© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Der Moralist
Vor zehn Jahren starb der Schriftsteller Alberto Moravia
Werner Olles

Alberto Moravia war unter den italienischen Erzählern von Weltrang derjenige, der die moralische Kritik an den scheinbar unabänderlichen Verhaltensweisen des Menschen zum alles bestimmenden Hauptthema seines Werkes machte. Der am 28. November 1907 in Rom geborene Autor schrieb Romane, Novellen, Dramen, Essays, Kurzgeschichten, Filmkritiken, allegorische und surrealistische Erzählungen, die im wesentlichen Bruchstücke eines einzigen zeitgenössischen Sittengemälde der italienischen Bourgeoisie sind. Zwischen seinen beiden wichtigsten Romanen "Gli indifferenti" ("Die Gleichgültigen", 1929) und "Il Conformista" ("Der Konformist", 1951) besteht kaum ein fühlbarer geistiger und künstlerischer Unterschied. Immer blieb das große und kleine römische Bürgertum Moravias bevorzugtes Beobachtungsfeld.

Als Zeitungskorrespondent bereiste er Amerika, Rußland, China und Afrika, was sich in Reiseerzählungen, Berichten über die chinesische Kulturrevolution und afrikanischen Impressionen niederschlug. Immer zog es ihn jedoch nach Rom zurück. Ironisch-distanziert breitete er vor dem Leser eine bürgerliche Welt aus, die schon in voller Auflösung begriffen war und deren Konformismus, Willensschwäche, bourgeoise Gefühlsleere und sittliche Indifferenz er einer schonungslosen Kritik unterzog. Moravias Figuren leben in einer erotisierten Atmosphäre; triebhaft und gleichzeitig von Lebensekel gepackt, werden sie von ihrer sündhaft verdammten Natur umhergetrieben. Dabei war sein Weltbild durchaus nicht dualistisch, der Trennung von gut und böse, schön und häßlich zog er eine Zwischenzone vor. Die menschlichen Ideale verschwinden hinter einem Zwielicht, und die Paradoxie des Einzelnen zwischen Determiniertheit und Selbstbestimmung läßt die elende und aussichtslose Lage des Menschen umso stärker hervortreten.

Als Erzähler schwankte Moravia stets zwischen Komplizenschaft und ironisch gebrochener Distanzierung gegenüber seinen Antihelden. Besonders in seinen kleineren Romanen – exemplarisch in "Racconti Romani" ("Die Mädchen vom Tiber", 1954) – hob er die unbefangene Sexualität der Dirnen hervor, die er als vitalistische Gegenwelt zum bürgerlichen Leben feierte. Anders als die marxistischen Schriftsteller, die die Prostitution immer als Mimesis im Sinne einer Nachahmung der bürgerlichen Ordnung definierten, beschrieb er sie als Herstellung einer Form und einer neuen Ordnung im Verhältnis der Geschlechter zueinander, die nicht nur den männlichen Phantasien entgegenkommt, sondern auch für das eigene Geschlecht ein ganz neuartiges Selbstverständnis bereithält.

Scharf pointiert sind auch Moravias Gesellschafts- und Milieustudien wie "Il disprezzo" ("Die Verachtung", 1954) und "La noia" (1960). In letzterer schildert der Autor halb essayistisch – zwar künstlerisch abgerundet, aber kompositorisch und psychologisch etwas unstimmig – die Geschichte eines Mannes, der sich mehr und mehr der Realität entfremdet, an der Problematik seines Absurditätsbewußtseins fast verzweifelt und seine Existenznot und Lebensangst im Sexus vergeblich zu befreien versucht.

Tatsächlich erscheint der Mensch bei Moravia als zur Sünde verurteilt, während die psychologische Situation in der Familie die Forderung des Bürgertums nach Unterdrückung der natürlichen Sexualität noch verstärkt. Wenn etwa der heranwachsende Knabe in "Agostino" (1944) an seiner eigenen Mutter das Geheimnis des anderen Geschlechts entdeckt, zerstört dies zwar nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen, erhellt aber auf frappierende Weise den Konflikt zwischen mediterraner Kraft und Freiheit und schicksalhafter Bewältigung von Reifung, Selbstwerdung und Liebe. Fasziniert, aber uneingeweiht bewahrt Agostino doch seine kindliche Identität.

Zeitweise näherte sich der Autor dem italienischen Neorealismus an, ohne jedoch dessen derbe Volkssprache und Spontaneität zu übernehmen. Die dem Futurismus entliehene Verehrung des Vitalismus ging bei ihm Hand in Hand mit der Schilderung der Entseelung und Entzauberung des Lebens. Seine zuweilen surrealistische Metaphorik – von der Literaturkritik zunächst als "dekadent" und "abseitig" verurteilt – ist jedoch in Wahrheit kraftvoll und aufrichtig. Ihre Intensität, Schonungslosigkeit und präzise Klarsichtigkeit stellen den von Einsamkeit, Sehnsüchten, Hoffnungen und Nöten bedrückten Menschen in den Mittelpunkt. Auch wenn der Autor oft genug seine Protagonisten an den Abgrund des Tragischen führt und die Frage nach ihrer Identität manchmal offen läßt, enthüllt sich so allmählich das Drama des Menschen zu einer Frage von Sein oder Nichtsein.

Angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge und einer im Innersten kranken Gesellschaft sah Moravia Entfremdung und Lebensenttäuschung als gegeben an. Über dieses Gefühl der alles beherrschenden Einsamkeit und Depression kann auch das Kraß-Sexuelle nicht hinweghelfen. Moravias Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft, seine Neigung zu ironischen Übersteigerungen und seine ungezügelte Sympathie für das Milieu der Halbwelt ist auch als Trauer über das Gefühl des unaufhaltsamen Weltzerfalls zu deuten. Sein resigniert-depressives Weltbild speiste sich hingegen aus der Erkenntnis, daß die Abgründe der Menschen auch am meisten über das Rätsel Mensch aussagen und neben dem Erschrecken dennoch auch immer die Faszination bleibt. Am 26. September 1990 starb der Dichter im Alter von 82 Jahren in seiner Geburtsstadt Rom.


 
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