© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Der Denker des ewigen Konkreten
Panajotis Kondylis und seine nachgelassene Sozialontologie
Peter D. Krause

Er war ein intellektueller Autokrat. Panajotis Kondylis schuf seitenstarke, fußnotenschwere Standardwerke und gehörte zugleich zu den schneidigen Essayisten. Kondylis, der Philosoph, von stupender Belesenheit, dessen harte Thesen, Zumutungen oft, überreiches Material dirigieren, hatte den kulturkritischen Feuilletonisten Kondylis zur Seite: Von Anmaßung frei waren beide Autoren nicht, und ganz miteinander zu vereinen nie. Kondylis vertrat die moribunde Gattung des Universalgelehrten. Er verband eine ungeheure Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte mit einer respektlosen analytischen Fähigkeit. Er gefiel sich in der Attitüde des Distanzhaltens – und betrieb doch oft das Gegenteil. Sein Stil war agonal, durch und durch polemisch, sein intellektueller Habitus obstinat.

Panajotis Kondylis ertrug die Phrase nicht. Der 1943 Geborene leistete sich den barocken Titel eines Privatgelehrten. Er entstammte einer Unternehmerfamilie aus Attika, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die Wehrmacht gekämpft hatte. Eine Begeisterung für das Denken der Deutschen hat das bei Kondylis nicht verhindert. In den siebziger Jahren studierte er in Heidelberg. Der deutschen Sprache blieb der polyglotte Grieche in seinen Büchern treu; sie kam seiner philosophischen Denkweise entgegen. Und gegen manchen intellektuellen Krampf hierzulande setzte er eine elitäre Unerbittlichkeit. Er war ein bedeutender und er war ein hemmungsfreier Erbe unserer geistigen Tradition. Kondylis lebte von seinem Familienvermögen halbjährlich wechselnd in Griechenland und in Heidelberg. Bevor er seine große Sozialontologie vollenden konnte, kam er bei einem Unglücksfall im Sommer 1998 ums Leben.

Unverbesserlich versuchte Kondylis, das Absolute theoretisch einzufangen. Er forderte stets begriffliche Klarheit und pflegte selbst, zumal in seinem letzten Werk, den Duktus des Unbestimmten. Er war auf eine mediterrane Weise souverän im Denken, zugleich zeigte er eine transalpine Sturheit im Belegen weniger Grundthesen: Auf klare Schemata rückte er die "konkrete heterogene Wirklichkeit" gern zurecht. Seine Vorbegriffe zwingen zur Entscheidung. Es gibt nicht einmal ein rhetorisches Entweder-Oder.

Kondylis’ zentrale Denkfigur heißt "Macht"

Sein erstes Buch, die Heidelberger Dissertation (1977), erhellt "Die Entstehung der Dialektik", in dem sie eine materialreiche Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802 lieferte. Kondylis wies damals gemeinhin anerkannte marxistische Muster barsch zurück, weil die "Geburtsstätte der dialektischen Strukturen im Metaphysischen" liege. In einem gemeißelten Deutsch, Selbstbeschränkung scheuend, schrieb er gegen den Gemeinplatz an, das ontologische Denken, das Fragen nach dem Sein wäre erledigt. Nie verstand er sich als ein bloßer Wissenssoziologe. Seine Begriffsbildung, auch in den historischen Studien, blieb philosophisch. Kondylis fragt nach dem "Wesen" sozialer Phänomene. Die Vorstellung von Geschichte als "Zick-Zack" werde begründet von einem Kontinuum, das zu beschreiben Kondylis sich bis zum Schluß bemühte.

Das Ideenwerk des Panajotis Kondylis hat etwas Erratisches. Die zentrale Denkfigur heißt "Macht". Das uralte, "unberechenbare Kampfspiel der geschichtlichen Wirkungsfaktoren" sieht Kondylis nicht als überwunden an, den Willen zur Erhaltung der Identität setzt er als eine Konstante menschlichen Daseins. "Wahrheit" gilt ihm als Mittel im Kampf um Macht, Werte wurzeln in nicht vollständig begründbaren "Entscheidungen": So ist es zu lesen in dem schlanken Buch "Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage" (1984). Als ebenfalls eigentlich machtversessen enthüllt er Strategien zur "Neutralisation und Zähmung" der Macht. Zu diesen zählt er Utopismus, Vergeistigung, ethische Anklage. Vorgehalten wurde dem "wertfreien Deskriptor", er verliere seinen eigenen Machtanspruch aus dem Blick. Von der Hand zu weisen ist diese Kritik nicht. Kondylis’ Distanz wähnte sich absolut.

Während der achtziger Jahre erscheinen in dichter Folge umfangreiche Darstellungen: 1981 "Die Aufklärung – im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus". Kondylis stellt die Aufklärung dar als "Wiedergewinnung der Sinnlichkeit" gegen die abendländische Metaphysik, liest diese Rehabilitation als eine der "wichtigsten weltanschaulichen Waffen" der Aufklärer im Kampf gegen die Theologie. Die gesamteuropäisch ausgreifende Studie "Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang" (1986) wiederum will ihren Gegenstand streng historisch auffassen. Konservativismus, das wäre der ständisch-korporative Widerstand gegen die Trennung von Staat und Gesellschaft im Absolutismus. Im Verschwinden der alteuropäischen Societas civilis erkennt der Autor den Bruch, der den modernen Geist der Machbarkeit freisetzte. Kondylis bindet den Konservativismus provokant an die vormoderne Epoche des Adels. "Alles, was sich danach noch konservativ nennt, ist besser mit altliberal u.ä. zu kennzeichnen."

1988 veröffentlicht Kondylis die "Theorie des Krieges", danach "Die neuzeitliche Metaphysikkritik" (1990). Er trägt die Geschichtlichen Grundbegriffe "Reaktion, Restauration" und "Würde" für das "Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland" bei. Er schreibt in den neunziger Jahren Aufsätze für Tageszeitungen, bevorzugt für die Frankfurter Allgemeine. Fragezeichen verbergen die Preisgabe der "deskriptiven Distanz" notdürftig. "Die Rache des Südens. Kommt die Epoche der Verteilungskämpfe?", "Was heißt schon westlich? Die Universalisierung der Technik macht noch lange keine Weltkultur", "Ohne Wahrheitsanspruch keine Toleranz", "Wege in die Ratlosigkeit. Die Informationsgesellschaft", "Der nächste Verrat der Intellektuellen kommt bestimmt", "Globale Mobilmachung. Konflikt der Kulturen oder Konflikte ohne Kultur?" lauten einige Titel. Kondylis’ Skepsis gegenüber den Verheißungen der Jetztzeit zeigt sich in der feuilletonistischen Polemik frei von Milde. Instrumentelle Rationalität akzeptiert er nicht als Berechenbarkeitsgarantie unter den "heiklen Umständen" des Pluralismus.

Das Buch "Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen" (1991) beschreibt eine "massendemokratische Revolution" im 20. Jahrhundert: Die Moderne, die bürgerliche Welt ordnete das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Eigennutz und Gemeinnutz, Kunstwerk und Stil noch harmonisch an. Ihre Ideologie war der Liberalismus. Die massendemokratischen Emanzipationen des 20. Jahrhunderts dagegen verstand Kondylis als Verwandlung von Kultur und Gesellschaft in eine Ansammlung gleichrangiger Elemente, in atomisierte Produzenten und Konsumenten etwa. Die Identitäten bürgerlicher Denkweise – Natur, Geschichte, Mensch – böten nun keinen Halt mehr. Übriggeblieben seien lose Elemente, die unter rein funktionellen Aspekten kombiniert werden könnten. Wenig angetan sah Kondylis die weltweite Durchsetzung einer uniformen Massenkultur.

Rechte hätten die Menschen nur als Bürger eines Staates, und allein Staaten könnten die künftigen Verteilungskämpfe politisch kontrollieren: Sonst drohe der Überlebenskampf von staatenlosen Individuen. Unpolitische Überbauten, eine Menschenrechtsrhetorik gar zum "Nennwert" zu nehmen, lehnte Kondylis ab. 1992 führte er diese Gedanken aus in "Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg". Er mochte nicht vom "Ende der Geschichte" sprechen, auch nicht in dem Sinne, daß die Massendemokratie die endgültige Form menschlichen Zusammenlebens sein werde. Er hielt Verhältnisse für denkbar, unter denn sich ganz andere Machtverhältnisse und Ideologien durchsetzen werden.

Die hierarchisch geordneten Kategorien, die Geringschätzung der Masse, das fehlende Vertrauen in die Perfektibilität des Menschen entfernten Kondylis weit vom Konsens der Nach-68er-Bundesrepublik. Zwar lehnte der Philosoph Kondylis eine Rückwendung in die Geschichte ab, so als sei der Mensch je besser oder glücklicher gewesen, konnte sich aber zugleich über die politische Kultur der Gegenwart ereifern. Er sah den Niedergang jener Kultur, die "humanistische Sorgen an die erste Stelle ihrer Prioritäten setzte". Wie erklärt sich deren Abgang von der historischen Bühne? Kondylis macht das – sozialphilosophisch – nicht klar. Und wie endet die Postmoderne? Kondylis nahm an, daß die Menschen sich auch zukünftig nicht wesentlich anders verhalten werden als vor zweihundert oder zwanzigtausend Jahren, und die Ähnlichkeit des Verhaltens beruhe auf Konstanten, "unter denen das Streben nach Selbsterhaltung durch Machtsteigerung den Ausschlag gibt". Der Bildungsbürger Kondylis, der die Phänomene der Massendemokratie einerseits mit Argwohn betrachtete, hat sie andererseits (philosophisch) als Faktum akzeptiert.

Der substanzlose Denkstil der Massengesellschaft

"Sozialontologie", das ist der Begriff für die Lehre von den nicht "hinterfragbaren" Bestimmungen des sozialen Seins. Eine solche Lehre muß eine Dimension beschreiben, auf der die zeitlosen Gegebenheiten sozialen Verhaltens von der menschlichen Urhorde bis zur Gegenwart, universalhistorisch und planetarisch geltend, einsichtig werden. Kondylis starb, bevor er sein Hauptwerk beenden konnte. Der Torso, der erste Band eines als Trilogie angelegten Werks "Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie" ist, gut 700 engbedruckte Seiten stark, herausgegeben von Falk Horst, im Akademie-Verlag Berlin erschienen.

Die Leitbegriffe des vorliegenden Bandes heißen Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Der Autor beginnt mit einer langen Betrachtung über "Sozialtheorie und Massendemokratische Ideologie". Die Sozialtheorien des 20. Jahrhunderts leisteten, meint er, keinen Beitrag zur Erkenntnis einer Tiefendimension, denn sie entsprächen dem substanzlosen Denkstil der Massengesellschaft. Kondylis setzt andere Prioritäten: die Anthropologie, die Geschichte, das Politische. Die gegenwärtige Verwischung der Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft laufe, so Kondylis zunächst, auf eine Abschwächung des Politischen hinaus. Doch auch innerhalb einer Weltgesellschaft werde das Problem des sozialen Zusammenhalts weiter bestehen und sogar eine "beispiellose Schärfe annehmen". Das "einzige, wofür die Weltgesellschaft an sich bürgen kann, ist die Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege".

Kondylis beschreibt die soziale "Tiefendimension" als ein offenes Feld. Mit stabilen Formen will es diese Lehre nicht zu tun haben. Darf sie dann noch Ontologie genannt werden? Die gegenwärtigen Sozialtheorien mögen "das Alter der (sozialen) Welt" negieren. Doch beschreiben sie die gegenwärtigen Phänomene falsch? Das massendemokratische Dasein ist, ontologisch gesehen, eine besondere Aktualisierungsform der sozialen "Substanz". Kondylis meint, die Komplexität des Sozialen mache ungeahnte Folgen kollektiven Handelns wahrscheinlich. Aber was ist an dieser Einsicht neu? Und was verhält sich dabei wider die sozialontischen Kräfte?

Kondylis bringt das Konkrete zwar kulturkritisch in Stellung, nimmt es aber schließlich zugunsten einer letzten Allgemeinheit philosophisch zurück. Als Ontologe mag sich Kondylis für bestimmte soziale Gruppen eigentlich nicht interessieren, also auch nicht für deren Untergang, denn er hat die "Gewißheit, an die Stelle von Gesellschaft werde wiederum Gesellschaft treten". Wie ist da Kulturkritik möglich? Kondylis schreibt, er wolle nicht "den Menschen" gegen die inhumane Anonymität von "Systemen" in Schutz nehmen, die ethische Persönlichkeit nicht vor "Herabwürdigung" durch den Ökonomismus retten. Mithin setzt er eine gewisse Dekadenz voraus. Wie substantiell darf diese genannt werden? Immerhin will Kondylis kein ethisch-normatives Ideal aufstellen, der Mensch sei stets "in ganzer existenzieller Fülle da", und die einzige Voraussetzung dafür liege in der Tatsache seines bloßen Vorhandenseins, nicht in einer bestimmten Lebensweise. Kondylis findet im Konkreten die tiefste Unverbindlichkeit.

Der zweite Teil des vorliegendes Bandes untersucht das Verhältnis von Sozialwissenschaft und Sozialontologie und erörtert das "Stolpern der Philosophen im Bereich des Sozialen". Kein Großer bleibt ungeschoren, Kondylis entdeckt laufend "logische Fehler" und überall ideologische Meinung. Seine eigene, "neutrale" Sozialontologie sondert er strikt von zeitverhafteter Soziologie, denn diese vermöge nicht, "Gesellschaft" in ein kategoriales Schema von universalhistorischer Geltung zu schließen. Will Kondylis eine Kategorientafel sozialer Wirkungsfaktoren ausarbeiten? Er redet unentwegt von der Offenheit der sozialen Dimension, von Kausalitäten ohne Gesetzmäßigkeit. Das sozialontische Sein sei bei weitem vielgestaltiger als alles, was die Sozialwissenschaften begrifflich fassen könnten. Er selbst versteht soziale Erscheinungen nicht als Emanationen eines reinen Substrats, sondern als vorläufige Kristallisationen auf einem sozialontischen Feld, "welches wie beweglicher Sand aussieht und sich nur unter Berücksichtigung mehrerer, in Form eines Spektrums ausgebreiteter Faktoren oder Kräfte umreißen läßt". Diese Kräfte kreuzen derart, daß mehrere Ausgänge des Geschehens möglich werden. Die sozialen Kräfte ergießen sich in ihrem spannungsreichen Aufeinandertreffen in immer neue Formen. Sie entfalten gleichzeitig ihre Wirkung – und diese Wirkung macht Geschichte und Gesellschaft aus: als Ordnung oder Unordnung, als Zivilisation oder Barbarei, gleichwohl als Gesellschaft.

Sozialontologie bietet "kein ausschließlich inhaltliches oder normatives Kriterium zur Betrachtung menschlicher Gesellschaft und Geschichte, sie liefert nur jene Grundlagenanalyse, aus der hervorgeht, warum die Aufstellung eines solchen Kriteriums unmöglich ist". Sie will keine Handlungsanweisungen formulieren. Die sozialontischen Möglichkeiten – aufbauende wie zerstörerische – werden vorgestellt als jederzeit in ihrer Gesamtheit präsent. Kondylis versucht sich an der begrifflichen Rekonstruktion des sozialontischen Feldes, also an der Bestimmung des Unbestimmbaren. Sozialontologie handelt von der "ursprünglichsten Dimension" der Gesellschaft. Kondylis nimmt drei ontische Aspekte des Sozialen an: die soziale Beziehung, das Politische, der Mensch. Diese drei sind aufeinander angewiesen. Nur der erste Band, "Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität", hat eine abgeschlossene Form gewonnen. Kondylis soll bis ins einzelne gehende Vorstellungen für die weiteren Bände gehabt haben. Das Politische war für den zweiten Band geplant, der dritte einer besonderen Anthropologie ("der Mensch") vorbehalten. Wie weit sich diese Bände aus den Vorarbeiten erschließen lassen, ist ungewiß.

Kondylis begreift Gesellschaft nicht lediglich als Summe ihrer Bestandteile. Ihren verbindlichen Rahmen erhält Gesellschaft erst durch das Politische: Politik bezieht sich auf die Gesellschaft als ein Ganzes. Sie errichtet einen verbindlichen Rahmen für alle sozialen Interaktionen. En passant führt Kondylis ein inhaltliches Moment ein: Sozialontologie müsse die Gründe nennen, warum sich das politische und soziale Spektrum stets zwischen den "Extremen von Freundschaft und Feindschaft" bewege. Das Freund-Feind-Verhältnis wird zu einer sozialontologischen Kategorie aufgebaut.

Der dritte Teil des Buches widmet sich den sozialen Beziehungen. Kondylis erläutert zuerst die formalen Kriterien "Nähe und Distanz" und bringt sie in Zusammenhang mit den zentralen Begriffen Macht und Identität. Sozialen Interaktionen eignet eine gleichbleibende "Disposition": Sie vollziehen sich zwischen den Polen Freundschaft (Nähe) und Feindschaft (Distanz). Der Mechanismus der sozialen Beziehungen bleibe immer der gleiche. Diesen Mechanismus beschreibt Kondylis im vierten Teil. Der "innere Mechanismus" besteht aus der Wahrnehmung des anderen als unberechenbares Subjekt sowie aus dem Sich-Hinein-Versetzen in die Lage des anderen. Im Fremden wird primär die Möglichkeit der Feindschaft erkannt, im Vertrauten die der Freundschaft. Ähnlich läuft der "äußere Mechanismus" ab: Kondylis verweist auf eine anthropologische Disposition des sozialen Handelns.

Selbsterhaltung bestimmt die Rationalität

Der fünfte und letzte Teil untersucht die Rationalität. Kondylis legt keinen fixen Begriff von Rationalität zugrunde. Es gebe unendliche Grade und Gestalten der Rationalität. Er will Rationalität nicht auf technische oder ethische Nützlichkeit festlegen. Die jeweilige Rationalität entspreche einer sozialen Disposition, die nicht durchschaubar sei, weshalb auch das "symbolisch-weltanschauliche Bekenntnis zur Rationalität keineswegs für (…) den rational wünschenswerten Ausgang kollektiven Handelns" bürge. Kondylis übergibt die Rationalität seiner unbequemen Anthropologie, und als Leitbegriffe nennt er: soziale Selbstbeherrschung, Abwägen von Zweck und Mitteln, Orientierung. Kondylis greift die These barsch an, wer unethisch handle, handle irrational. Rationalität vermische sich immer mit "Irrationalität", enthalte diese eigentlich. Die jeweilige Selbsterhaltung bestimmt, was als rational oder irrational gilt.

Die "Sozialontologie" des Panajotis Kondylis ist ein ungemein gedankenreiches, ein sperriges und nicht immer stringentes Werk. Kondylis verabschiedet sich von dem Diskurs ethischer Vergewisserung und jeder konstruktivistischen Ideologie. Doch liegt nur ein Fragment vor, und das Werk hat Schwächen, die einen Lektor vermissen lassen: ungestrafftes Material, gebetsmühlenartig wiederholte Grundthesen. Der hybride Anspruch auf Einzigartigkeit stört, wichtige Fragen im Nexus von"vornormativer" Sozialontologie und konkreter Gesellschaftskritik bleiben unbeantwortet. Unter welchen Bedingungen etwa wirken sozialontische Kräfte zerstörerisch? Panajotis Kondylis hält den Menschen – weil dieser in seinen Metamorphosen, ob als Humanist oder als Bestie, Mensch bleibe – für "unverwüstlich". Ist soviel metaphysischer Trost verdient?

 

Im Akademie-Verlag, Berlin, sind von Panajotis Kondylis erschienen: "Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg" (1992); "Montesquieu und der Geist der Gesetze" (1996); "Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie" (1999).


 
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