© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
"Netz der Angst"
Opfer des Stalinismus: Annerose Matz-Donath schrieb das erste Buch über deutsche Frauen in sowjetischen Kerkern
Jörg Fischer

Frau Matz-Donath, Sie wurden 1948 vom NKWD verhaftet und verschwanden 12 Jahre hinter Gittern. Wieso haben Sie sich nach fast einem halben Jahrhundert dazu entschlossen, darüber zu schreiben?

Matz-Donath: Da haben Sie zwei Fragen in einer gestellt: Warum erst jetzt und warum überhaupt? Schon gleich nach meiner Entlassung, 1960, habe ich mit dem Schreiben begonnen, einen biographischen Text, aus der noch frischen Erinnerung. Doch da machte ich zuerste die Erfahrung, daß ein nobody ohne jede Beziehung kaum Chancen hat, mit einem solchen Thema gedruckt zu werden. Und dann war da noch ein anderes Moment: Als Stimmung kündigte sich nämlich damals schon an, was 1968 zu einem realen politischen Faktor wurde. Alles, was in der DDR geschah oder je geschehen sein mochte, schien in manchen der meinungsbildenden Kreise schon damals viel weniger gewichtig als das eigene Unbehagen an der Bundesrepublik. Dagegen anzukämpfen und zugleich wieder eine eigene Existenz aufzubauen – das hätte größerer Kräfte bedurft, als ich sie, nach zwölf Jahren Haft gesundheitlich zermürbt, hätte aufbringen können.

Als ich bald nach der Wiedervereinigung Sachsenhausen besuchen konnte, hatte ich zwei Schlüsselerlebnisse. In der Gedenkstätte dort war nun ein Ausstellungsraum für uns, die SMTer – die von Sowjetischen Militär-Tribunalen Verurteilten – eingerichtet worden. Eine große Tafel informierte unter anderem über den Weg der – ich zitiere: "Strafgefangenen" von Sachsenhausen nach Hoheneck und Bautzen in DDR-Verwahrung. Statt politisch Verfolgter "Strafgefangene"? Schreibt man das ohne die Absicht, negative Assoziationen zu wecken? Nicht einmal die Russen, die uns verurteilt hatten, nannten uns jemals so! Ich habe mich gegen diese beleidigende Verfälschung sogleich lauthals verwahrt. Doch ein Vertreter der Leitung damals verteidigte den Text vehement. Schließlich seien wir doch von Gerichten verurteilt, also "Strafgefangene"! Der Vorfall blieb ein Stachel, der mich immer schmerzte.

Vor einigen Jahren hatte ich dann am gleichen Ort vor größerer Zuhörerschaft ein Streitgespräch mit dem jetzigen Gedenkstättenleiter, Herrn Morsch. Es ging um eine ähnlich unangemessene Darstellung, wie ich sie bei einer Führung durch das Gelände hatte hören müssen. Das Ende vom Lied: Wer ein Amt hat, fühlt sich leicht auch im Besitz der Definitionsgewalt. Beide Erlebnisse bestimmten mich, nach fast 50 Jahren das Thema doch noch in Angriff zu nehmen, wenn auch nun in veränderter Form – als Darstellung eines Gruppenschicksal, das zugleich ein untilgbarer Teil der deutschen Geschichte ist.

Was waren die Gründe, die damals, in der Sowjetischen Besatzungszone, zu Verhaftungen führten?

Matz-Donath: Die Gründe? Die hören sich ganz fürchterlich an. Spionage (das betraf 48 Prozent der verurteilten Frauen, die sich heute Hoheneckerinnen nennen), Sabotage, antisowjetische Agitation. Untergrundarbeit, um nur die wichtigsten zu nennen. So lauteten jdenfalls die Urteilsbegründungen. Die Betroffenen – ich habe in einer früheren Studie dazu aus den Akten die Daten der Frauen zusammengetragen: die jüngsten waren bei Kriegsende elf Jahre alt gewesen, die ältesten zum gleichen Datum, 1945, 64 Jahre alt. Und die soziale Zusammensetzung der knapp 1.300? Etwas weniger als 300 waren Arbeiterinnen in Industrie und Landwirtschaft gewesen. Ebenso hoch war der Anteil von Frauen aus dem mittleren Dienst von Bahn, Post und allgemeiner Verwaltung, u.a. Stenotypistinnen, Telefonistinnen und Sekretärinnen. Dazu viele Schneiderinnen, Verkäuferinnen, Lehrerinnen, medizinische Assstentinnen, Hausfrauen und ähnliche Berufe aus. Die Vernehmer haben das ja alles selber notiert. Sie konnten gar nicht übersehen, wen die da vor sich hatten: überwiegend harmlose Mädchen und Frauen, nur wenige Widerständlerinnen. Aber das war auch gar nicht der Punkt. Im Grunde ging es ja darum, alle Gebiete im Machtbereich der Roten Armee völlig zu sowjetisieren. Das hatte Stalin schon Jahre vor seinem Sieg als sein Kriegsziel erklärt. Daß die besetzten Völker darüber ganz anders dachten – nun, schon in Rußland hatten Verhaftungen sich als probates Mittel erwiesen, um Menschen politisch gefügig zu machen. So spannte sich bald auch ein Netz der Angst über das ganze eroberte Land. Es hat seine guten Gründe, daß man in Moskau die SMTer jetzt rehabilitiert.

Was erwartet den Leser, der Ihr Buch in die Hand nimmt? Und woher nahmen Sie das verarbeitete Material?

Matz-Donath: In einer einzigen Biographie ist das nicht dazustellen, was ich vermitteln will. Es geht ja nicht nur um privates Unglück und Leid, sondern um ein perfides Spiel um die Macht, das lebendige Menschen ins Fleisch schnitt. Deshalb habe ich sowjetische und DDR-Akten zu Rate gezogen, vor allem aber rund 130 Tonband-Interviews mit Kameradinnen geführt. Die ausgeschriebenen Protokolle umfassen mehr als zehntausend Seiten – Erlebnisberichte, von denen jeder für viele spricht. Diese Originalizitate sind eingebettet in Informationen über das Leben damals in- und außerhalb der Haft. So entstand ein lebendiges Zeitbild, wie es in dieser Form bisher kein anderes gibt. Und ich möchte, obwohl ich nüchternes Wissen vermittle, doch unmittelbar in der Sprache des Herzens zu den Herzen der Menschen sprechen. Ja, ich scheue mich nicht, ganz klar zu sagen, das ich das will.

Sie haben bisher noch kein Wort darüber verloren, warum Sie selber verhaftet wurden.

Matz-Donath: Das zuerklären, ist einen schwierige Sache. Denn warum ich verhaftet wurde, hat nichts damit zu tun, warum die Russen mich hätten verhaften mögen, wenn sie es je erfahren hätten. Um es kurz zu machen: Als LDP-Journalistin gehörte ich in Halle zu den aktiven Kräften, die versuchten, die Sowjetisierung der SBZ entgegenzuwirken, wenigstens bis zu der Deutschlandkonferenz, die uns die Alliierten in Potsdam 1945 versprochen hatten. Die Besatzungsgebiete waren im Prinzip ja als pragmatisches Provisorium gedacht.Doch diese Aktivitäten kamen den Russen gar nicht zu Ohren. Aber ein LDP-Parteifreund aus dem Landesvorstand hatte sich im Sommer 1947 zu einem seiner Bekannten sehr positiv über meine Haltung geäußert. Was ich nicht wußte – ich habe das erst aus russischen Akten erfahren – die beiden gehörten zu einem Widerstandskreis der Ost-CDU. Monate später verschwand mein Parteifreund. Verhaftet. Sein erwähnter Bekannter hatte ihn nachgezogen.

Und was hatte das mit Ihnen zu tun?

Matz-Donath: Das NKWD hatte viele Methoden, mit Gefangenen umzugehen. Manchmal regierte brutalste Gewalt. Manchmal aber versprachen die Vernehmer ein mildes Urteil, wenn einer ihnen nur jeden "Gegner", sogar jeden "Andersdenkenden" verriet. Doch sein-mein LDP-Freund, der wisse noch eine Journalistin ... Dieser, befragt, nannte meinen Namen. Notgedrungen. Ich achte ihn trotzdem bis heute. Denn unter den Bedingungen damals in sowjetischer Haft – nein, einfach schweigen konnte man da nicht. Wer heute anderes erzählt, den betrügt die Erinnerung. Man hat mir zum Beispiel angedroht, man würde mich auf einen heißen Ofen setzen, bis ich spräche – eine, wie ich heute weiß, in Sowjetrußland gebräuchliche Methode. Dann inszenierte man einigen Lärm, daß ich glauben mußte, der Ofen würde schon angeheizt. Wer bliebe auf einem heißen Ofen wohl stumm? Aber es gibt Tricks – ich habe den meinen gefunden. Es hatte einmal einen Spionagefilm gegeben. Die goldene Spinne. Den habe ich einfach nacherzählt. Ein wenig modifiziert natürlich. Mit einer deutschen Friedensgesellschaft in Frankfurt hätte ich korrespondiert. Beweise? Keine. Ja, daß ich nicht wieder freikommen würde, war ohnehin klar. So brauchte ich aber mein Gewissen nicht mit Verrat zu belasten.

Kam es während der Verhöre zu Gewalttätigkeiten gegen Sie?

Matz-Donath: Ich wurde zum Beispiel einmal mit einem Gummiknüppel geschlagen, daß ich ohnmächtig wurde und einige Zähne brachen. Frauen wurden übrigens sehr viel seltener und nicht so hart körperlich gefoltert wie Männer. Aber Todesurteile – für Nichts! – wurden auch an jungen Mädchen vollstreckt. Ein Fall ist im Buch ausführlich geschildert.

Was hat Sie am meisten gequält?

Matz-Donath: Der ständige Schlafentzug. Tagsüber durfte man nicht schlafen und nachts wurde man zum Verhör geholt. Und dann die Angst, was in den Vernehmungen noch passieren könnte. Angst einjagen – ja, das verstanden die Vernehmer sogar ohne Tätlichkeiten. Eine junge Mutter, das Baby neun Monate alt, nennt dies ihr schlimmstes Erlebnis: "Sie ließen ein Kind nebenan schreien. Heute glaube ich, daß es ein Russenkind war, doch damals sagten sie mir, es wäre meines und es werde jetzt nach Rußland gebracht. Eine Spionin brauche kein Kind!" Oder wie fühlt man sich, wenn man einen Körper über den Zelleneingang schleifen hört – oder wenn unter einer Tür im Vernehmungstrakt eine dünne Blutspur nach außen dringt? Eine andere junge Frau erlebte dies: Man brachte sie in den Keller in eine Karzerzelle. Bis zu den Knien war die zugemauert. Wasser drin bis zum Rand und Ratten schwammen drin rum. "Nackt ausziehen!" fordert der Posten. "Hinein!" Da kommen die Ratten auch schon auf sie zu. "Die fressen mich ja tot!" schreit sie auf und – da packt sie der Posten um die Hüfte, zieht sie zurück und flüstert: "Nix sagen, wenn Du wieder zum Verhör kommst oben, nix sagen! Du warst drinne!" Ja, es gab wirklich auch Posten, die hatten ein Herz. Im Buch werden einige solcher Fälle geschildert. Es war das System, das schreckliche kommunistische System, das andere zu Unmenschen machte. Schreckliches und Menschliches – beidem wird der Leser begegnen.

Wie ging es nach der Verurteilung weiter?

Matz-Donath: Die Untersuchungshaft dauerte im Durchschnitt sechs Monate, selten kürzer. Die längste mir bekannte währte zwei Jahre. U-Haft, das war die schlimmste Zeit. Danach kam man in normale Haft. Aber was heißt "normal"? Ein Gefängnis von heute – Hoheneck und Bautzen konnten wir einmal besichtigen – die kamen uns dagegen vor wie billige Ferienheime. In Hoheneck kann man sich heute sogar den Friseur von draußen bestellen. In Bautzen damals blieben wir weiter zusammengepfercht in größter Enge, hungerten weiter, kamen kaum an die Luft, erhielten keine Bücher oder Spiele, durften noch immer nicht nach Hause schreiben. Aber man ließ uns wenigstens in Ruhe. Gegenüber den Frauen jedenfalls wurde keine Gewalt mehr geübt und es gab keine Beschimpfungen mehr. Als wir später nach Hoheneck "zu den Deutschen" kamen, wurde das wieder anders. Wir wurden schon mit den Worten empfangen: "Wenn es eine Gerechtigkeit Gottes gäbe, dann wären sie schon längst verreckt!" Und so ging es dann jahrelang weiter.

War das bei den Deutschen eine Befehl von oben?

Matz-Donath: Ja, das war Anweisung von oben, von ganz oben sogar. In dem Briefwechsel zur Übernahme der Gefangenen durch die DDR-Behörden 1950, fing es schon an. Da spricht die russische Seite von "den Gefangenen". Die deutsche Antwort: "Ja, wir übernehmen sie, die Verbrecher.", gezeichnet Walter Ulbricht. Ich könnte jetzt aus Hohenck keine große Grausamkeit berichten, aber diese täglichen Erniedrigungen waren furchtbar. Zwei unserer Kameradinnen haben in Hoheneck selbst ihrem Leben ein Ende gemacht. Doch diese zweite Hälfte unserer Haft in DDR-deutscher Gefangenschaft ist in der ROTEN SHINX nicht beschrieben. Es hätte den Umfang völlig gesprengt.

Wie ist die Resonanz auf Ihr Buch? Immerhin hat es Ministerpräsident Biedenkopf persönlich vorgestellt.

Matz-Donath: Um darüber etwas auszusagen, ist es noch zu früh. das Buch ist ja gerade erst heraus. Herrn Biedenkopf jedenfalls bin ich zu großem Dank verbunden für die bewegte und bewegende Würdigung, die er dem Buch und dem darin beschriebenen Schicksal der Hoheneckerinnen zuteil werden ließ. Auch aus Berlin erreichte mich inzwischen ein gleicherweise positives Echo von Bundestagsräsident Wolfgang Thierse. Bei der Lesung in Dresden fanden fünfzig Bücher sogleich ihre Käufer, und es gab eine lebhafte Diskussion vor allem mit einer Gruppe von Schülern. Der Bericht der Sächsischen Zeitung von der Veranstaltung war positiv. Auf ein weiteres Presse-Echo bleibt zu hoffen. Aber darauf wird wohl noch ein bißchen zu warten sein.

Selbst wenn Presse und Honoratioren das Buch loben, Sie wissen doch genau, daß das Schicksal der Opfer des Kommunismus die Gesellschaft nicht wirklich interessiert?

Matz-Donath: Die Gesellschaft? Ich wende mich doch nicht an solch ein blutleeres sozio-politisches Konstrukt sondern suche lebendige, denkende, fühlende Leser – und das sicherlich nicht vergeblich! Denn Menschen fesselt ja nichts so stark wie Geschichten über ihresgleichen. Aber wer nie erfährt, wo solche Geschichten schlummern, kann sich ja gar nicht für sie interessieren! Das ist nichts anderes als eine Frage der Informations-Strukturen! Erschütternd genug, wie die SMTerinnen ihr Verlorensein schon verinnerlicht hatten! Wie oft die Frage wähend der Interviews. "Glaubst Du wirklich, das will einer hören?" Und trotz dieser Zweifel so rührend groß die Bereitschaft, sich den alten Schmerzen noch einmal zu stellen. Oft lösten die Schrecken sich im Fluß der Erzählungen doch in Erleichterung auf. Nein, verstecken Sie hinter dem Phantom Gesellschaft nicht die Verantwortung der Medien und jedes einzelnen Journalisten! Zuhören, aufnehmen, nicht im Schweigen begraben – ja, auch das heißt, die so viel beschworene Menschlichkeit üben!

Haben Sie in Haft auch an Ihre Leidensgenossen in den KZ einige Jahre früher denken müssen?

Matz-Donath: An die Männer, Frauen und Kinder – ach, es schmerzt mich bis heute, es auszusprechen – an die, die "ins Gas geschickt" worden sind. – Ja, um diese Menschen habe ich in Haft sogar manchmal geweint. Nicht, daß damals mein eigenes Überleben immer gesichert gewesen wäre. Aber ich hatte ja die Gefahr gekannt, in der ein politischer Journalist unter den Kommunisten lebte. Und hatte mich dennoch bewußt entschieden zu kämpfen. Aber sie, die in gutem Vertrauen unter uns lebten …

Wie klingen Äußerungen wie die von Richard von Weizsäcker in Ihren Ohren, der 8. Mai sei der Tag der Befreiung?

Matz-Donath: Wenn mir auch nicht jeder Politiker der Kommentierung wert scheint, eine Antwort zur Frage des 8. Mai will ich Ihnen trotzdem nicht schuldig bleiben. Was mir und meiner Familie in der "Ostzone" geschah, zeigt die eine Seite. Doch wären die Amerikaner nur um einiges später nach Würzburg gekommen, hätte es eine meiner Tanten Kopf und Kragen gekostet. Mein Onkel hatte Dachau überlebt und für meine Tante wurde wurde zwar nicht der 8. Mai, aber ein anderer Tag jenes Frühlings 1945 zur Lebensrettung.

Wie stehen Sie heute zum Kommunismus?

Matz-Donath: Mein Leben und die Befunde der internationalen Historiographie geben mir das Recht, ihn für eine der schwersten Deformationen zu halten, die der menschliche Geist jemals erlitten hat.

 

Annerose Matz-Donath, geboren 1923 in Leipzig, studierte Zeitungswissenschaften, Geschichte und Germanistik. Die Journalistin wurde 1948 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet und saß zwölf Jahre wegen angeblicher Spionage in kommunistischer Gefangenschaft. Unter anderem im "roten Ochsen" in Halle, im "Gelben Elend" in Bautzen, im KZ Sachsenhausen und in Hoheneck. Nach ihrer Entlassung war sie in verantwortlichen Positionen bei der Deutschen Welle tätig, bevor sie 1986 gesundheitliche Folgen der langen Haft in den vorzeitigen Ruhestand zwangen. 1993 wurde sie von der Moskauer Militär-Generalstaatsanwaltschaft als "schuld- und grundlos verhaftet" und "rechtswidrig, aus politischen Gründen" verurteilt, rehabilitiert.

 

"Die Spur der roten Sphinx": Der Titel rührt von einem Sphinx-Standbild in St. Petersburg, das einen Gedenkstein für die Opfer des Terrors von Lenin und Stalin bewacht.


 
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