberflächen aus, lockt den Leser mit vagen Penetrations- und Enthüllungsversprechen und hinterläßt ein schal-klebriges Gefühl der Unzufriedenheit. Die black box, der Flugschreiber, ist das Protokoll eines Untergangs, eine Zeitkapsel voller Banalitäten. Sie übersteht Katastrophen unbeteiligt und unbeschadet, machtlos sie abzuwenden. Die von ihr erhofften Offenbarungen bleiben zumeist aus. Der sich an den Texträndern von "Blackbox" abzeichnende Absturz ist letztlich doch nur der des Computers. Im Untertitel deklariert von Stuckrad-Barre ihn zum "unerwarteten Systemfehler", schließt menschliches Versagen vorsorglich aus. Seine Titel sind eindeutig programmatisch. Bloß waren Programme ursprünglich nicht als Selbstzweck gedacht, sondern dienten der Vermittlung von Gedankengut. Erst bei "Big Brother" wurde der Container nachweislich interessanter als sein Inhalt.

Die britische Meritokratie schlägt Schriftsteller inzwischen routinemäßig zu Rittern des Zeitgeistes. Als Kulturattachés der "neuen Kühle" sind Irving Welsh ("Trainspotting"), Will Self ("Filth"), Nick Hornby ("High Fidelity") und Alex Garland ("Der Strand") das literarische Pendant des Medienrummels um Oasis und Blur und die sensationelle Entdeckung, daß Fußball nicht halb so prollig sein muß, wie man immer geglaubt hatte. (Nicht zufällig hat H&M im vergangenen Jahr triumphierend auf der Insel Einzug gehalten.)

Etwas ähnliches wollte der Ullstein-Verlag orchestrieren, als er pünktlich zur Jahrtausendwende von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhardt Nickel und Alexander von Schönburg-Glauchau drei Apriltage lang im Berliner Hotel Adlon die Wüste des Überflusses, in der sie sich ausgesetzt finden, einer Nabelschau unterziehen ließ. Das Ergebnis dieser Inszenierung, von Bessing unter dem Titel "Tristesse Royale. Das popkulturelle Quartett" herausgegeben, bezeichnete ein englischer Rezensent als "most stinky German book", die taz als eines der "am meisten verrissenen Bücher der deutschen Sprache".

Schreiben, sagt dieser spaßige Aristokrat, der der Wegwerfgesellschaft von sich selbst erzählt, sei für ihn "Notwehr". Wogegen eigentlich, die Frage macht ihn selber etwas ratlos. Das Höchstmaß an zivilem Ungehorsam, zu dem seine Geschichten fähig sind, scheint jedenfalls die Erkenntnis, daß Mülltrennung unsinnig ist. Hier ist einer, der sich furchtbar gerne quälen würde. Daß er es seiner Umwelt sehr verübelt, wenn sie ihm partout keinen Anlaß dazu bietet, leuchtet ein. Jede Kultur bekommt eben die Popstars, die sie verdient.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Blackbox. Unerwartete Systemfehler. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 350 Seiten, 19,90 Mark. Vom 3. Oktober bis 9. November geht v. Stuckrad-Barre auf Lesereise quer durch Deutschland. Informationen und Termine im Internet unter http://www.stuckradbarre.de


 
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