© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Gewöhnung an den größeren Nachbarn
Charles Brant

Niemand kann behaupten, François Mitterrand sei über den Fall der Berliner Mauer in Begeisterungsstürme ausgebrochen. Die Vorstellung einer deutschen Wiedervereinigung beunruhigte ihn, so wie sie auch manchen politischen Analysten große Kopfschmerzen bereitete. Gewiß hätte Paris die Beibehaltung des Status quo bevorzugt. Seitdem haben sich die französischen Amtsträger an die neue Dimension Deutschlands gewöhnt. Nicht einmal die Verlegung der Hauptstadt nach Berlin, die Befürchtungen einer Distanzierung Deutschlands von Frankreich auslöste, wird mehr als metaphysisches Problem empfunden.

In ihrer Mehrzahl geben die französischen Regierungsmitglieder zu, daß Frankreich und Deutschland gemeinsam den "harten Kern" der Europäischen Union bilden. Die Zeiten, in denen man den Nachbarn alle zwei Wochen auf Aggressionsbestrebungen abklopfen zu müssen meinte, sind vorbei. Selbst die Wochenzeitungen kommen mittlerweile ohne Aufmacher des Genres "Muß man die Deutschen fürchten?" aus. Allerdings gibt es in der politischen Klasse Frankreichs noch immer Elemente, die versuchen, den traditionellen Antagonismus zu instrumentalisieren. Ihnen ist der kürzlich zurückgetretene sozialistische Innenminister Jean-Pierre Chevènement ebenso zuzurechnen wie Philippe de Villiers oder Charles Pasqua. Theatralisch erheben sie sich zu Anklägern Deutschlands, das – so behaupten sie – für den Niedergang Frankreichs ebenso verantwortlich zu machen sei wie für die landerisation, die Föderalisierung Europas. Unter anderem ist ihre Germanophobie der "souveränistischen" Idee geschuldet, einem bemerkenswerten Gebräu aus Neo-Jakobinertum und Neo-Monarchismus. Ihre Vorstellungen von "den Deutschen" gemahnen an Jacques Bainville, ihre Formeln für Frankreichs politische Zukunft entstammen dem "Testament Richelieus". Insgesamt stehen sie aber isoliert da.

Das Mißtrauen dem deutschen Nachbarn gegenüber scheint der Vergangenheit anzugehören. Die Franzosen wissen, daß Deutschland ihr wichtigster Handelspartner ist. Trotzdem bestehen die alten Vorurteile gegen Deutschland und die Deutschen hartnäckig fort. Die gegenseitige Ignoranz bleibt. Sie kam, um nur zwei Beispiele zu nennen, im letzten Jahr bei den wenigen Feierlichkeiten zu Goethes 250. Geburtstag und dieses Jahr beim Gutenberg-Jubiläum deutlich zum Vorschein. Über das hervorragende Buch von Marcel Schneider L’Ombre Perdue de l’Allemagne ("Der verlorene Schatten Deutschlands"), das den Geist des unsterblichen Deutschlands beschwört und feiert, wurde fast überall schweigend hinweggegangen.

Woran liegt diese Gleichgültigkeit? Nun, zum einen daran, daß nur wenige Franzosen sich die Mühe machen, die deutsche Sprache zu erlernen, die doch als so schwer gilt. An ihrem schwachen Interesse an den Völkern Europas. Am "Parisianismus", der zu einer autozentrischen Ausrichtung ihrer Kultur geführt hat. Er hat trotzdem nicht verhindern können, daß die Franzosen auf dem Weg zu einem karolingischen Bewußtsein fortgeschritten sind.


 
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