© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Der normale Wahnsinn
Österreich erholt sich vom Schock der EU-Sanktionen
Frank Philip

Weisheit siegt! Davon waren die Österreicher schon immer überzeugt und sind es nun noch mehr. Nach monatelanger Brüskierung durch die "bilateral" verbrämten EU-Sanktionen kamen endlich drei Weise aus Brüsselland, die neue schwarz-blaue Regierung zu begutachten. Die Weisen huldigten eifrig dem demokratischen Geist und verkündeten dann aller Welt eine frohe Botschaft. Was jedem Normalbegabten bekannt, leuchtete auch den Weisen als Leitstern ihrer Studie über das Alpenland voran: Die Regierung verhalte sich völlig korrekt, die Sanktionen entbehren mithin der rechtlichen Grundlage und sollten daher schleunigst beendet werden. Und so geschah es, und den Menschen in Österreich ward große Freude.

Denn obwohl die Sanktionen, die insgesamt 223 Tage dauerten, sich nach Auskunft der EU-14 nicht gegen die Österreicher, sondern "nur" gegen die Regierung richteten, bekam das ganze Volk die Folgen zu spüren. Da gab es nicht alleine die Sticheleien und alltäglichen Beleidigungen etwa durch belgische Kinderchöre ("Kauft nicht bei Österreichern"). Vor allem der Tourismus wurde zeitweilig stark in Mitleidenschaft gezogen, was nichts daran ändert, daß die Branche insgesamt blendend dasteht. Auffällig war im zweiten Quartal das Ausbleiben von Belgiern und Franzosen, berichten die Fremdenverkehrsämter. Die Zahl der Übernachtungen von Gästen aus diesen beiden Ländern lag von Mai bis Juli 2000 um 14 bzw. 17,2 Prozent unter den Vorjahreswerten. Dagegen bereisten 13,8 Prozent mehr Briten und sogar 29,8 Prozent mehr Amerikaner die Alpenrepublik. Für die starke Zunahme von US-Touristen mag wohl weniger deren neuerwachte Liebe zum Selbstbestimmungsrecht der Völker als vielmehr der gute Dollarkurs verantwortlich sein, den Briten dagegen wäre zuzutrauen, daß sie die Warnungen von Onkel Chirac vorsätzlich in den Wind geschlagen haben.

Der französische Präsident erfreut sich in Österreichs Hauptstadt keiner großen Beliebtheit. Was man in Wiens Kaffeehäusern an Schmäh sich anzuhören gezwungen ist, übertrifft den schlimmen "Westentaschennapoleon" bei weiten. Auch Chiracs tapferer Mitstreiter aus Belgien, Louis Michel, der im Februar groß tönte, er wolle die schwarz-blaue Regierung höchstpersönlich "zersprengen", hat nur noch wenig Freunde in der Donaumetropole.

Wenn es hart auf hart käme, könnte Außenminister Michel sich nur auf eine kleine Truppe mutiger Bürger verlassen, die direkt gegenüber dem Bundeskanzleramt am Ballhaus eine "Botschaft besorgter BürgerInnen" aufgebaut haben, ein Bruchzelt mit zehn windschiefen Plakaten darum. Hier am Rand des Heldenplatzes harren die "besorgten BürgerInnen" seit über sieben Monaten aus, um "Vorfälle" zu notieren und Beweise gegen Schüssel und seine Regierung zu sammeln. Auf Nachfrage wollte ein junger Herr den Stand der Ermittlungen leider nicht verraten, hielt uns dafür mit dramatischer Geste ein Flugblatt unter die Nase. Da wurde "jede/r aufgerufen, die/der mit dem Leitbild solidarisiert, sich als BotschafterIn zu betätigen, indem er/sie diese ständige Vertretung benachrichtigt (ganz nach dem Motto: ’Wir sind alle BotschafterInnen‘) oder/und mitgestaltet."

Auf die Opposition können die "besorgten BürgerInnen" nicht bauen, sie ist ziemlich lahmgelegt, zumindest die Sozialdemokraten. Schuld daran ist Alfred Gusenbauer, der seit einem halben Jahr glücklos als Parteichef der SPÖ agiert. Seinen Champagnerumtrunk mit den Österreich-"Vernaderern" haben ihm die Wähler schwer übelgenommen, seitdem kriegt er kein Bein mehr auf den Boden. Derweil passieren im Lande unglaubliche Dinge. So hat beispielsweise Unterrichtsministerin Gehrer den Holocaust geleugnet, behauptet zumindest der amerikanische Anwalt Randol Schönberg. Zwar hat die ÖVP-Politikerin zum Holocaust überhaupt nichts gesagt, aber sie hat es abgelehnt, so auf die Schnelle fünf Hauptwerke des Malers Gustav Klimt herzugeben oder alternativ zwei Milliarden Schilling zu zahlen, wenn Komponistenenkel Randol Schönberg dies im Namen seiner jüdischen Mandanten fordert. Dabei hatte der Industrielle Ferdinand Bloch-Bauer die Gemälde dem Testament seiner Ehefrau gehorchend der österreichischen Staatsgalerie vermacht, doch die Erben wollen dies nicht anerkennen und klagen auf Herausgabe. Ihr Anwalt bezichtigte nun Unterrichtsministerin Gehrer, "mit Nazis ins Bett zu gehen" und sich mit dem "Nein zur Rückgabe Holocaust-Leugnern und Revisionisten angeschlossen zu haben" – der ganz normale Wahnsinn eben.

Eher leise Töne kommen von Burgtheater-Intendanten Klaus Bachler. "Die Hand, die dich füttert" überschreibt der Nachfolger von Claus Peymann einen kleinen Aufsatz zur Freiheit der Kunst. Er meint jedoch vor allem eine (öffentliche) Hand, welche Agit-Prop in seinem Burgtheater immer weniger füttert. Die Subventionen fließen also nicht mehr so üppig, was ihn auf die Palme bringt. Doch gegen eines verwahrt sich der Intendant, nämlich gegen die "abstruse Argumentation", die seinem Theater "gar die Förderung von Tötungsphantasien vorwirft". Der Verdacht liegt aber nahe, wenn Künstler bei Lesungen zur "Beseitigung" von Schüssel und freiheitlichen Politikern aufrufen oder die Demonstranten stundenlang skandieren: "Widerstand, Widerstand, Schüssel–Haider an die Wand".

Der "Widerstand" der Demonstranten ist am Bröckeln. Immer noch gibt es jeden Donnerstag in der Nacht Umzüge durch die Innenstadt: Martialisch trommelt die KPÖ, wohlbehütete Bürgerkinder singen von "blutroten Fahnen" und kreischen "Weil auch ich ein Arbeiter bin", bis der Papa im Mercedes sie irgendwo abholt, denn am nächsten Morgen müssen die Jungs und Mädels ja wieder in die Schule. Die Polizisten sind genervt, haben Stöpsel im Ohr und für Beschimpfungen nur noch ein müdes Lächeln übrig. Der "Widerstand" gegen die demokratisch gewählte Regierung ist nur noch peinlich. Einer der prominentesten NS-Gegner und Mitbegründer der echten Widerstandsbewegung "O5", Fritz Molden, schrieb über die anfangs gewalttätigen Ausschreitungen in einem Leserbrief an die Presse: "Genauso hat es vor 62 Jahren angefangen ..."

Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) hat vorige Woche eine Bilanz vorgelegt: Von 130 linken Demonstrationen und Kundgebungen waren lediglich 14 angemeldet, den Rest habe man hingenommen, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Entspricht das dem Vorgehen eines autoritären Regimes? Kann man im Ernst noch von Polizeistaat sprechen, wenn unter den 80 Verletzten bei Zusammenstößen 72 Polizisten waren? Insgesamt sind durch Sachbeschädigungen und Überstunden Kosten in Höhe von 33 Millionen Schilling entstanden, die massiven Verkehrsbehinderungen nicht mitgerechnet. Wir fragen bei den "besorgten BürgerInnen" nach, wie lange sie noch aushalten wollten. "Solange Schwarz-Blau im Amt ist", seufzt ein junger Mann, woraufhin einer hinter ihm ruft: "Notfalls die ganzen vier Jahre!" Die Linken sind etwas verunsichert, seit selbst prominente Sozialdemokraten wie Ex-Innenminister Karl Schlögl eine Koalition mit der FPÖ nicht mehr ausschließen wollen.

Und was ist, wenn die Regierung Schüssel wiedergewählt wird? Erflehen sich die Demonstranten den Kanzler Viktor Klima zurück? Der wird künftig in Argentinien für die Firma VW Autos verkaufen. Zwar stimmt es, daß Klima sich bislang noch nicht als Automanager hervorgetan hat, doch schließlich hat er Wirtschaft studiert – und das ganze 32 Semester!

Österreich hat sich stark verändert, das alte Wien ist wieder spannend geworden. Über Gusenbauer hat die Presse eine nette Geschichte ausgegraben: Als strammer Sozialist flog er in den siebziger Jahren nach Moskau, stieg aus dem Flugzeug, rief "Heimat" und küßte den Boden – eine Jugendsünde, wie er heute sagt. Vielleicht sehen wir demnächst bundesdeutsche Touristen bei ihrer Ankunft im schwarz-blauen Österreich in ähnlicher Weise "sündigen".


 
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