© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Unbequeme Wahrheiten
Nach zehn Jahren scheidet Joachim Gauck aus den Diensten der nach ihm benannten Behörde aus
Siegmar Faust

Deutschlands bekanntester Behördenleiter, Joachim Gauck, verbringt seine letzten Amtstage in jener Behörde, die seinen Namen trägt. Das Gesetz sieht eine Amtsperiode von höchstens zweimal fünf Jahren vor. Die Nachfolgerin in der "Gauck-Behörde", Marianne Birthler, wird es nicht leicht haben. Wozu ist Gauck "noch brauchbar"? Als ich am 6. September dieses Jahres mit ihm sprach, wußte er einen knappen Monat vor seinem Ausscheiden aus dem Amt noch nicht, wie es mit ihm weitergehen wird. Soll ein so bekannter und auch erfolgreicher Behördenleiter im Vorruhestand vertrocknen?

Bekannt geworden war, daß ihm Bundesinnenminister Schily die Bundeszentrale für Politische Bildung zur Leitung angetragen hatte. Dort nivellierte sich Bildung bisher jedoch durch Parteienproporz; Gauck, der sich selber nur "unzureichend zuordnen" kann, ist parteilos und will es bleiben. Zudem wäre er, der dort keine Hausmacht besitzt, vor allem in interne Kämpfe verstrickt worden. Natürlich weiß er das. Bevor er einen vorliegenden Vertrag eines TV-Kanals unterschreibt, wartet er noch immer auf ein Angebot aus der Politik. Wahrscheinlich vergebens.

Joachim Gauck war knapp fünf Jahre alt, als die Herrschaft der Nationalsozialsten mit eiligem Hinrichten ihrer Gegner und Kritiker sowie der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges endete. Im elften Jahr seines Lebens wurde sein Vater, ein Inspekteur der Seefahrt, plötzlich "abgeholt". Gauck rückblickend: "Diejenigen, die in den stalinistischen Nachkriegsjahren Jugendliche oder Erwachsene waren, haben gelernt, daß dieser Staat nicht mit sich spaßen ließ, daß er unberechenbar war wie ein absoluter Herrscher und jeden Bürger am hellichten Tag aus der Mitte des Lebens herausreißen, foltern, verurteilen oder sogar töten konnte."

Als die Sowjets 1956 das ungarische "Bruderland" brutal mit Panzern befriedeten, kam sein Vater aus sibirischer Gefangenschaft und berichtete von der erlebten Sklaverei sowie "von der absoluten Rechtlosigkeit, die in den Lagern herrschte, während wir immer noch dieselben Lieder sangen von den lichten Höhen des Sozialismus, die es zu erstürmen galt". Dennoch löste sich Gauck bald von seiner antikommunistischen Grundhaltung und entwickelte sich zu einem Vertreter der "Gratwanderungstheorie", was heißen soll, er lernte "die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede", um das Abitur erlangen zu können. Ebenso erlernte der poststalinistische Sozialismus, seine Terror-Instrumente zu verbergen, "aber seine zivile Spielart breitete sich nun ungehemmt in alle Lebensbereiche aus. Die Vorstellung der SED, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, ihr Anspruch auf die absolute Macht bestimmt von nun an das Leben der DDR-Bürger buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre. Das Ministerium für Staatssicherheit drang immer umfassender in das gesamte gesellschaftliche Leben der DDR ein und war als Angstapparat der SED ungeheuer wirkungsvoll."

Der 13. August 1961 war für den Theologiestudenten Gauck ein traumatisches Erlebnis: "Mit dem Bau der Mauer wurde gleichsam die Leibeigenschaft zur Staatsdoktrin erhoben, denn von da an konnte nur derjenige diesem System noch entgehen, der bereit war, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen." Wie viele andere der nunmehr eingesperrten DDR-Bewohner suchte er sich bald eine geistige Nische, die nach dem Studium der Theologie auch seine geistliche wurde. Als endlich die Diktatur dahinsiechte, blühte Gauck regelrecht auf, und zwar zu jener Form, in der ihn schließlich Zehntausende Menschen als Stasi-Aufklärer, Prediger der Demokratie und als Vermittler zwischen Ost und West erleben durften – eine reife, abgerundete Persönlichkeit, die auch die härtesten Fakten darstellen konnte, ohne die Menschen zu Haß, Rache oder dumpfen emotionalen Revolten anzustacheln. Sie erlebten ihn als politischen Lehrer, Seelsorger, Psychotherapeuten und philosophisch gebildeten Menschen, der ihnen aus Erfahrung gekelterten Wein einschenkte.

Joachim Gauck dürfte wohl in allem der Antipode zu Peter-Michael Diestel sein, der als letzter DDR-Innenminister die weitere Vernichtung der Stasi-Akten zuließ und dann laut tönte, Gauck verwalte ohnehin nur solche Akten, die er bekommen sollte. Die wichtigen wären längst vernichtet worden. Erstaunlich, wieviel Brisantes, Ekelhaftes sich dennoch unter den vorhandenen 180 Aktenkilometer befindet. Ausgerechnet Diestel, der sich zum Liebling unverbesserlicher Stasi-Offiziere entwickelte, gewissermaßen der "Typus der Gegenaufklärung", zu der Gauck auch die von der PDS hochgejubelte Autorin Daniela Dahn zählt, wagte es, den scheidenden Bundesbeauftragten als "Begünstigten der Stasi" mit ebensolchen Zeugen der perpetuierten Ohnmacht vor den Kadi zu zerren. Gauck blickt dem Prozeßtermin am 14. Oktober in Rostock mit Gelassenheit entgegen. Er glaubt ungebrochen an das Recht im Rechtsstaat, weil er sich einem "Verfassungspatriotismus" verpflichtet fühlt.

Ob er wieder mehr an den "obersten Richter" im Jenseits glauben würde, wenn er einmal selber vom Rechtsstaat und seinen Organen im Stich gelassen wurde, wie es vielen widerfuhr, die von den Kommunisten enteignet wurden oder als ehemalige politische Gefangene mit ansehen müssen, wie die meisten ihrer Peiniger – Stasi-Vernehmer, Staatsanwälte oder Richter – nahtlos im Rechtsstaat integriert worden sind? Ich verkniff mir die Frage, doch ich will wissen, wie er allgemein zu den Opfern steht, vor allem zu jenen, die nach 1945 von deutschen Kommunisten denunziert und von den sowjetischen Besatzern in die von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager Buchenwald oder Sachsenhausen gepfercht wurden. Da bekennt er ohne Umschweife, daß die "Antifaschisten" nicht das Recht hätten, die Opfer, die in der anschließenden Friedenszeit dort verreckt sind oder unter unglaublichen Bedingungen überlebten, als Nazis zu beschimpfen, sie auszugrenzen und als Opfer 2. Klasse zu behandeln. Ihm kommt dieser gesellschaftliche Zustand "töricht und intellektuell schwach" vor.

Ansonsten blickt er jedoch recht optimistisch in die Zukunft, weil er es für realistisch hält, damit zu rechnen, "daß die Areale der Nostalgiker kleiner werden". Das leuchtet ein, entkräftet jedoch nicht die Besorgnis, daß unsere Republik vor allem dank der Medienmacht, die auf das als dumm verkaufte Volk ständig mit Aktienkursen, Unterhaltungswerbesendungen oder gefühlsabtötenden Gewaltdarstellungen einwirkt, längst seinen antitotalitären Konsens aufgegeben hat und sich immer mehr der verlogenen Legitimationsideologie des verordneten Antifaschismus unterwirft.

Dem Ansatz des Schriftstellerdissidenten Ulrich Schacht, dieser Entwicklung nicht mit dem Abstraktum "Verfassungspatriotismus", sondern mit dem Einsatz für eine "selbstbewußte Nation", entgegenzuwirken, kann Gauck nichts abgewinnen. Immerhin ruft er nicht konsenssüchtig zu innerem Frieden als Bürgerpflicht auf, sondern er fordert innerhalb einer "selbstbewußten Republik" mehr "innere Auseinandersetzung". Er weiß, daß die fehlende Streitkultur vieler Landsleute "Scheu vor geistiger Freiheit" bedeutet. Nichts weist darauf hin, daß Joachim Gauck durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht zynisch geworden ist, im Gegenteil.

Nach Fehlern befragt, gibt er sowohl unpräzise Formulierungen im Stasi-Unterlagengesetz, auf die sich besonders der Streit mit Ex-Bundeskanzler Kohl begründete, als auch die zu starke Fixierung auf die der SED-Führung untergeordnete geheime Staatspolizei zu, die tatsächlich nur ihr "Schild und Schwert" war. Doch diese "Blickverengung" habe er nicht zu verantworten. Wäre die Behörde gegen die gesamte SED instrumentalisiert worden, hätte "nach dem Muster der Entnazifizierung eine Entkommunisierung" angestanden, die jedoch keiner der Bürgerrechtler, einschließlich seiner Person, für nötig hielt. Lediglich die Volkskammerabgeordneten der DSU hatten sie heftig, aber vergebens gefordert. Hier liegt einer der grundlegenden Unterschiede zwischen antikommunistischen Widerständlern und Bürgerrechtlern. Mein Gegenüber redet sich heraus, man habe 1989 geglaubt, "von den bis dahin Herrschenden nähme keiner je wieder ein Stück Brot". Gauck kommt einer Nachfrage zuvor und führt sogleich das bessere Beispiel der Tschechen an, die ihre Parteikader aus dem Öffentlichen Dienst entfernten. Er schränkt jedoch ein, daß damit ja auch diejenigen "aufgeklärten Genossen" getroffen wurden, die 1968 im "Prager Frühling" die Demokratisierung vorangetrieben hatten. Das mag stimmen, doch was will uns das in bezug auf die SED-Bonzen sagen? Gauck räumt ein, daß die Apparatschiks des SED-Zentralkomitees sowie der Bezirks- und Kreisleitungen bei den Überprüfungen den ehren- oder hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern hätten gleichgestellt werden müssen. Doch dieser Zug sei längst abgefahren. Resignation? Eine resignative Handbewegung konnte ich nicht ein einziges Mal beobachten.

Folgenlos können solche Versäumnisse und die wieder einmal mißlungene rechtliche Aufarbeitung nicht bleiben. Zum Ausgleich dafür dürfte Joachim Gauck mit seinem Rede- und Verständnistalent ein Glücksfall im Interesse derer sein, die als Opfer wissen wollten, wer ihre Bildungskarriere, Berufslaufbahn, Gesundheit, Familie, Freiheit und Lebenswürde systematisch zerstören half. Auch der Nachfrage der Wissenschaftler, in das Getriebe einer mit deutscher Gründlichkeit betriebenen Diktatur Einsicht nehmen zu können, konnte relativ schnell entsprochen werden. Wobei man freilich immer wieder erwähnen sollte, welche Anstrengungen bis hin zum Hungerstreik einiger Bürgerrechtler nötig waren, sich gegen das Gebaren der westdeutschen Parlamentarier und Juristen durchzusetzen. Eine schwache Persönlichkeit hätte der Allianz jener Kräfte, die regelmäßig die Schließung der Akten oder gar ihre Vernichtung forderten, kaum widerstehen können.

Andererseits besteht kein Grund, Gauck schon zu Lebzeiten auf den Sockel heben zu wollen. Aus ihm ist längst, trotz seiner äußerlich sanft wirkenden Weise, ein entschlossener Realist geworden, der nach Max Weber den bequemen Halbwahrheiten die unbequemen Wahrheiten vorzieht.

 

Siegmar Faust, 56, saß in der DDR zweimal wegen "staatsfeindlicher Hetze" im Gefängnis und wurde 1976 von der Bundesregierung freigekauft. Von 1996 bis 1999 war er Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Heute lebt er wieder als Schriftsteller in der Nähe von Würzburg.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen