© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
"Staatsangehörigkeit statt Nation"
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Christoph Zöpel, über sein Verhältnis zur Nation und die Zukunft Deutschlands in Europa
Jörg Fischer

Herr Staatsminister, vergangenes Jahr wurden Sie Nachfolger von Günter Verheugen als Staatsminister im Auswärtigen Amt. Sie vertreten daher das deutsche Volk seit einem Jahr im Ausland. Trotzdem "mögen" Sie, laut "Spiegel", "die Deutschen" nicht – warum nicht?

Zöpel: Im Spiegel war eine aus dem Zusammenhang gerissene verkürzte Äußerung zu lesen, die man so verstehen kann, wie Sie fragen. Aber lassen Sie mich als erstes sagen: Ich vertrete die Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, mit ausgesprochenem Stolz und Engagement. Nun zu dem Zusammenhang: Ich wurde in der heute zu Polen gehörenden Stadt Gleiwitz geboren. Meine Familie mütterlicherseits hat häufig den Wechsel zwischen deutscher und polnischer Nationalität erlebt. In einer Debatte darüber, wie sich die Nationen innerhalb der Europäischen Union entwickelten, macht es durchaus Sinn, darauf hinzuweisen, daß auch die Vielvölkerstaatstradition, von der Schlesien in starkem Maße betroffen war, hier mit eingebracht wird. Und was meine Familie und Gleiwitz betrifft, wird man nicht umhin können festzustellen, daß ihre Geschichte nach 1945 auch Ergebnisse eines von Deutschland verschuldeten Krieges sind. Und ebenso wie wegen anderer Verbrechen im Zusammenhang des Faschismus kann man dazu über Deutschland nichts Gutes sagen.

Sie sind zwar Gleiwitz geboren, aber im Westen Deutschlands aufgewachsen. Trotzdem sind Sie, wie Sie sagen, sich unsicher, ob Sie Pole oder Deutscher sind. Nicht nur bei Hilde Schramm, der Tochter Albert Speers und "Grünen-Protagonistin" der ersten Stunde, klingen solche national-masochistischen Aussagen stets etwas nach "nachgeholtem Widerstand", der familiäre Belastungen kompensieren soll. Wie steht es da mit der oberschlesischen Familie Zöpel?

Zöpel: Lassen Sie mich zunächst bemerken, ich halte von dem Begriff "National-Masochismus" überhaupt nichts, und schon vor allem nicht im Zusammenhang mit dem deutschen Verständnis von Nation. Wenn man die Zugehörigkeit zu einem Staat im französischen Sinne als "Nationalität" begreift, dann bin ich sehr überzeugter Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Sie für die Menschen, etwa aus der Mehr-Völker-Tradition Schlesiens, den deutschen, an Volks- Abstammung orientierten, Begriff "Nationalität" gebrauchen, ist er für diese Menschen aus dem früheren Osten Preußen nicht brauchbar. Das hat nichts mit "Bewältigung" zu tun, sondern mit ganz nüchterner Analyse der Geschichte: Es gab in Preußen – auch nach der Reichsgründung 1871 – Menschen mit Abstammungen aus unterschiedlichen und gemischten Staatstraditionen. Es macht Sinn, in Europa dieses zu sagen. Da ist nichts zu bewältigen, was mit "National-Masochismus" in Verbindung gebracht werden könnte.

Ihre Ablehnung des "Nationalen" gründet sich also nicht auf familiäre Verstrickungen in der NS-Zeit und ist keine nachträgliche "Bewältigung"?

Zöpel: Weder mein Vater noch meine Mutter hatten irgendwelche Verstrickungen in der NS-Zeit. Beide waren ganz normale Studienräte an Schulen in Schlesien.

Sie erklärten kürzlich, es gebe eigentlich keine Deutschen, sondern nur Bayern, Preußen oder Westfalen. Bedeutet das zu Ende gedacht: Besser sind siebzehn kleine Österreichs?

Zöpel: Ich halte diese Identitäten genauso für kulturelle Identitäten wie Franzose oder Deutscher oder Korse oder Engländer oder Brite. Die kulturellen Identitäten sind fast für jeden Menschen mehrfache. Sprache ist auch kein Abgrenzungsmerkmal für einen Staat. Es wird Deutsch gesprochen in Deutschland, Österreich, in der Schweiz, in Belgien. Von daher ist Deutsch allein nicht brauchbar, um Identitäten zu belegen. Ich glaube, die Bayern werden mir da sicherlich zustimmen. Es steht nicht im Gegensatz dazu, daß man dann jeweils – auch durch Entscheidung oder durch Geburt – Staatsbürger eines konkreten Staates ist. In der Geschichte war die deutsche Sprache immer Mehrheitssprache in mehr als einem Staat. Portugiesisch wird hingegen in Europa nicht nur in Portugal gesprochen, aber es ist sonst nirgends eine Mehrheitssprache. Deutsch ist derzeit Mehrheitssprache in drei Staaten. Es war – als es unseligerweise die DDR gab – Mehrheitssprache in vier Staaten. Die Bindung des Wortes "deutsch" an einen einzigen Staat ist schlichtweg auch in der Gegenwart nicht erlaubt. Sind die Österreicher Deutsche, weil sie Deutsch sprechen? Oder Österreicher, weil sie sich österreichisch nennen? Oder ist "Österreichisch" nur deutsche Mundart?

Am 3. Oktober feiern wir den zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands. Haben Sie sich 1989 vorstellen können, einmal in Berlin als Staatsminister zu amtieren, oder war das Thema "Wiedervereinigung" auch für Sie eher eine "Lebenslüge des deutschen Volkes"?

Zöpel: Es war keine Lebenslüge, es war eine vom Krieg erzwungene Realität. Ich begreife die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland als den schnellsten Weg für 16 Millionen Menschen, die in der DDR lebten, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse herzustellen, welche die Menschen der Bundesrepublik seit 1949 hatten. Das rechtfertigt – bei allen nur denkbaren anderen historischen Abwägungen – die Entscheidung, die 16 Millionen Menschen der ehemaligen DDR zu Bürgern der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Insgesamt ist diese deutsche Vereinigung ein Teilschritt zu einem europäischen Staatswesen, in dem alle Europäer, die dazu gehören, gleiche europäische Bürgerrechte haben.

Der Reichstag in Berlin trägt die Inschrift "Dem Deutschen Volke". Ist das für Sie noch zeitgemäß oder lediglich allein dem Denkmalschutz geschuldet?

Zöpel: Es stand schon vor 1933 da. Es ist heute insofern mißverständlich, etwa wenn man sich mit der Frage beschäftigt, was Österreicher sind. Ich halte die Inschrift "Dem Deutschen Volke" für keinen Spruch, den man sinnvollerweise aus dem heutigen Verständnis Europas und Deutschlands irgendwo neu hinschreiben müßte. Es wäre aber ein völlig falsches Geschichtsbewußtsein, eine solche Inschrift, die in einer bestimmten historischen Zeit gewählt wurde, heute zu beseitigen.

Die Sanktionen der EU-14 gegen Österreich wurden jetzt endlich beendet. Vertreter der Bundesregierung argumentierten bis vor kurzem immer, sie könnten sich wegen der "deutschen Vergangenheit" nicht für Österreich engagieren. Die Oppositionsparteien hingegen waren immer gegen die Sanktionen – und haben letztlich recht behalten. Wann gibt es den ersten Staatsbesuch aus Berlin bei Bundeskanzler Schüssel?

Zöpel: Darüber sind noch keine Entscheidungen getroffen. Das steht auch nicht an. Die Frage des Verhaltens der 14 anderen EU-Staaten gegenüber Österreich ist eine schwierige Frage. Ich bin überzeugt, jede deutsche Regierung, auch eine Regierung Kohl, hätte sich in dieser Frage nicht anders verhalten als der konservative französische Staatspräsident. Alle anderen Debatten wären für Deutschland sehr problematisch gewesen. Die Auseinandersetzung mit einer Partei, die – wie auch die "drei Weisen" geschrieben haben – zu Ausländerfragen Positionen hat, die mit den gemeinsamen europäischen Werten nicht mehr vereinbar sind, war und ist notwendig. Allerdings: Mit den Mitteln der Diplomatie kann man sich nur recht unzulänglich mit einer einzelnen Partei innerhalb Europas auseinandersetzen.

Der bayerische Ministerpräsident Stoiber hat allerdings schon im Oktober 1999, also kurz nach den Wahlen, Bundeskanzler Schüssel eine Koalition mit der FPÖ ohne Jörg Haider als Minister empfohlen. So ist es ja schließlich auch gekommen. Das widerspricht doch Ihrer These über die EU-Sanktionen?

Zöpel: Ich kenne seit Jahrzehnten die Handlungsmöglichkeiten der Ministerpräsidenten deutscher Länder, und ich kenne seit einem Jahr ganz gut die Mechanismen der Willensbildung in der EU. Ein konservativer französischer Staatspräsident, ein konservativer Ministerpräsident von Spanien, eine liberal geführte belgische Regierung preschen bei den Sanktionen vor. Ich halte das deutlich aufrecht: Jeder deutsche Bundeskanzler hätte sich wie diese drei Regierungen verhalten.

Auch ein Kanzler Stoiber?

Zöpel: Ich vermute, auch ein Kanzler Stoiber. Wenn es ihn denn je gäbe, wird er es mit den gleichen Schwierigkeiten zu tun haben wie einst Franz Josef Strauß.

Wie werden Sie sich nun bei einem möglichen "Rechtsruck" in Dänemark, Italien oder Norwegen verhalten?

Zöpel: Norwegen gehört nicht zur Europäischen Union – da stellt sich die Frage so nicht. Ich glaube die Erfahrungen im Umgang mit der FPÖ, der Bericht der "Weisen" und ihre Vorschläge sollten Anlaß sein, darüber nachzudenken, wie eine künftig politische Auseinandersetzung innerhalb der EU auszusehen hat, sollten – ich hoffe es nicht – deutlich fremdenfeindliche Parteien in Regierungsverantwortung kommen. Ich würde das Wort "Rechts" nicht verwenden, weil beispielsweise eine national-konservative Partei nicht unbedingt anti-europäisch und fremdenfeindlich sein muß. Aber für den Fall der Fälle haben wir aus dem Fall Haider genug gelernt, um uns mit einer solchen Regierung deutlich genug auseinanderzusetzen. Wir sollten dann so prüfen, wie es die "drei Weisen" getan haben.

Italien hat ein Mehrheitswahlrecht, dort brauchen die Partner jede Stimme, auch die Stimmen der Lega Nord und der "Mussolini-Nostalgiker" vom Movimento Sociale Fiamma Tricolore von Pino Rauti. Sollen bei einem Sieg von Berlusconis "Polo della Libertá" dann "Weise" nach Rom?

Zöpel: Im Augenblick eine theoretische Frage. Die Wahlauseinandersetzung in Italien wird auch sehr stark mitgeprägt sein, von der Frage, wie akzeptabel eine italienische Regierung innerhalb der Europäischen Union ist. Die Italiener gehören bei allen Befragungen zu den engagiertesten Befürwortern der EU, und ich bin recht sicher, daß das italienische Wahlergebnis eines sein dürfte, das eine Koalition zustande bringt, in der sich dieses Problem so nicht stellt.

Sie betonten die regionalen Identitäten. Die auszuleben ist in der Bretagne, in Korsika oder dem Baskenland von Konflikten begleitet. Viel größer wird die Problematik, wenn die EU erweitert wird. Die Slowakei etwa hat eine sehr starke ungarische Minderheit. Wie kann da eine Lösung aussehen?

Zöpel: Es wird innerhalb der jetzigen und der erweiterten EU aus vielen historischen Gründen Mitgliedsstaaten mit einer stark föderativen Struktur geben müssen. Das derzeitige Deutschland ist unter anderem liebenswert, weil es etwa, weltweit vorbildlich, der sorbischen und dänischen Minderheit besondere Rechte gewährt. Das kann ein Vorbild sein.

Klingt da Kritik an Frankreich an?

Zöpel: Der korsische wie der baskische Widerstand ist mit Terrorismus verbunden. Das ist völlig inakzeptabel. Der Haupterfolg der EU ist ja die Tatsache, daß es keine Kriege mehr in Europa und zwischen Europäern gibt. Aber in dem Moment, wo die Nation nicht mehr gebraucht wird, um äußere Feinde zu bekämpfen, sondern die Nationalität etwas ist, was sich im Ausleben der eigenen kulturellen Identität äußert, stellen sich neue Fragen: Wie können sprachliche Minderheiten in jedem europäischen Land, und damit auch in Frankreich, ihre Identität ausleben? Man wird Frankreich dabei unterstützen müssen, Wege zu finden, den Terrorismus zu bekämpfen. Aber auch eine Diskussion über die kulturellen Rechte der französischen Staatsbürger, die sich nicht im engsten Sinne als Franzosen sehen, ist nötig.

Im vergangenen Jahr haben Sie in einem Deutschlandfunk-Interview erklärt: "Es kann keine Konfliktlösung und auch keine prozedurale Politik sein, über Monate hin Bomben zu werfen, die dann auch hin und wieder die Zivilbevölkerung treffen." Das hat die Nato allerdings in Rest-Jugoslawien gemacht: mit Zustimmung der SPD. Nun sind wieder Wahlen in dem Balkanstaat, und die Ressentiments gegen den "Westen" sind seit den Nato-Angriffen massiv gewachsen. Vojislav Kostunica, aussichtsreicher Oppositionskandidat gegen Milosevic, kündigte an, unter seiner Präsidentschaft werde es keine Zusammenarbeit mit den Nato-Staaten geben, die an der "verbrecherischen Aggression" gegen Serbien beteiligt gewesen seien. Mehr noch: Sollten die Politiker, die der Nato-Militäraktion zustimmten, ihren Fuß auf serbischen Boden setzen, werde die serbische Polizei sie als "Kriegsverbrecher" verhaften. Würden Sie vor diesem Hintergrund heute trotzdem wieder einem Angriff auf Jugoslawien zustimmen?

Zöpel: Mein Hinweis auf die friedenstiftende Funktion der EU hat sich auf die Verhältnisse zwischen ihren Mitgliedern bezogen. Die Funktion der EU liegt darin, Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen England und Deutschland oder zwischen Spanien und Frankreich unmöglich zu machen. Das ist auch der Hauptgrund für die Erweiterung der Europäischen Union um Staaten, die aus deutscher Sicht östlich, aus griechischer Sicht übrigens nordwestlich sind. Nun zum Kosovo-Konflikt: Diese militärische Aktion war die schwierige Notwendigkeit in einer unausweichlich gewordenen Situation. Auf dem Verhandlungswege war es nicht mehr zu erreichen, daß im Kosovo andere Bevölkerungsteile – überwiegend Albaner – nicht mehr verfolgt werden. Und das hatte – nach einer schwierigen Abwägung – dann einen kriegerischen Einsatz wohl unabweisbar gemacht. Es waren – gemessen an Opfern anderer Kriege – verhältnismäßige Mittel. Es ist ein schwieriger Prozeß, daß jetzt – in der Kombination mit Sanktionen von außen und demokratischen Wahlen – Serbien eine Regierung bekommt, an der Milosevic und seine Anhänger nicht mehr beteiligt sind. Das wird bei manchen der Beteiligten noch Probleme aufwerfen. Ich bin aber optimistisch, daß wir in zehn Jahren eine serbische Regierung haben werden, die sich auf dem Weg in die EU begibt und auch mit Staaten zusammenarbeitet, die der Nato angehören.

Linke Grüne, die PDS und die deutschen Rechtsparteien waren gegen den Nato-Angriff auf Serbien, auch Helmut Schmidt oder Alfred Dregger warnten davor. Wenn man heute sieht, welchen Haß das in der serbischen Bevölkerung auf den Westen an sich ausgelöst hat, sagen Sie trotzdem, diese Entscheidung war richtig?

Zöpel: Ich glaube nicht, daß das, was Sie jetzt als Haß in Serbien bezeichnen, eine neue Dimension der politischen Wirklichkeit Serbiens der letzten zehn Jahren ist. Mit der Machtübernahme durch Milosevic ist Haß gegen andere ein Hauptelement der Politik in Serbien geworden. Das hat zu den kriegerischen Auseinandersetzungen Serbiens mit Kroatien – für einige Wochen auch mit Slowenien –, zu den Gewalttätigkeiten in Bosnien-Herzegowina geführt. Wenn Milosevic und seine Anhänger nicht mehr da sind, wird auch die Komponente des Hasses in dieser Weise aus der serbischen Politik verschwinden. Genauso, wie die Komponente des Hasses aus der kroatischen Politik verschwunden ist, nachdem Tudjman dort abgewählt wurde.

Was halten Sie von der Forderung, Deutschland habe jetzt einen Anspruch auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat?

Zöpel: Die derzeitige Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats ist historisch entstanden. Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist es für einen neu strukturierten Sicherheitsrat – der mehr Mitglieder hat – eine Frage der Funktionalität der Weltordnung, daß Deutschland dort einen Sitz hat.

 

Dr. Christoph Zöpel geboren 1943 in Gleiwitz/Oberschlesien, ist Staatsminister im Auswärtigen Amt. Nach dem Abitur 1962 in Minden/Westfalen studierte er bis 1969 Wirtschaft, Philosophie und Jura in Berlin und Bochum. 1964 wurde er Mitglied der SPD. Von 1972 bis 1990 saß er im Landtag von Nordrhein-Westfalen. 1978 wurde er dort Minister für Bundesangelegenheiten, 1980 für Landes- und Stadtentwicklung. 1985 bekam er auch die Zuständigkeit für Wohnen und Verkehr.

Seit 1990 ist er Mitglied des Bundestages und war bis 1999 für die SPD im Auswärtigen Ausschuß. Seit 1997 ist er Vizepräsident des Nahostkomitees der Sozialistischen Internationale. 1989 initiierte er ein Preußen-Museum im westfälischen Münster, das 1999 eröffnet wurde.

 

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