© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Die kalte Sachlichkeit des Geldes
Reisenotizen aus den pommerschen Städten Stargard und Misdroy
Doris Neujahr

Sage niemand, die Unterbrechung der direkten Bahnverbindung von Berlin nach Hinterpommern und Ostpreußen ließe sich leicht wegstecken! Ein Tagesausflug nach Stettin ist zwar wie vordem möglich, doch wer weiterfahren will, für den wird es kompliziert. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man sich in Berlin in aller Ruhe ein freies Zugabteil aussucht, das den Komfort der Deutschen Bahn aufweist, und ohne Unterbrechung bis Köslin, Danzig oder Allenstein fährt. Vom sicheren Fensterplatz aus ließ sich gelassen beobachten, wie der Zug sich in Stettin füllte. Jetzt heißt es hier aussteigen und sich den Menschentrauben anschließen, die sich in die unansehnlichen Anschlußzüge der polnischen Bahn hineinzwängen. Polen fehlen noch die Finanzmittel, um seinen Zugbestand und das Schienennetz durchgreifend zu sanieren.

Diese umständliche Reisekultur schreckt ab. Grenznahe Orte, die in der deutschen Kultur und Geschichte von Bedeutung sind, geraten damit wieder aus dem Blickfeld. Nehmen wir die Stadt Stargard, die 45 Bahnminuten hinter Stettin liegt und früher "Pommersches Rothenburg" genannt wurde. Durch sie verläuft der für die Festlegung der Mitteleuropäischen Zeit maßgebliche 15. Längengrad. Gegen Kriegsende wurde Stargard weitgehend zerstört. Die Straßenführung wurde beim Wiederaufbau zwar bewahrt, jedoch mit Häusern in Billigbauweise bestückt. Vor wenigen Jahren noch machte die Stadt einen ausgesprochen heruntergekommenen Eindruck, ihre Menschen wirkten arm.

Immerhin wurden nach dem Krieg die Kirchen, allen voran die Marienkirche – der nach der Danziger Schwesterkirche größte norddeutsche Backsteinbau – wiedererrichtet. Neu aufgebaut wurde auch das Rathaus mit seinem Stufengiebel, der mit prächtigem spätgotischen Maßwerk verziert ist. Wiederentstanden ist auch die mittelalterliche Stadtbefestigung mit ihren beträchtlichen Mauerresten, den fünf Türmen und vier Toren. Das Mühlentor war und ist das Wahrzeichen der Stadt und das einzige zweitürmige Tor, das in Pommern erhalten blieb. Diese Bauwerke befinden sich in gutem Zustand, polnische Restauratoren haben einen internationalen Ruf. Die Stadtbefestigungen geben der disparaten Stadtstruktur einen Zusammenhalt, die Sakralbauten eine auch spirituelle Mitte.

Überhaupt sind in den letzten Jahren zahlreiche Stadtverschönerungen vorgenommen worden. In der Innenstadt wurden die grauen Wohnblöcke farbig verputzt, auf dem Markt werden alte Laternen angebracht. An der Stelle, an der bis in die dreißiger Jahre die Statue der Germania stand – sie wurde bereits von den Nationalsozialisten verbannt, weil sie ihre Aufmärsche störte –, wird an einem Café-Pavillon gezimmert. Die ausgedehnten Parkanlagen, deren Grün einen reizvollen Kontrast zum dunkelroten Backstein bildet, wirken gepflegt.

Diese Veränderungen sind um so bemerkenswerter, weil Stargard kein aufstrebender Wirtschaftsstandort ist, sondern zu den armen Kommunen gehört. In Polen herrschte jahrzehntelang der für sozialistische Staaten typische abgestufte Zentralismus, der dazu führte, daß die Wojewodschaftshauptstadt Stettin die in der mittelpommerschen Region verfügbaren Ressourcen absorbierte.

Für deutsche Besucher sind auch die ablesbaren kulturpolitischen und psychologischen Veränderungen in der Stadt interessant. Früher bot das Stargarder Stadtmuseum eine dürftige Schau mit grauen Fotos und ein paar Tonscherben, die den slawischen Charakter der Region belegen sollten. Inzwischen gibt es in den Wallanlagen eine umfangreiche Ausstellung mit alten – natürlich deutschen – Postkarten. Sie wurde mit Unterstützung der EU eingerichtet.; der Katalog ist zweisprachig.

Im Souvenirladen am Markt werden kleine Gemälde mit Stargarder Stadtansichten verkauft. Ihr künstlerischer Wert ist zweifelhaft, doch die Motive sind bemerkenswert. Sie orientieren sich an den Stadtansichten der Vorkriegszeit. Den Friedhof im Süden der Stadt hatten die neuen Besitzer in einem Akt der Barbarei plattgemacht. Im vergangenen Sommer wurde hier eine kleine Gedenkanlage errichtet, die die drei letzten erhalten gebliebenen deutschen Grabsteine enthält. Eine Tafel erinnert, etwas verklausulierend, in deutsch und polnisch an die Stargarder "beider Nationen", die 1945 durch Krieg, Vertreibung und Gewalt umkamen. Zwei Glocken der Marienkirche haben den Krieg auf dem Hamburger Glockenfriedhof überlebt und wurden als Leihgabe für den Turm der St. Georgs-Kirche in Nördlingen und für die St. Lucas-Kirche in München zur Verfügung gestellt. Ob sie eines Tages wieder von ihrem angestammten Platz aus läuten werden?

Schwierig ist jetzt auch eine Fahrt über Stettin nach Misdroy auf der Insel Wollin, wohin in früheren Jahren im Juli und August ein direkter Zug fuhr. Heute dauert die Bahnfahrt, bei zweimaligem Umsteigen, fünf Stunden. Misdroy gehörte schon vor dem Krieg zu den großen Seebädern an der Ostsee. Im Jahr 1938 bewältigten die 4.000 Einwohner mehr als 400.000 Fremdenübernachtungen. Heute kommt der Ort mit seinen 6.000 – nunmehr polnischen – Bewohnern auf rund 500.000 auswärtige Gäste, die sich am breiten, feinsandigen Strand tummeln. Doch Misdroy setzt heute wie damals nicht bloß auf Masse, sondern auch auf Klasse. Ein "polnisches Cannes" möchte es werden, und tatsächlich geben Politiker und Schauspieler sich im Sommer hier ein Stelldichein. Zahlreiche Künstler haben – in Anlehnung an den Hollywood Boulevard – ihre Handabdrücke in Bronzeplatten verewigt, die in die Gehwege vor dem Fünf-Sterne-Hotel "Amber Baltic" eingelassen wurden.

Mit seiner baumgesäumten Kurpromenade, den alten, herrschaftlichen Strandvillen und Pensionen, in denen sommers das Berliner Bürgertum residierte, und der erneuerten Seebrücke bietet Misdroy eine Bühne für effektvolle Auftritte. Nicht der Krieg, sondern erst die nachfolgende sozialistische Ära hat seine Bausubstanz in Mitleidenschaft gezogen, doch noch immer kann man Misdroy anhand alter Fotos identifizieren. Jetzt soll der alte Glanz wiederhergestellt werden. Manches ist schon fertig saniert, vieles wurde begonnen, und noch mehr ist in Planung. Der Inhaber einer frisch renovierten Pension, ein ehemaliger Offizier der polnischen Grenztruppen, erzählt, daß er als nächstes die Umzäunung des Grundstücks nach historischem Vorbild wiederherstellen will. Außerdem verfügt Misdroy über einen prachtvollen alten Baumbestand, mitten im Ort steht eine über 300jährige Eiche unter Naturschutz, Neuanpflanzungen werden in großer Zahl vorgenommen: Man hat begriffen, was den Reiz eines mondänen Seebades ausmacht. Allerdings sind auch die ersten Investruinen zu besichtigen.

Außerhalb der Hochsaison empfiehlt es sich, bei der Suche nach einer Privatunterkunft wählerisch zu sein. Es macht eben einen Unterschied, ob man in einer sperrmüllreifen Einrichtung oder in einem neu eingerichteten Gästerraum mit Fernseher und Kühlschrank logiert, während die Preisdifferenz minimal ist. Misdroy hat sich auf seine deutschen Badegäste eingestellt. Die Zimmerofferten an den Häusern, die Hinweisschilder allerorts sowie die Menükarten in den Gaststätten sind fast durchgängig zweisprachig. Die Kellner bestehen auf der deutschen Sprache, selbst wenn man des Polnischen mächtig ist.

Der gegenseitige Umgang, früher von D-Mark-Servilität auf der einen, von nachsichtigem Hochmut auf der anderen Seite beherrscht, ist längst von professioneller Selbstverständlichkeit geprägt. Die deutsche Schiffahrtsgesellschaft "Adler" wirbt in zweisprachigen Prospekten für Schiffsfahrten von Swinemünde nach Rügen, die zum zollfreien Einkauf gedacht sind. Der Tourismus ist keine Einbahnstraße. Im pommerschen Regionalteil der Gazeta Wyborza, der größten polnischen Zeitung, wird auf zwei Seiten Berlin als Reiseziel vorgestellt. Berlin liegt näher als Warschau.

Vom Misdroyer Strand sieht man deutlich die frisch verputzten weißen Strandhotels auf Usedom; nach Swinemünde ist es ein zweistündiger Strandspaziergang. Unter den vielen Eindrücken ist dies der vielleicht faszinierendste: Die Perlenkette der pommerschen Seebäder vom Darß bis nach Leba, die 1945 durch die Grenzziehung ein paar Kilometer weiter westlich zerschnitten wurde, wird wieder zusammengeknüpft, ihre matt gewordenen Edelsteine werden erneut auf Hochglanz poliert. Die alten wirtschaftlichen Kraftlinien, Handelswege und Touristenströme sind zu neuem Leben erweckt.

In den großen Appartmenthäusern in Strandnähe werden Ferienwohnungen zum Kauf angeboten, auf polnisch und deutsch. Im "Amber Baltic" unterhält die Stettiner Immobilienfirma "Rent Immobilien" eine Filiale, in der sie täglich zwischen 9 und 19 Uhr ihre Dienste anbietet. Ein Zeitungsartikel, der zu Werbezwecken am großen Bürofenster angebracht wurde, berichtet von zufriedenen Kunden aus Deutschland: Angestellten, Beamten, Arbeitern, Rentnern, von Leuten, für die ein vergleichbarer Immobilienbesitz in Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein unterschwinglich wäre, die sich hier aber eine 64 Quadratmeter große Zwei-Etagenwohnung für 70.000 Mark leisten können. Allerdings ziehen sie es vor, nur mit ihren Initialen genannt zu werden, denn ihre Käufe verstoßen gegen das polnische Gesetz.

Jedoch scheint es Schleichwege zu geben. "Rent Immobilien" verspricht in einem Hochglanzprospekt: "Das Endergebnis der Arbeit des gesamten Teams ist das Treffen der interessierten Parteien bei einem Notar zwecks Vertragsabschluß." Der smarte, junge Geschäftsführer posiert in Maßanzug und mit Handy vor der Tür und fiebert potentiellen Kunden förmlich entgegen. Er will keine "wiedergewonnenen Gebiete" verteidigen und sie auch nicht verschenken. Er will Geld verdienen. Geld weiß nichts von geschichtlichen Belastungen. Seine kalte Sachlichkeit hat in diesem Falle sogar etwas Heilsames.


 
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