© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Vorkämpfer der deutschen Einheit
David E. Barclay: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter
Detlef Kühn

Sowohl in seinem Vorwort als auch im Epilog seiner Biographie des ersten "Regierenden" Bürgermeisters von Berlin beklagt der amerikanische Historiker David E. Barclay, Ernst Reuter sei heute weitgehend vergessen. Man kann darüber streiten, ob und inwieweit dieser Vorwurf berechtigt ist. Berücksichtigt man, daß es Reuter nur knapp sieben Jahre lang vergönnt war, auf der "nationalen" politischen Bühne im besiegten Deutschland zu agieren, und daß er seine massenwirksamen Auftritte – noch ohne Fernsehen – dabei nur im geteilten Berlin hatte, so erinnern sich doch noch immer erstaunlich viele Menschen vor allem an seine Reden auf den großen antikommunistischen Demonstrationen, bei denen er in publikumswirksamer Weise die Deutschen und die Welt aufforderte, auf die Stadt Berlin zu schauen und zu erkennen, daß hier ein Kampf tobte, dessen Ausgang von Bedeutung für die ganze Welt sein werde.

Jedenfalls hat Barclay mit seinem Buch einen Beitrag gegen das Vergessen eines Politikers geleistet, den man heute als einen Linksliberalen mit zwar europäischer Perspektive aber eindeutig nationalem Hintergrund und nationalen Zielen charakterisieren könnte. Er bemüht sich dabei besonders um den "unbekannten" Ernst Reuter, den zum Beispiel viele fälschlich für jüdischer Herkunft halten. Reuter stammt aber väter- wie mütterlicherseits aus gutbürgerlichen evangelischen Kreisen Norddeutschlands. Seine Eltern und Geschwister konnten daher nur mit völligem Unverständnis zur Kenntnis nehmen, daß es den Studenten – trotz Zugehörigkeit zu einer nicht schlagenden Verbindung – schon längst vor 1914 zum Sozialismus und damit zur SPD zog.

Das Erlebnis des Krieges brachte es dann mit sich, daß Reuter immer mehr nach links rückte. 1916 verwundet in russische Gefangenschaft geraten, kam er nach der Oktober-Revolution in engen Kontakt mit den Bolschewisten, die den organisatorisch begabten Funktionär, der überraschend schnell Russisch gelernt hatte, schließlich als Kommissar für deutsche Angelegenheiten in das Wolgagebiet schickten. Wegen dieser kommunistischen Vergangenheit sah sich Ernst Reuter später wiederholt Vorwürfen ausgesetzt, er habe im Auftrag Stalins an der Wolga ein gegen die dort ansässigen Deutschen gerichtetes "Blutregiment" zu verantworten. Nicht einmal die Nationalsozialisten haben, als sie Reuter nach 1933 verhafteten, diese Anschuldigungen belegen können, und Barclay macht jetzt – gestützt auch auf neuere Quellen – deutlich, daß an ihnen wohl nie etwas dran war. Allerdings war Reuter zu dieser Zeit ein vor allem von Lenin (im Gegensatz zu Stalin; er kannte beide persönlich) beeindruckter Funktionär. Als er zu Weihnachten 1918 nach Deutschland zurückkehrte, stieg er in der kurz darauf gegründeten KPD weiter auf und brachte es sogar zu ihrem Generalsekretär. Aber schon im Januar 1922 wurde er, nach parteitypischen Machtkämpfen und Querelen, die Reuter immer mehr dem Kommunismus entfremdeten, aus der KPD ausgeschlossen. Der Weg war damit frei für seine Rückkehr zur SPD.

Hier machte Reuter bald als Kommunalpolitiker Karriere. In Berlin wurde er Stadtrat für Verkehr und baute in den zwanziger Jahren vor allem die U-Bahn aus. 1931 wählten ihn seine Parteifreunde zum Oberbürgermeister von Magdeburg, wo er 1932 in den Reichstag gewählt wurde. Dennoch konnte er in der krisengeschüttelten Stadt nur den Geldmangel verwalten und sich bemühen, die allgemeine Not zu lindern.

Die Nationalsozialisten setzten Reuter 1933 ab. Es folgten einige Wochen in Haft im KZ. Als er mit Hilfe von Fürsprechern wieder freikam, hoffte er, sich in England eine neue berufliche Existenz aufbauen zu können. Dies gelang aber erst in der Türkei, wo er seit dem Sommer 1935 als Sachverständiger für Tariffragen das Wirtschaftsministerium beriet und später eine Professur für Kommunalwissenschaft erhielt. Von Politik mußte er sich auf Wunsch der Türken fernhalten, da die Türkei vor allem nach Kriegsausbruch zwischen Deutschland und seinen Gegnern lavierte und erst im Februar 1945 Deutschland pro forma den Krieg erklärte, um Mitglied der Vereinten Nationen werden zu können. Interessanterweise wurde Reuter von den Nationalsozialisten nicht ausgebürgert, sondern behielt bis zuletzt seinen immer wieder verlängerten Paß, was er zu Recht auf den Einfluß des deutschen Botschafters in der Türkei, Franz von Papen, zurückführte, der eine Ausbürgerung, die die Gestapo betrieben hatte, für kontraproduktiv hielt.

Erst Ende 1946 erhielt Reuter mit seiner Familie von den Siegermächten die Erlaubnis, nach Deutschland zurückzukehren, wo er sich auf Wunsch seiner sozialdemokratischen Freunde sofort nach Berlin begab, der Stadt seines kommunalpoltischen Wirkens 20 Jahre früher. Wie hatte die Stadt sich aber verändert! In Trümmern hausend, in vier Sektoren aufgeteilt, mit einer immer weniger einigen alliierten Kommandantur an der Spitze, hungerte und fror dort eine Bevölkerung, die kaum Zeit und Interesse für Politik hatte, sondern mit dem Kampf ums nacke Überleben beschäftigt war. Und diese Stadt geriet nun auch noch in die Auseinandersetzungen des weltpolitischen Ost-West-Konflikts. In diesem Kampf wurde Reuter schnell zum wichtigsten Hoffnungsträger der Berliner, aber auch der Menschen in der "Zone", mit denen er vor allem über das Medium des Rundfunks verbunden war. Reuter wurde Ende Dezember 1946 Stadtrat für Verkehr, der auch für die großen Versorgungsbetriebe wie Elektrizität, Gas und Wasser zuständig war – damals noch in ganz Berlin. Das war reinste Mangelverwaltung, vor allem die Stromversorgung war katastrophal. Immerhin schaffte es Reuter, in diesem extrem kalten Winter wenigstens das öffentliche Verkehrswesen einigermaßen aufrechtzuerhalten. Dennoch verlangten die Sowjets bald seine Entlassung, für sie und die kommunistische SED war er wohl immer noch der "Renegat". Reuters wichtigste Stütze waren die Engländer und Amerikaner. Schon ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr wurde Reuter von der Stadtverordnetenversammlung mit großer Mehrheit, gegen die Stimmen der SED, zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Da die Sowjets aber seine Bestätigung verweigerten, konnte er dieses Amt erst eineinhalb Jahre später antreten, als die Stadtverwaltung schon gespalten und Reuter faktisch nur noch Oberbürgermeister von West-Berlin war.

Barclay schildert kenntnisreich und einfühlsam die damaligen Verhältnisse und die vielfältigen Probleme, denen sich Reuter gegenübersah. Die Einheit Deutschlands verlor er dabei als konkretes Ziel nie aus den Augen. Zu Adenauer hatte er deshalb ein durchaus gespanntes Verhältnis. Als Ernst Reuter am 28.9.1953, erst 64jährig, durch den völlig unerwarteten Tod aus der Arbeit gerissen wurde, hatte er es immerhin geschafft, vor allem mit Hilfe der Amerikaner die Verhältnisse in West-Berlin so zu stabilisieren, daß der Überlebenswille der Bevölkerung eine feste Basis hatte. Darin dürfte sein bleibender Verdienst liegen. Er schuf damit eine wichtige Voraussetzung auch für die Veränderungen der Jahre 1989/90.

Barclay hat eine gut lesbare Zeitgeschichte mit biographischem Hintergrund geschrieben, die ordentlich aus dem Englischen übersetzt wurde. Offen bleibt nur, warum der Journalist und Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, der schon 1957 zusammen mit Willy Brandt eine Reuter-Biographie veröffentlichte, als einziger in dem Buch beharrlich des Umlauts in seinem Namen beraubt wurde.

David E. Barclay: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter. Siedler Verlag, Berlin 2000, 447 Seiten, 36 Abb., 58 Mark


 
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