© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Mündige Bürger als Risiko
Parteienherrschaft statt Demokratie: Warum das deutsche Volk nicht abstimmen darf
Michael Wiesberg

Aus verschiedenen Gründen können die Reaktionen auf den Vorstoß des deutschen EU-Kommissars Günter Verheugen (SPD), der sich für einen Volksentscheid über die EU-Osterweiterung ausgesprochen hat, als Lehrstück für die mentale Verfassung der Berliner politischen Klasse gewertet werden. Außenminister Joschka Fischer behauptete, daß die Möglichkeit einer Volksbefragung in der deutschen Verfassung nicht vorgesehen sei. "Allein die Möglichkeit, daß Deutschland eine Volksbefragung über den Beitritt Polens zur EU abhält – das muß man sich einmal vorstellen", raunte Fischer vielsagend. In der Tat: Wer die Deutschen als "Risiko" einstuft, der kann und darf ihnen nicht auch noch die Möglichkeit einräumen, über zentrale Fragen der deutschen Politik zu entscheiden.

Daß Bündnisgrüne und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben, "auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einzuführen", interessiert Fischer offensichtlich nicht. Papier ist ja bekanntlich geduldig. Fischer liefert mit seinen Äußerungen ein weiteres beredtes Beispiel für seine habituelle Charakter- und Prinzipienlosigkeit, die der Journalist Christian Schmidt in seinem Buch "Wir sind die Wahnsinnigen" bis heute unübertroffen nachgezeichnet hat. Bezeichnenderweise erhielt Fischer für seine Verheugen-Belehrung von Frankreichs Außenminister Hubert Vedrine Beifall.

Dessen Antwort auf Verheugen sei, so Vedrine, "exzellent" gewesen. Außenminister Fischer steht mit seinem Unwillen, die Deutschen selber über zentrale Fragen der Politik entscheiden zu lassen, beileibe nicht allein da. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, der Weizsäcker-Zögling Friedbert Pflüger (CDU). Er bemüht die angeblich "schlimmen Erfahrungen der Weimarer Republik", die dagegen sprächen, auf "Bundesebene Volksentscheide durchzuführen". Darüber hinaus sieht er "negative Folgen" am Horizont aufziehen, würde es den Deutschen ermöglicht, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen: Womöglich könnte es, so Pflüger, Abstimmungen über die Todesstrafe oder über die Zahl der Asylbewerber geben. In der Tat: Wenn den Deutschen erlaubt würde, demnächst über die Zahl der Asylbewerber abzustimmen, dann könnte Deutschland in eine Richtung "driften", die soignierte Bedenkenträger vom Schlage eines Friedbert Pflüger fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Um diese Möglichkeit erst gar nicht diskutabel erscheinen zu lassen, schreckt Pflüger auch vor offensichtlichen Unwahrheiten nicht zurück. Getreu dem Motto: In einem "geschichtslosen Land" gewinnt derjenige die Zukunft, der "die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet" (Michael Stürmer). Die Deutungen von Pflüger und Fischer sind offensichtliche Geschichtsklitterungen, die nur einem Zweck dienen: den Souverän, das Volk, weiter unmündig zu halten.

Die Geschichtslegende von den angeblich "schlimmen Erfahrungen" der Weimarer Republik mit Volksbegehren stammt von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten. Dieser warnte als Mitglied des Parlamentarischen Rates davor, "die künftige Demokratie mit dieser Geschichte zu belasten". Das Volksbegehren sei "in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen". Tatsächlich gab es in der Weimarer Republik nur zwei Volksbegehren. Beide, das eine das Thema "Fürstenenteignung", das andere den Young-Plan betreffend, fanden nicht die erforderliche Zustimmung. Zum Scheitern der Weimarer Republik trug also der Volksentscheid nichts bei. Deshalb konnte der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza in seinem Buch "Der Popularvorbehalt" (1981) feststellen: "Weimar ist, wenn wir einen Verantwortlichen in der Rechtsordnung suchen, sicher eher am Parlamentarismus zerbrochen als an der direkten Demokratie. Hat uns das gehindert, wieder mit dem parlamentarischen System anzufangen? Zu Recht nicht."

Es waren also die Volksvertreter, die mit ihrer Zustimmung zum "Ermächtigungsgesetz" die Diktatur legalisierten. Zu denen, die Hitler ihre Stimme gaben, gehörte im übrigen auch Theodor Heuss. Daß Diese "Erfahrung" von Weimar nicht in das Bild eines Friedbert Pflüger oder Joschka Fischer paßt, versteht sich von selbst.

Wenn Außenminister Fischer behauptet, eine Volksbefragung sei in der deutschen Verfassung "nicht vorgesehen", dann kennt er offensichtlich nicht den Inhalt von Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz, in dem davon die Rede ist, daß die Staatsgewalt vom Volke "in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe ... ausgeübt wird". Dieser Artikel besagt also, daß das Prinzip der Volkssouveränität auf dreifache Art und Weise ausgeübt wird: einmal mittels "Wahlen", zum zweiten mittels "Abstimmungen" und zum dritten durch "besondere Organe". Das Demokratieprinzip kennt also zwei Erscheinungsformen: die repräsentative und die direktdemokratische.

Das Grundgesetz legt also vor dem Hintergrund der Idee der Volkssouveränität die Fundamente gleichwertig für beide Formen des demokratischen Prinzips. Die in Wahlen ausgeübte Staatsgewalt konstituiert die "besonderen Organe" des repräsentativen Systems; in Abstimmungen übt das Volk die Staatsgewalt auf dem direkt-demokratischen Weg aus.

Insbesondere die Grünen hatten sich in ihrer Anfangszeit diese Sicht der Dinge zu eigen gemacht, was zum Beispiel deren Forderung nach Durchführung einer Volksbefragung im Zusammenhang mit der Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen im Herbst 1983 zeigt. Der entsprechende Gesetzentwurf der Grünen wurde am 11. November 1983 im Bundestag debattiert. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) erklärte, der Gesetzentwurf sei "verfassungswidrig". Das Grundgesetz "gehe vom Prinzip der repräsentativen Demokratie aus". Es sei "ausgesprochen antiplebiszitär" ausgestaltet. Genau diese Auffassung vertritt Fischer heute. Und schon gar nicht wird Fischer, ganz "europäischer Staatsmann", dem Demokratieverständis seines ehemaligen Fraktionskollegen Gerald Häfner folgen können, der im Mai 1988 im Bundestag zu Protokoll gab: "Demokratie heißt, daß nicht mehr einzelne oder Gruppen dekretieren, was geschehen soll, sondern daß das Volk selber in allen wesentlichen Fragen – jedenfalls der Möglichkeit nach – entscheiden kann."

Die staatsrechtliche Konstitution der deutschen Republik bedeutet nach dem SPD-Politiker und Völkerrechtler Carlo Schmid (2. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 8. Sept. 1948) das "Ins-Leben-Treten des Volkes als politischer Schicksalsträger aus eigenem Willen". Nichts liegt den Politikern in Berlin ferner, die vorgeben, im deutschen Namen Politik zu machen. Deshalb greift es nicht zu weit, wenn man mit dem Verwaltungswissenschaftler Hans-Herbert von Arnim feststellt: Das Dilemma der deutschen Demokratie besteht darin, daß sie keine ist.


 
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