© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Erfolgreiche Einheit
Das Gebiet der ehemaligen DDR im "Aufholrausch"
Adrian Grau

Wider alle Larmoyanz und Demagogie: Der Aufbau Ost ist nicht gescheitert. Die Rede von den blühenden Landschaften gibt schlicht die Realität wieder im zehnten Jahr der Einheit. Insgesamt summieren sich die Transfers aus dem Westen, also die über öffentliche Kassen oder die Sozialversicherung vermittelten Finanzen, seit 1990 auf weit über 1.400 Milliarden Mark. Die Bevölkerung in den neuen Ländern hat heute einen Lebensstandard, der in der sozialistischen Mangelwirtschaft nicht vorstellbar gewesen wäre. Kurz nach der Währungsumstellung verdienten Arbeiter und Angestellte in der Industrie der Ex-DDR durchschnittlich 1.400 Mark im Monat, in den alten Bundesländern dagegen 4.000 Mark. Seitdem ist das Einkommen im Osten deutlich gestiegen: 1999 lagen die Bruttomonatsverdienste bei gut 75 Prozent des westdeutschen Niveaus. Dem rasanten Verfall der Altstädte ist Einhalt geboten, die Erneuerung der Infrastruktur mit großem staatlichen Aufwand vorgenommen worden. Die ökologische Lebensgrundlage, in der DDR maßlos angegriffen, wird wiederhergestellt.

An die Stelle der zerfallenen Produktionsstrukturen sind Unternehmen gerückt, die sich im globalen Wettbewerb bewähren. Der Strukturwandel ist zwar noch lange nicht abgeschlossen, und die sektoralen Wachstumsraten sind sehr unterschiedlich. Doch das Bruttoanlagevermögen der gewerblichen Wirtschaft ist weitgehend auf dem neuesten Stand: Es besteht inzwischen zu mehr als 80 Prozent aus Anlagen, die nach der Wiedervereinigung errichtet worden sind. Ein privater Unternehmenssektor ist im Osten fest verankert, es gibt etwa 500.000 den Industrie- und Handelskammern zugehörige Unternehmen. Damit erreicht die Dichte der Unternehmen im Osten bereits vier Fünftel des westdeutschen Wertes. Und in großem Umfang ist unternehmerisches Potential aus dem Osten selbst aktiviert: Rund vier Fünftel der Betriebe des produzierenden Gewerbes haben einheimische Mehrheitseigentümer.

Die Lohnstückkosten im Osten sind stetig gesunken: 1998 lagen sie nur noch um 24 Prozent, 1991 dagegen noch mehr als 50 Prozent über dem westdeutschen Niveau. Seit 1992 stieg die Produktivität von 33 Prozent des Durchschnitts im Westen auf nunmehr fast 60 Prozent. Sie wird aber, so sagen die Prognosen, bis 2010 kaum über 65 Prozent des Westniveaus steigen, wenn die Wirtschaftspolitik den Marktkräften nicht mehr Freiraum gibt. Auch ist die Nachhaltigkeit der Dynamik noch nicht gesichert. Das Wachstum 2000 im Osten ist das niedrigste seit 1990. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts wird in diesem Jahr bei rund 2,5 Prozent liegen, jedenfalls nicht höher sein als in WestDeutschland.

Mittlerweile ist die Quote der Erwerbstätigen im Westen und Osten beinahe gleich groß, sie liegt bei etwa 60 Prozent. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern höher als Westen. Der zweite Arbeitsmarkt wird das Problem natürlich nicht lösen. Die neueste Studie (8/2000) des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle belegt, daß Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen (ABM) äußerst selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäftigung sind. Und reguläre Arbeitsplätze werden durch subventionierte verdrängt. Die ABM also kaschieren viel: Der Druck wird politisch gemildert, die wirtschaftlichen Probleme werden aber nicht gelöst. Mehr rentable Arbeitsplätze entstehen jedoch nur, wenn mehr Firmen wettbewerbsfähig werden. Der Abschied vom Sozialismus aber fällt offenbar schwer.

Die Deutschen wurden vor zehn Jahren mit dem Ausmaß der ökonomischen und sozialen Verwüstung, die das SED-Regime hinterlassen hatte, nicht ungeschönt konfrontiert. Schon 1981 hatte sich ein Kreditstopp westlicher Banken angebahnt. Die Investitionseffizienz halbierte sich im Zeitraum von 1981 bis 1984. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es kein reales Wirtschaftswachstum mehr. Der Versuch, die Mikroelektronik weltmarktfähig zu entwickeln, scheiterte kläglich. Der im Jahre 1988 von der DDR gefeierte 256-Kilobit-Chip kostete 534 DDR-Mark je Stück, auf dem Weltmarkt war er für zwei Dollar zu bekommen. Starke Importdrosselungen schränkten den Lebensstandard der Bevölkerung immer merklicher ein. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg nach 1985 nur noch unwesentlich an und fiel bis 1989 relativ zum bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf 33 Prozent. Der SED-Planungschef Gerhard Schürer prognostizierte im Mai 1989 intern die Zahlungsunfähigkeit der DDR für 1991.

Der Verschleißgrad in zentralen Bereichen der Industrie, so schätzte die MfS-Hauptabteilung XVIII ("Volkswirtschaft") im Oktober 1989 ein, lag bei 50 Prozent, bei landwirtschaftlichen Anlagen bei 65 Prozent: Mindestens 500 Milliarden seien erforderlich, um den Anschluß an die westlichen Länder auf dem Gebiet der industriellen Produktion nicht zu verlieren. Dies hätte zwei jährlichen "Nationaleinkommen" der DDR entsprochen.

Nach dem Sturz Honeckers beauftragte das SED-Politbüro Schürer damit, eine Analyse der wirtschaftlichen Lage der DDR anzufertigen. In einem am 30. Oktober 1989 vorgelegten Papier schrieb Schürer: "Allein das Stoppen der Verschuldung gegenüber dem NSW (dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet) würde", so Schürer das Jahr 1990 prognostizierend, "eine Senkung des Lebensstandards um 25–30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen".


 
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