© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Abgrenzung
Karl Heinzen

"Die Völker Europas", so konnten 62 Rechtsgelehrte unlängst in Brüssel befriedigt feststellen, "haben beschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden." Um welche Werte es sich im einzelnen handelt, ist dank des Wirkens dieser Prominenten, die unter der Bezeichnung "Europäischer Konvent" seit Juni 1999 zusammentraten, nicht länger ein Geheimnis. Der "Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union" stellt knapp über 50 Grundrechte vor, auf die man sich verständigen konnte. Eine stolze Zahl, die rekordverdächtig sein könnte.

Die Handschrift von Altbundespräsident Roman Herzog als dem Vorsitzenden des Konvents ist dabei unverkennbar. Es ist gelungen, in der Kanonisierung pragmatisch zu verfahren, ohne den philosophischen Anspruch aufzugeben. Und auch ein gutes Stück von jenem Verfas- sungsverständnis, mit dem die Bundesrepublik Deutschland ein neues Kapitel in der Rechtsgeschichte eröffnet hat, schlug sich nieder: Menschenrechte stehen nicht zur Disposition der Staaten oder der Wähler. Wer sie zur Abstimmung stellen möchte, verstößt gegen ihren Geist und begibt sich außerhalb des Kreises jener, mit denen sich vernünftig diskutieren läßt. Der Charta wird derartiger Unbill natürlich nicht widerfahren. Die Staats- und Regierungschefs werden sie auf dem EU-Gipfel in Biarritz Mitte Oktober stilvoll zur Kenntnis nehmen. Kurz darauf wird man sie zur Vollendung der französischen Ratspräsidentschaft in Nizza feierlich verkünden.

Überraschend ist an der Arbeit des Konvents, daß man sich nicht auf die Katalogisierung jener Grundrechte beschränkte, die den Hegemonieanspruch der großen politischen Strömungen in Europa gleichermaßen begründen, sondern auch eruierte, zu welchen Kompromissen das aktuelle Kräfteverhältnis bei altvertrauten wie auch bei neuen Streitpunkten führt. So ist die Zeit für ein Recht auf Arbeit immer noch nicht reif, wohl aber für ein ungleich realistischeres Recht auf den Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst. Einfallsreich reagierte man auf den Wunsch der Regierung Jospin, Frankreich nicht auf ein "religiöses Erbe" zu verpflichten. In der französischen Version spricht die Präambel nur noch von "spirituel". Mit dieser Methode dürfte es nicht schwer fallen, auch andere Länder, die ebenfalls nicht der abendländischen Kulturgemeinschaft angehören, in die Europäische Union zu integrieren.

Die Abgrenzung der Wohlstands- gemeinschaft nach außen kommt gleichwohl nicht zu kurz: Ihr dienen soziale Standards, an die man sich gewöhnt hat und die daher zu Grundrechten geworden sind. Wer Verbraucherschutz, eine gute Verwaltung oder Umweltqualität in dieser Weise kodifiziert, stellt klar, daß er nicht mit allen anderen von gleich zu gleich verkehren möchte. Auch die Beitrittskandidaten sollten dieses Signal verstehen.


 
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