© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Pankraz,
das Kopfkissenbuch und die Freude der Hofdamen

In Japan gedenken sie heuer der sogenannten "Hofdamenliteratur", die vor tausend Jahren dort aufkam und das geistige Leben des Inselvolks prägte. Es war in der Tat eine erstaunliche Epoche, deren literarische Hinterlassenschaften auch für uns Europäer lehrreich und erquicklich sind.

Zu Pankraz‘ Lieblingslektüren gehört das "Kopfkissenbuch" der Hofdame Sei Shonagon in einer deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1944. Alle, denen er den Band ausleiht, geben ihn mit Ausdrücken des Entzückens und der Bewunderung zurück. "Wie war so etwas vor tausend Jahren denn überhaupt möglich?" wird gefragt, "wie kamen in diesen frühen Zeiten Frauen dazu, sich derart zu exponieren, ohne sich das Geringste dabei zu vergeben? Wo haben sie das gelernt? Wer hat ihnen das erlaubt?" Aber Pankraz weiß es auch nicht, und wahrscheinlich wissen es nicht einmal Japanologen.

Es war damals in Japan die "Heian-Zeit", so benannt nach der Hauptstadt Heian, die heute Kyoto heißt. Der Kaiser hatte wenig zu sagen, das Regime führten Minister des berühmt-berüchtigten Fujiwara-Clans, und in den Provinzen machten regionale Warlords ohnehin, was sie wollten. Vielleicht war es gerade diese Ohnmacht des Hofes, die Platz schuf für literarische Reflexion und Unterhaltung und die auch schriftstellernde Frauen voll zum Zuge kommen ließ.

Allein dies würde noch nicht die unerhörte Qualität und Offenheit der "Hofdamenliteratur" erklären. Auch in Europa gab es ja frühe Epochen, in denen Frauen mächtig waren und nicht zuletzt die Literatur beherrschten; man denke an die "gelehrten Frauen" des französischen Absolutismus, an die Salons des Fräuleins von Scudery oder der Marquise de Vivonne im Hotel Rambouillet. Aber was war das für ein Schrott, der dort produziert wurde! Wie war alles verquatscht und preziös verhuscht, wie lebensfremd von irgendwelchen Vorlagen abgekupfert, wie lächerlich!

Die japanischen Hofdamen hingegen lieferten sofort geradezu schreiende Originalität. In den Literaturgeschichten kann man lesen, daß erst kurz vorher eine wahre Revolution in der japanischen Kultur stattgefunden hatte, daß von China herübergekommene Kanons selbst die Sprache tief umpflügten und den autochthonen Geist in einen nur noch lernenden, mühsam nachbuchstabierenden verwandelten. Doch nichts davon ist bei Sei Shonagon oder bei Murasaki Shikibu oder im "Tagebuch einer Eintagsfliege" der Kaiserin Sadako zu spüren.

Sie sind nicht mit dem Fräulein von Scudery zu vergleichen, sondern höchstens mit Molière und dem Herzog von Saint Simon. Oder, um deutsche Vergleiche zu bemühen, mit Goethes "Werther" und Lichtenbergs Aphorismen, und zwar zusammengedacht: Goethes "Werther" plus Lichtenbergs Aphorismen. Es ist "Gesellschaftsliteratur" in einem vollkommen modernen Sinne, mikroskopisches Durchleuchten der aktuellen Zustände und kritische, amüsierte Distanz zu ihnen, Beschreibung und witzige Überhöhung in einem. Von Abhängigkeit von irgendjemand auch nicht die Spur.

Vielmehr wird mit der Sprache umgegangen wie mit einem neuen Spielzeug zu Weihnachten. Man freut sich an ihm und ist doch sogleich aufs höchste mit ihm vertraut, probiert es in allen möglichen Situationen aus, nimmt es auseinander, setzt es auf übermütige Weise wieder zusammen, ohne sich an genaue Vorschriften zu halten. Selbst in den deutschen Übersetzungen von H. Bode oder H.E. Herlitschka ist das ohne weiteres zu erkennen.

Zusätzlich waltet ein merkwürdig Ernst-Jüngerscher Geist in den Kopfkissenbüchern der kleinen japanischen Hofdamen. Es sind Tagebucheintragungen über lange Strecken hinweg, manchmal in Rhythmus und Vers verfallend, dann wieder lakonisch und supersparsam wie ein Haiku-Gedicht. Auch der absolute Knüller der "Hofdamenliteratur", Murasaki Shikubus "Die Liebesabenteuer des Prinzen Genji", ist ein solches zwischen "Werther" und Ernst Jünger changierendes Tagebuch. Prinz Genji und seine Favoritinnen leben nicht nur für sich und füreinander und als Abbilder einer bestimmten Gesellschaftsschicht, sondern immer auch als Teile eines größeren, sie und ihre Taten umfangenden Naturzusammenhangs, Landschaftszusammenhangs, Jahreszeitenzusammenhangs, der wie von einem chinesischen Landschaftsmaler hinzugetuscht wird.

Natürlich bleibt alles sublimiert und von höchster Delikatesse; Liebhaber moderner Direktheiten kommen nicht auf ihre Kosten. Doch wenn man bedenkt, daß zur gleichen Zeit, da Sei Shonagon und Murasaki Shikubu schrieben, in West- und Mitteleuropa gerade die Minnesänger zaghaft zu zirpen anfingen, während die schwerfüßige Hrotsvith von Gandersheim gegen den "sittenlosen Terenz" wetterte, dann kann man das Maß von Freiheit ermessen, das die Hofdamen von Heian sich nahmen.

Man weiß wenig über die äußeren Lebensumstände der Protagonistinnen der "Hofdamenliteratur", aber man kann davon ausgehen, daß sie es auch nicht immer leicht hatten. Speziell Sei Shonagon scheint sich wegen ihres scharfen Witzes und ihrer stupenden Schlagfertigkeit in weiten Kreisen äußerst unbeliebt gemacht zu haben, und als ihre Beschützerin, die Kaiserin Sadako, die selber eine große Dichterin war, im Jahre 1000 starb, mußte Sei Shonagon den Hof verlassen; ihre Spur verliert sich im Dunkel, niemand hat je wieder etwas von ihr gehört.

Wahrscheinlich waren es die Kaiserinnen jener Zeit, die letztlich für das Aufblühen der "Hofdamenliteratur" einstanden. Nach Sadako kam Akiko, und unter ihr blühte die unvergleichliche Murasaki Shikibu. Und als Akiko ging, mußte auch Murasaki Shikibu gehen.

Danach verhängte sich der literarische Horizont in Japan. Der aufkommende Buddhismus brachte eine Hausse für ernste Gebete und grimmige Kriegergesänge, bzw. Kriegerromane. Prinzen wie Genji hatten das Boudoir zu verlassen, um sich an der Front zu bewähren. Und ohne Prinzen hatten die Hofdamen offenbar nichts rechtes mehr zu schreiben.


 
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