© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Auferstanden aus Ruinen
Was war und was bleibt: Rückblick auf 10 Jahre Einheit am Beispiel der sächsischen Landeshauptstadt Dresden
Paul Leonhard

Für die Dresdner Autofahrer waren die vergangenen Wochen ein Graus. Staus an allen Ecken und Enden. Schlechte Straßen, nicht funktionierende "Grüne Wellen" und Pflasterausbesserungen sind die Bewohner der sächsischen Metropole zwar gewöhnt, aber eine derartige Bündlung von Straßenbauarbeiten hatte es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben: In der sächsischen Landeshauptstadt war der Verkehrsnotstand ausgebrochen.

Grund dafür waren knapp 20 Millionen Mark Straßenbaumittel. Diese hatte Dresden als Ausrichter der offiziellen Feierstunde zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit außerplanmäßig erhalten, um seine Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Ohnehin ist diese Summe angesichts des Straßen- und Schienenzustands in der Elbestadt nur ein Tropfen auf den heißen Stein und ungewiß, ob die angelaufenen Baustellen bis zum 3. Oktober abgeschlossen sind. Die Stadtverwaltung hat deswegen bereits verschiedene Pläne ausgearbeitet, damit notfalls an diesem Tag der Verkehr "mit provisorischen Lösungen den Verkehr am Leben gehalten wird", wie der zuständige Dezernent versichert.

Während die Situation der Straßen an die Zeiten der DDR erinnert, hat sich Dresden ansonsten grundlegend gewandelt. Im Dezember 1989, als Helmut Kohl vor der Ruine der Frauenkirche nach dem Mantel der Geschichte haschte, war das ehemalige Residenzschloß der Wettiner noch eine brandgeschwärzte Ruine. Heute strahlt seine Fassade im alten Glanz, der Schloßturm hat seine Haube wieder und die große Uhr zeigt wieder die Zeit. Wieder entstanden sind im Zentrum der Stadt auch das Taschenbergpalais und das Coselpalais. Lediglich die Ruine des Kurländerpalais erinnert in der unmittelbaren City noch an die Zerstörungen der alliierten Bomben in der Nacht des 13. Februars 1945. Gewandelt haben sich aber auch die einst der Vergessenheit anheim gefallenen barocken Bürgerhäuser der inneren Neustadt. Hier ist mit der Königsstraße eine Dresdner "Kö" mit eleganten Boutiquen und zahlreichen Restaurants entstanden. Sogar verschwiegene Hinterhöfe mit italienischem Flair sind zu entdecken. Mit den neuen Fabriken von AMD und Siemens hat hochmoderne Industrie in Dresden Einzug gehalten. Volkswagen errichtet gegenwärtig gerade seine "gläserne Manufaktur" in der Nähe des Großen Gartens. Die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag läßt die Masse der Dresdner allem Anschein nach kalt. Hätte der Streit um die durch Sachsens Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) erfolgte Streichung Ex-Kanzlers Helmut Kohls von der Feiertags-Rednerliste noch für lautstarke Empörung und breites Unverständnis gesorgt, so schmunzelt der Volksmund jetzt über die regen Baukolonnen auf den "Protokollstrecken". Das sei ja wie zu Honeckers Zeiten.

Kohl hätten viele gern reden gehört und wären deswegen ins Stadtzentrum gekommen. Schließlich sind die Dresdner der Meinung, dem "dicken Kanzler" Ende Dezember 1989 erst den kräftigen Schub in Richtung Wiedervereinigung gegeben zu haben, der dann zur Vertragsunterzeichnung am 3. Oktober 1990 geführt hat. "Die Zukunft Deutschlands – und damit meine ich sowohl die DDR als auch die BRD – liegt in Europa", hätte der westdeutsche Kanzler Mitte Ende Dezember 1989 den Zehntausenden vor der Kirchenruine zugerufen. Kohl präsentierte sich damals noch einzig und allein als Europäer, als "Vorkämpfer für die Aufgabe nationaler Ambitionen". Unter dem Dach des im Bau befindlichen Hauses Europa spiele die Vereinigung der beiden deutschen Staaten keine vorrangige Rolle, sagte er den Dresdnern und schaute fasziniert-schaudernd auf ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer. Ein einziger Ruf hallte am Abend des 19. Dezembers 1989 über den Platz: "Deutschland einig Vaterland." Die Angst, daß die Ostdeutschen kurzerhand und ohne Rücksprache mit der Bundesregierung einfach die Einheit Deutschlands proklamieren und auch vollstrecken, saß Kohl in jener Nacht sichtbar im Nacken. Nur so war zu verstehen, daß er seinen Landsleuten in der DDR "trotz allem Verständnisses für die Ungeduld" riet, besonnen zu bleiben und nichts zu überstürzen.

Auf der Pressekonferenz am 20. Dezember 1989 im Dresdner Kulturpalast präsentierte sich dann schon ein anderer Kohl. Bei den Ovationen der Dresdner sei ihm vieles durch den Kopf gegangen. Ihn habe die ungewöhnliche Herzlichkeit dieser vielen jungen Leute mit ihren offenen Gesichtern und ihren hoffenden Augen tief beeindruckt", sagte der CDU-Politiker. Es werde keinen dauerhaften Frieden geben, wenn sich nicht mitten in Europa das Recht auf Selbstbestimmung durchsetzt. Allerdings sei es auch wichtig, "die Landkarte richtig zu verstehen": Wer die Forderungen nach Gebieten jenseits von Oder und Neiße in die Diskussion um die Einheit der deutschen Nation einbringe, verfälsche diese ganz bewußt. Als zeitlichen Fahrplan nannte er damals die Wahlen am 6. Mai 1990. Bis dahin müsse der Inhalt der geplanten Vertragsgemeinschaft zwischen DDR und BRD beschlossen sein. Kohl hatte begriffen, daß Männer wie Hans Modrow keine Verhandlungspartner mehr sind. Zehn Jahre später ist am Ort dieser Erkenntnis die Frauenkirche bereits wieder so weit hergestellt, daß sich die einstige Größe des Barockbaus mit seiner das Stadtbild dominierenden Kuppel bereits erahnen läßt. Die Semperoper, in welcher der Festakt stattfinden wird, ist dagegen bereits zu DDR-Zeiten wiederaufgebaut und sehr aufwendig in ihren Originalzustand versetzt worden.

Erwartet werden am Dienstag 1.200 offizielle Besucher, darunter neben Bundespräsident Johannes Rau und Bundeskanzler Gerhard Schröder etwa zehn Staats- und Regierungspräsidenten. So haben sich der französische Präsident Jacques Chirac und US-Außenministerin Madeleine Albright angekündigt. Außerdem werden mehrere hunderttausend Besucher aus ganz Deutschland erwartet. Damit die Feiern, die mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Kreuzkirche beginnen und nach dem Festakt in der Semperoper mit einem Empfang im Residenzschloß ausklingen, nicht gestört werden, werden sie von rund 2000 Polizeibeamten aus dem ganzen Bundesgebiet gesichert. Für das Volk finden bereits am 2. Oktober Kinder-, Schüler- und Jugenfeste in der Dresdner Innenstadt statt. Dabei wird es auch ein "Fest der Chöre" mit Gotthilf Fischer geben.

Weiträumig gesperrt bleiben am Einheitstag übrigens die gesamte Innenstadt und – zumindest zeitweise – die Zubringerstraßen. Schließlich sind hochrangige Staatsgäste zu eskortieren.


 
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