© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Einst in Amerika
Zum 100. Geburtstag des US-Erzählers Thomas Wolfe
Werner Olles

Eigentlich wollte er Dramatiker werden, aber seine Stücke fanden keinen Anklang. Dabei hatte der am 3.Oktober 1900 in Asheville, North Carolina, als Kind armer Leute Geborene – sein Vater war ein dem Alkohol verfallener Steinmetz – nach einer schweren Jugend von 1917 bis 1920 an der Universität North Carolina und anschließend an der Harvard-Universität Dramaturgie studiert. 1924 wurde Thomas Clayton Wolfe Dozent für Literatur an der New Yorker Universität. Bis 1936 unternahm er mehrere große Europareisen. Besonders stark fühlte er sich von Deutschland und der deutschen Kultur angezogen.

Er war eine gefühlsbetonte und impulsive Natur mit dem Hang zur Selbstbespiegelung und einem ungewöhnlichen Geltungsbedürfnis. Sein im Grunde gutmütiger und naiver Egoismus verband sich aber mehr und mehr mit einem tiefen Verständnis für die Menschen. Wolfes literarisches Werk, das zu Anfang umstritten und erfolglos war, bildet insofern ein getreues Abbild seiner Gefühlsschwankungen; Stimmungen, in denen ihm das Leben öde und bitter erschien, wechselten mit solchen höchsten Selbstvertrauens. Nachdem er mit seinen Dramen gescheitert war, wandte er sich dem Roman zu. Er wollte eine Autobiographie schreiben, in der Distanz und Objektivität sich in Stoff und Form einander annäherten. Sein erstes Buch "Schau heimwärts, Engel" (Look homeward, Angel) begann er 1926 in London; es erschien nach sorgfältiger Umarbeitung im Jahre 1929. Der rasche Erfolg bewog den Autor, sein Leben fortan der Literatur zu widmen. Gleichwohl löste der fragmentarische Roman in seiner Heimatstadt Empörung aus, weil er zahlreiche Skandalgeschichten aus dem Leben der Stadt und ihrer Bürger preisgab. Der Stil des Buches reicht von analytisch-naturalistischer Beschreibung bis zu ekstatisch-lyrischen Lobgesängen auf Mensch und Natur. Wolfe verfolgt das Erwachen des gequälten Bewußtseins von Eugene Grant – seinem alter Ego – durch dessen Kindheit und Jugendzeit. Das schöpferische Vermögen des Erzählers wird vor allem von der Kunst der Charakterzeichnung erhellt, besonders des Vaters und der Mutter.

Mit "Von Zeit und Strom" (Of Time and the River, 1935) setzte er die Geschichte Eugene Grants mit einer Darstellung seiner eigenen Erlebnisse an der Universität und in Europa fort. Zugleich Schelmenroman und Reisetagebuch, verarbeitet die Geschichte kritisch aber doch sehr optimistisch zahlreiche Impressionen und Assoziationen, die den Leser faszinieren. Vor allem aber ist sie ein Zeugnis für die unbegrenzte romantische Phantasie Wolfes. Leitmotive sind der Strom, der das Leben versinnbildlicht, und die Unerbittlichkeit der Zeit mit ihren unausweichlichen Konsequenzen von Vergänglichkeit und Tod.

Thomas Wolfe starb am 15. September 1938, wenige Wochen vor seinem 38. Geburtstag. Postum erschien zwei Jahre später das zweiteilige Werk "Geweb und Fels" (The Web and the Rock), dessen erster Teil eigentlich eine Neugestaltung von "Schau heimwärts, Engel" darstellt, während der zweite die Fortsetzung von "Von Zeit und Strom" bildet. Bereits mit dem Titel systematisiert Wolfe die Problemstellung des Gewebes aus Erfahrung, Umwelt und Ahnenerbe, in dem der Held verfangen ist, und sein Bemühen, sich diesem Gewebe zu entwinden, indem er den Stein findet, das Symbol für die ursprüngliche Stärke und Schönheit der Vision seines Vaters von Amerika. "Es führt kein Weg zurück" (You cant go home again, 1940) knüpft wiederum an die Handlung von "Geweb und Fels" an. Mit den früheren Werken teilt das Buch den autobiographischen Charakter, den Stil und eine mehr gefühlte als Gestalt gewordene Vision des amerikanischen Lebens als des Überrestes eines verlorenen Paradieses. Ähnlich wie das Drama "Herrenhaus" (Manor House, 1948) ist der Roman die Geschichte einer Entfremdung und einer Lebensenttäuschung angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge und einer im Innersten kranken Kultur.

Wolfes Gesamtwerk – 1971 erschienen in deutscher Sprache sämtliche Erzählungen und ausgewählte Briefe – ist als autobiographische Romanfolge zugleich Chronik des amerikanischen Volkslebens, wie es sich in seinem an Volk und Land gebundenen Denken und Fühlen spiegelte, und der Versuch, einen nationalen Mythos zu schaffen.


 
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