© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
"Es lebe Deutschland!"
von Volker Kempf

Der Terminus Stigma wird gemeinhin zur Kennzeichnung von Eigenschaften gebraucht, die zutiefst diskreditierend sind. Doch stellt sich die Frage, für wen oder was etwas stigmatisierend ist. Die Jesus durch die Kreuzigung zugefügten Wunden etwa bezeugten, daß hier jemand verstoßen wurde, weil er ein Verbrecher oder Verräter war. Doch hatte Jesus eine breite Anhängerschaft, die diese Zuschreibung durch die Obrigkeit nicht teilte, sondern sich um so mehr mit dem Stigmatisierten solidarisierte, je mehr er stigmatisiert wurde. Beim Stigma geht es eben immer auch darum, was als normal gelten soll und was nicht. Kehren wir in unsere Zeit zurück, so soll heute die einstige Normalität der verrückten zwölf Jahre Hitlerdiktatur nicht wieder zur Normalität werden. Wer dies offen fordern würde, würde sofort der Volksverhetzung angeklagt werden und rasch stigmatisiert werden. Oder wer würde den Betreffenden beispielsweise als Pressesprecher einstellen wollen, wenn dieser auch noch so gute propagandistische Fähigkeiten vorweisen könnte? Die Hitlerdiktatur wird gemeinhin als unrühmliche Episode der deutschen Geschichte gesehen. Um so verlockender ist es, im politischen Machtkampf an diese allgemein akzeptierte Sicht der Dinge anzuknüpfen und sie für sich nutzbar zu machen. Das hat mit der meist angemahnten Erinnerung an ehemalige Schandtaten wenig zu tun. Vielmehr soll die jeweilige Ideologie oder Anschauung zur Normalität erklärt werden. Andersdenkende werden mit Hilfe einer instrumentalisierten Vergangenheit stigmatisiert. Wer derart auf der guten und richtigen Seite vorgibt zu stehen, hofft für sich und seine Ziele Zustimmung zu ernten, und das bedeutet in der Politik, Macht ausüben zu können.

Im Alltag mögen sich Personen stigmatisiert fühlen, weil sie Falten haben oder zu dick sind. Dann schlägt die Stunde der Geschäftemacher, die mit ihren Cremes und Lotionen das Heil versprechen. Sogar unheilbare Krankheiten werden von Wunderheilern mit Goldminen verwechselt. Im politischen Geschäft ist das nicht anders. Hierzu muß man nur die Schwachpunkte der Klientel kennen, um sie absahnen zu können. Das sozialistische Regime in der DDR benutzte denn auch die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen, um sich selbst als die unbefleckte Variante zu verkaufen. Politikern wurde nicht selten mit gefälschten Dokumenten eine unehrenhafte Vergangenheit angedichtet. (Prominente Fälle schildert Hubertus Knabe in seinem Bericht an die Gauck-Behörde unter dem Titel "Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen", Berlin: Propyläen Verlag 1999). Die Berliner Mauer wiederum, die ein von "Fremdherrschaft vergewaltigtes Gebiet" (Karl Jaspers) manifestierte, wurde von Walter Ulbricht als "antifaschistischer Schutzwall" dargeboten.

Dieser hier zum Ausdruck kommende Mythos vom Antifaschismus lebt bis heute munter fort, wird manchmal allerdings so dick aufgetragen, daß beim Verkauf der angebotenen "Salbe für die Seele der Deutschen" nur ein bescheidenes Ergebnis erzielt wird. Als Martin Walser Ende 1998 an der Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg sprach, hatten studentische Vertreter zunächst mehrheitlich die Ausladung des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels zu erwirken gesucht, um nach der Erfolglosigkeit dieses Ansinnens dann wenigstens ein Rederecht zu erhalten. Es sprach ein Vertreter der Linken Liste, die aus ihrer Nähe zur SED-Nachfolgepartei PDS keinen Hehl macht. Martin Walser wurde über eine Viertelstunde lang so ziemlich alles, was je Ausländern und anderen Minderheiten angetan worden war und in Zukunft vielleicht noch alles widerfahren könnte, ans Bein gebunden, bis es die Zuhörer nach einer Zeit der Höflichkeit nicht mehr aushielten und Buhrufe ausstießen. Zuvor wurde auf den Tischen von besagter Gruppierung die taz-Ruhr ausgelegt, in der Walser mit Hitler-Schnurbart nebst Hakenkreuzfähnchen eine Laterne ziert. Derlei Aktionen kamen nicht gut an. Im Bus hörte ich auf dem Heimweg noch zwei Mädchen reden, die dies ähnlich sahen, aber vielsagenderweise dann doch in die Gerüchteküche einstimmten, irgend etwas werde schon dran sein.

So werden mehr oder weniger überzeugende Theorien konstruiert, welche die Gefährlichkeit von Stigmatisierten nachweisen sollen. Mit dem Stigma soll auf die Differenz zwischen dem moralischen Anspruch und der moralischen Wirklichkeit einer Person verwiesen werden. In Wirklichkeit handelt es sich vorwiegend um die Differenz zwischen eigenem Machtanspruch im Parlament und der ohnmächtigen Verwiesenheit auf die außerparlamentarische Opposition, die mit Hilfe des Stigmas verringert werden soll. Kurz, der Stigmatisierungsversuch ist der Versuch, andere zu entmächtigen, um selbst mehr Macht zu erhalten. Zur Illustration kann man hier einen Satz aus Irving Goffmans Studie aus dem Jahre 1975 (Stigma. Uber Techniken der Bewältigung einer beschädigten Identität, 14. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999) zutreffend anführen, der da auf Seite 171 lautet: "Die Stigmatisierung der Personen mit einer moralisch schlechten Vergangenheit kann deutlich funktionieren als ein Mittel formaler sozialer Kontrolle ..." Auf die Deutschen angewendet heißt das, daß ihre empfundene Kollektivschuld zum Mittel der sozialen Kontrolle bzw. der Machtausübung im politischen Geschäft ausgenutzt wird.

Dies macht denn auch das Berliner Holocaust-Mahnmal so problematisch, für das sich besonders lautstark Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in der Inbrunst der Überzeugung hervorgetan hat und noch immer hervortut. Nicht bei sich selbst will Thierse anfangen zu mahnen, indem er etwa ein Mahnmal mit gutem Beispiel voraus inmitten seines Wohnzimmers plaziert – etwa an Stelle des Zerstreuungsapparates Fernsehen –, sondern den Deutschen als Kollektiv soll ein Mahnmal vor die Nase gesetzt werden. Ganz so, als wäre er im Besitz der Weisheit über Gut und Böse, die man an anderen mit erhobenem Zeigefinger ausläßt.

Wer an die Schuld appelliert, zeigt auf den sprichwörtlichen Klumpfuß. Wenn der Stigmatisierte, um im Bilde zu bleiben, das Vorhandensein seines Klumpfußes selbst als abnormal akzeptiert, wird er gewillt sein, der Vorgabe der Normalen zu folgen und den Fuß zu verhüllen – das heißt, er kann diesen seinen Fuß nicht unkenntlich machen, aber doch verdecken und damit anzeigen, daß er die Normen akzeptiert, die er selbst augenscheinlich nicht zu erfüllen vermag.

Das Problematische an den Stigmatisierungsriten ist also, daß eine Besonderheit herausgegriffen und zum Zwecke der sozialen Kontrolle instrumentalisiert wird. Wer kontrolliert aber wen? Wer setzt wem ein Mahnmal vor? Sind es Politiker, die sich über ihr Volk erhaben dünken und ein Holocaust-Mahnmal verordnen? Oder muß das Volk, als die besseren Menschen, den Politikern ein Korruptionsmahnmal verschreiben und vor das Reichstagsgebäude setzen? Anlaß gäbe es dazu genug. Jeder setzt jedem für alles, was der andere Schlechtes getan hat, ein Mahnmal mitten ins Leben. Ob das ein lebenswertes Leben wird, bleibt dann mehr als nur fraglich.

Doch bleiben wir beim Holocaust-Mahnmal nach dem Entwurf von Eisenman: Diejenigen, die dieses monströse Gestähl für gut heißen, werden zumeist im Glauben leben, damit zu manifestieren, daß sich Auschwitz nie wiederholen dürfe. Wer gegen das Mahnmal ist, ist so gesehen unterschwellig für Auschwitz. Aus Sicht der Mahnmalkritiker wird gemeinhin eingewendet werden können, daß hier auf eine Wunde gezeigt werden soll, deren sich die Deutschen schämen sollen. Und wer sich schämt, von dem kann man erwarten, daß er sich unterwirft. Fragt sich nur: Unter wen oder was? Unter die, die mahnen? Der Konflikt ist vorprogrammiert, der soziale Frieden bedroht. Zwischen denjenigen, die sich mit dem Mahnmal als Anwälte der Auschwitzopfer fühlen, und denen, die die Schuld der Nation von 1933–1945 instrumentalisiert sehen, tut sich eine Spannung auf, deren Entladung erhebliche Auswirkungen auf unsere Republik haben dürfte.

Immer wieder ist das Geistesleben in Deutschland durch eine moralisierende Anschauung beherrscht worden, wogegen aber immer wieder intellektuell flankierte emotionale Eruptionen auftauchten. Nicht nur Martin Walser, auch der Historikerstreit in den achtziger Jahren sei hier beispielhaft erwähnt.

Daß Moralisierung aber eine wahrheitsliebende Durchdringung der Vergangenheit gerade verstellt, machte in der jüngsten Vergangenheit die Anti-Wehrmachtsausstellung aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung, getragen von Jan Philip Reemtsma, deutlich. Gezeigt wurden nicht nur tatsächlich verübte Wehrmachtsverbrechen, die es ja durchaus gegeben hat, sondern auch reichlich anderes Material mit Verbrechen etwa russischer Einheiten. Doch hat es erst ausländischer Wissenschaftler bedurft, damit man die gravierenden wissenschaftlichen Fehler der mittlerweile zurückgezogenen Ausstellung ernsthaft diskutiert und nicht einfach vom Tisch wischt. Zu sehr konnte hierzulande gegenüber Landsleuten mit Stigmatisierungsformeln Kritik an einer nur zu gut gemeinten Aktion diskreditiert werden. Prominente wie die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, waren sich in ihrer ahnungslosen und gesinnungstreuen Anhängerschaft nicht zu schade, um die Ausstellung als hervorragende wissenschaftliche Leistung anzupreisen. Nicht alles Ubel in der Welt kann mit der Etikette Deutschland versehen werden, monierten ausländische Wissenschaftler. Deren Forschungsgegenstand, Schandtaten aus ihrem jeweiligen Land, ginge andernfalls ja auch verloren. So bleibt der Eindruck, daß eine weitverbreitete Gesinnung der Deutschen selbst die Deutschen zur Inkarnation des Bösen machen will. Einstmals wurden die Juden monokausal zum Inbegriff alles Schlechten erklärt, heute wird der Spieß einfach umgedreht. Heute wird zum Glück niemand wegen seiner abweichenden Anschauungen gleich erschossen oder interniert. Unter der Tyrannei der political correctness werden Menschen aber doch einem Zwang zur Konformität ausgesetzt. Der Beifall wiederum, den Martin Walser zuvor erntete, als er sich gegen die Instrumentalisierung von Auschwitz zu gegenwärtigen Zwecken wandte, wird als Eruption gegen diejenigen verständlich, die sich diese Riten ausdenken, um die verletzte deutsche Seele hinter sich zu versammeln. Je länger dieser Zirkus andauert, desto mehr werden dagegen die Emotionen überkochen. Das Holocaust-Mahnmal gießt da nur Öl ins Feuer.

Wie diesem bedauerlichen Spiel ein Ende oder wenigstens die Explosionskraft genommen werden kann? Diese Frage rührt an die Uberwindungsmöglichkeiten einer beschädigten deutschen Identität. Denn solange die meisten Deutschen in Scham leben und ihr Land als ein negatives Identitätsmerkmal erleben und auch eingeimpft bekommen, wird es letztlich nur gut genug sein, um Schuldzahlungen an alle erdenklichen Minderheiten zu leisten. Dann tut Deutschland etwas Gutes, was wenigstens einen Sozialstaatspatriotismus ermöglicht, der unser Land aber alles andere als konkurrenzfähig macht.

Umgekehrt wird es auch nicht darum gehen können, die Vergangenheit zu leugnen und zu vergessen. Nein, Lehren sollten wir Deutschen aus unserer Vergangenheit ziehen: Dem Konformismus und Kollektivismus sollten wir immer mit Zivilcourage begegnen. Auch sollten wir immer fragen, wo Menschen bleiben, die "fort" sollen, sei es von der Straße oder aus unserem Land. Der pädagogisch über-höhte Anspruch, die ganze Welt etwa in der Asylpolitik zum moralischen Maßstab Deutschlands zu machen, käme einer Selbstaufopferung gleich. Hier greift das Identitätsproblem der Deutschen, welches uns von sich aus mahnt, selbstbewußt genug zu sein, um in dieser Welt bestehen zu können. Denn dies zu sehen bringt erst die Voraussetzung, etwas zu leisten, ohne sich dabei selbst zu übernehmen. (…)

Gerade von jungen Leuten meines Alters höre ich immer wieder, für sie ende die Geschichte Deutschlands im Jahre 1945. Von da ab weiter zurückgerechnet, sei alles nur von Ubel. Dies hat mir nicht nur vor Augen geführt, wie selbstbetrügerisch viele sind, die andere zur Erinnerung auffordern wollen. Ich habe diese Haltung immer auch als ungerecht denen gegenüber empfunden, die vielleicht selbst Juden waren und einen großen Beitrag zur deutschen Kultur leisteten. Diese Gestalten unter Hitler abzuhaken ist doch recht gedankenlos. Deutschland war eine der ausgebildetsten Kulturen und auf ihrer höchsten Höhe mit dem Nationalsozialismus so tief gefallen, wie es kaum ein anderes Land fertigbrachte. Nur einige international-sozialistische Staaten könnte man zum Vergleich heranziehen. Die etwa 100 Millionen Morde, die der Kommunismus zu verantworten hat, wird man jedenfalls kaum als Kavaliersdelikte abtun können, auch wenn dessen Motivation dazu vielleicht gut gemeint war. Wie auch immer: Einzigartig mögen die Geschehnisse unter Hitler gewesen sein, unvergleichbar sind sie nicht. Denn Völkermorde gibt es in der Welt leider nach wie vor. Nicht jeder braucht dazu ein Auschwitz, Stalin reichte Sibirien.

Die beliebten, nur videocliphaft in den Köpfen aufflackernden Formelfragmente "Hitler, rechtsextrem, Deutschland, Hirn-aus" greifen in jedem Falle zu kurz. Man wird den kulturellen Höhenflug Deutschlands und den Fall in die Barbarei keinesfalls gleichermaßen aburteilen können. Die Leute, die in diesem Sinne pauschal urteilen, sind nach meiner Erfahrung oft gerade die, die besonders gerne mahnen und damit glauben, an die Vergangenheit zu erinnern. Ich persönlich verbitte mir immer derlei gedankenlose Erinnerungsaufforderungen. So lautet meine Formel zur Uberwindung einer beschädigten Identität: Weniger moralisieren und mehr nüchtern bleiben. Wer wie etwa Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mahnen will, soll sich ein Mahnmal ins Wohnzimmer stellen, aber nicht so tun, als sei er ein besonders guter Mensch, der die Arroganz besitzt, andere zu potentiell bösen Zeitgenossen zu erklären, die er nun emsig mahnen müsse.

Beschädigungen werden dem Mahnmal zugefügt werden, was dann als Beweis gewertet werden wird, daß die Menschen hierzulande eben oftmals zu böse sind, als daß man auf ein Mahnmal verzichten könnte. So wird provoziert, was so mancher braucht, um sich lehrerhaft hervortun zu können: böse Schüler. (…)

Man sollte eben gerade den Heranwachsenden einen unbefangenen Umgang mit regulären Symbolen der nationalen Identität, und sei es die Hymne des eigenen Landes, nicht nehmen. Das erzeugt nur eine Protesthaltung, deren Ausgeburten spektakulär daherkommen, in der Sache aber gar nicht ernst gemeint sind. Wenn man dieses Spiel zu weit treibt, produziert man genau jene verbalen Aktionen, die man dann mit pädagogischem Anspruch als Boten für noch Schlimmeres zu verhindern trachtet. (…)

Laßt die Jugend oder wen auch immer die Nationalhymne singen und rufen: "Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!" Das klingt in unseren Ohren zugegeben ungewohnt. Der Zeithistoriker Arnulf Baring hat mit diesem Ausspruch bei Vorträgen sodann auch immer wieder Verwunderung hervorgerufen, dann aber auch Befreiung ausgelöst. Ich denke, wir Deutschen sind reif genug, das Wort Deutschland auch positiv in den Mund zu nehmen, ohne deshalb gleich die Wiederkunft des Nationalsozialismus befürchten zu müssen. Im Gegenteil: Wenn sich ein Stück Normalität und Unbefangenheit einstellt, so läßt dies uns die Zukunft besser bewältigen.

 

Volker Kempf, 32, ist Diplom-Sozialwissenschaftler in Düsseldorf. Bei seinem Text handelt es sich um einen gekürzten Auszug aus seinem soeben erschienenen Buch "Stigma deutsch. Aufsätze zur Bewältigung einer beschädigten Identität" (Haag und Herchen Verlag, Frankfurt am Main 2000), den wir mit freundlicher Genehmigung des Autors drucken.


 
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