© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Für die Freiheit der Nation
von Vera Lengsfeld

Während auf den Einheitspartys etwas von der überschäumenden Freude wieder auflebt, die vor zehn Jahren die Mehrzahl der Deutschen empfunden hat, wird seit Wochen erbittert um den Vereinigungsprozeß gestritten. Dabei verteidigt die CDU zu Recht ihre historische Leistung, gegen alle Mahner und Warner entschlossen die Vereinigung vorangetrieben zu haben. Die SPD wiederum versucht nach Kräften, diese geschichtliche Tatsache zu relativieren bzw. umzuinterpretieren. (...) Lassen Sie mich jenseits von Parteiengezänk auf zwei Dinge eingehen, die mir in bezug auf die Einheit wichtig sind. Erstens, ohne den Fall der Mauer hätte es keine Architekten der deutschen Einheit gegeben. Und der Fall der Mauer wurde durch einen bis dahin in der Geschichte beispiellosen Massenaufbruch des Volkes bewirkt. Ein Aufbruch, hinter dem keine Partei und keine Vereinigung stand, nicht einmal die Bürgerbewegung der DDR, deren maßgebliche Repräsentanten eher verwirrt und ablehnend reagierten. Nein, es war ein gänzlich ungeplanter, spontaner Aufbruch von Menschen, die die Verhältnisse, in denen sie zu leben gezwungen waren, nicht mehr länger hinnehmen wollten, die sich nicht mehr vorschreiben ließen, was sie zu hoffen hatten, sondern sich die unerhörte Freiheit nahmen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Natürlich hat es Vorzeichen gegeben: die Botschaftsbesetzungen, die Urlauber in den Parks und auf den Zeltplätzen Ungarns, die zum Bleiben entschlossen waren, bis sich ein Weg in den Westen öffnete. Schließlich die Grenzöffnung in Sopron, von einer kleinen ungarisch-österreichische Bürgerinitiative organisiert, dann die Botschaftsbesetzungen, die Schlangen vor der tschechisch/bayerischen Grenze. Zweitens möchte ich über die Rolle Michail Gorbatschows sprechen, der u.a. von Helmut Kohl zu einem Wegbereiter der europäischen Einigung erklärt worden ist.

Bis heute sind die wenigsten Analytiker in der Lage, die Rolle der unbekannten Grenzöffner angemessen darzustellen, und gibt es eine allgemeine Unfähigkeit zu begreifen, daß wir es mit einem wahrhaft revolutionären Ereignis zu tun hatten: der massenhaften Selbstbestimmung von Menschen, die sich nicht mehr als politische Manövriermasse benutzen iassen wollten. Ein magischer Moment in der Geschichte der Menschheit, der noch heute sprachlos macht. Es ist heute abend nicht der Ort, über die schweren, folgenreichen Illusionen, die sich der freien Werte über das kommunistische System gemacht hat, zu reden.

Erwähnt werden müssen sie, denn aus ihnen resultieren die Irrtümer und Mißverständnisse gegenüber der Person Gorbatschows. Der war seinerzeit keineswegs angetreten, die Sowjetunion zu öffnen und zu demokratisieren. Er wollte als Generalsekretär der KPdSU seiner Partei eine Macht retten, die mit den herkömmlichen Methoden nicht mehr zu halten war. (...) Gorbatschows Verdienst war es also nicht, für den Ostblock die Demokratisierung vorangetrieben zu haben: Das haben die Oppositionsgruppen in den kommunistischen Ländern besorgt, die übrigens alle – Solidarnocs, Charta 77, die Reformen in Ungarn, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR – vor Gorbatschow da waren. Sondern sein Verdienst ist es, nicht versucht zu haben, die revolutionären Veränderungen, die er nicht mehr steuern konnte, in einem Blutbad zu ersticken. Es hätte den Verfall des Kommunismus nicht aufgehalten, vielleicht nicht einmal nennenswert verzögert, aber die Völker Osteuropas in eine Agonie gestürzt. (...)

Gorbatschow ist auch heute noch kein Demokrat, er fordert nach wie vor, daß der westliche Parlementarismus genauso verschwinden müsste, wie der Kommunismus und empfiehlt unverdrossen den berühmten "dritten Weg", der eben keine Vision, sondern nur eine neue lllusion ist. Eine Chance für einen "dritten Weg" nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat es nie gegeben und gibt es nicht – es sei denn, man setzte ihn wie einst Lenin seinen dritten Weg mit Gewalt durch. Gorbatschow zum Wegbereiter der revolutionären Veränderungen in Europa zu machen, ist deshalb ein historischer Irrtum.

Womit wir bei den Irrtümern wären, also auf dem ureigenen Gebiet der Linken. Während die ganze Last des kommunistischen Feldversuches jahrzehntelang auf den Deutschen in der DDR lastete, palaverten die 68er beim temperierten Chianti von der deutschen Schuid und der Zweistaatlichkeit als Friedensfaktor.

Die Teilung galt als gerechtes und bequemes Resultat der nationalen Geschichte. Der Osten hatte zu büßen, um Intellektuellen im Westen ein reines Gewissen gegenüber der Geschichte zu verschaffen. Der DDR-Sozialismus wurde jenseits von Werra und Elbe in einem unsäglichen Maße von Leuten relativiert, die heute zum politischen Establishment gehören und dreist von der "gescheiterten Einheit" reden. Was für eine Heuchelei! Nationale Selbstverleugnung war in der alten Bundesrepublik zu einem intellektuellen Reflex geworden. Der Status quo, die Teilung, wurde meist bloß rhetorisch in Frage gestellt. Die Wiedervereinigung galt als "lllusion" (Egon Bahr), als "Mythos" (Walter Momper), als "Gefahr für den Frieden" (Peter Glotz) als "Lebenslüge" der Bonner Republik (Willy Brandt). Der frühere CDU-Vordenker Heiner Geißler wollte 1988 die "Wiedervereinigung" als Zielbestimmung aus dem Grundsatzprogramm der CDU streichen lassen. Antje Vollmer sagte noch am 8. November 1989: "Dabei ist die Rede von der Wiedervereinigung – das ist mit jetzt sehr wichtig – historisch überholter denn je."

Und ihr Parteifreund Joschka Fischer wollte gar ein zwanzigjähriges Redeverbot über die deutsche Wiedervereinigung verhängen. Wie schade, daß man manche Politiker nicht beim Wort nehmen kann. Immerhin hat Willy Brandt seinen Irrtum korrigiert und den schönen Satz geprägt, daß nun zusammenwächst, was zusammengehört. Aber was gehörte zusammen?

Als die Trabbis in jener wahnsinnstrunkenen Novembernacht den Kudamm eroberten, flossen nicht nur Eichels Tränen. Als dieselben Trabbis aber unverzüglich begannen, die Parkplätze von Aldi und McDonald’s zu verstopfen, wandte sich die linke Kulturnation mit Schaudern ab. Allen Schöngeistern, die Marktwirtschaft allenfalls mit den Attributen "sozial" und "ökologisch" ertragen können, keinesfalls aber mit dem Attribut "frei", war die elementare Begeisterung der Brüder und Schwestern aus dem Osten über den Kapitalismus höchst verdächtig, ja zuwider. Nur so kann man es erklären, das Otto Schily, befragt nach den Ursachen des überwältigenden Wahlsieges der "Allianz für Deutschland", verbittert eine Banane schwenkte. Sicher der Tiefpunkt im Leben eines Bonvivants, der – selber allen Genüssen herzlich zugetan – sie anderen Menschen mißgönnte. (…)

Die politische Entscheidung, die Löhne und Gehälter so schnell anzuheben – heute sind wir immerhin bei durchschnittlich über 85 Prozent des Niveaus der alten Bundesländer – war richtig. Wer sich die Proteste von Gewerkschaft, PDS, linker SPD und Grünen gegen die verbleibenden geringen Unterschiede zwischen Ost- und Westtarifen ansieht, weiß, daß ein Billiglohngebiet im vereinigten Land unhaltbar gewesen wäre. Es war aber ein Fehler, die Eröffnungsbilanz der Deutschen Einheit zu verschönen. Die Deutschen waren über das Ausmaß der ökonomischen und sozialen Verwüstung, die das Honecker-Regime hinterlassen hatte, nicht ernsthaft informiert. (…)

Daß dies alles nicht publik gemacht wurde, gab besonders der umbenannten SED bald die Möglichkeit, die aus der Neustrukturierung der alten Wirtschaft resultierende Arbeitslosigkeit primär zu Fehlern der Vereinigung zu erklären. Statt wenigstens nun die SED/PDS damit zu konfrontieren, daß sie die Wirtschaft ruiniert und kapputtadministriert hatte, stimmten früher oder später fast alle demokratischen Parteien in das Lamento über die angeblich mißlungene Einheit ein. Da war von "Kolonialisierung", "Entindustriealisierung"und "Plattmachen" die Rede. Die Slogans von den "Bürgern zweiter Klasse" beherrschen die veröffentliche Meinung.

Der Aufbau Ost ist nicht gescheitert! Und wenn diejenigen das Gegenteil behaupten, die sich vor zehn, elf Jahren mit aller Kraft gegen die Vereinigung stemmten und keinen antinationalen Affekt unangesprochen ließen, dann ist das eine Infamie – und durchaus ein Zeichen für den neuen politischen Stil in diesem Land. Der "Aufbau Ost" zählt zu den beeindruckendsten Solidarleistungen unseres Jahrhunderts.

Insgesamt summieren sich die Bruttotransferleistungen aus öffentlichen Kassen in zehn Jahren auf über 1.400 Milliarden Mark. Die neuen Bundesländer sind sichtbar aufgeblüht. Wer das nicht sehen will, ist schlicht blind – oder sehr vergeßlich. Die Bevölkerung hat heute einen Lebensstandard, der in der sozialistischen Mangelwirtschaft nicht vorstellbar gewesen wäre.

Ein Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern verfügt heute über mehr Kaufkraft, als ein DDR-Durchschnittsverdiener je hatte. Dafür kann er Dinge kaufen, die er früher nicht mal dem Namen nach kannte. Die Erneuerung der Wirtschaft im Osten ist weit vorangekommen. An die Stelle der alten Produktionsstrukturen sind Unternehmen gerückt, die sich im Wettbewerb bewähren und an den Weltmärkten orientieren. Das Bruttoanlagevermögen der gewerblichen Wirtschaft ist weitgehend modernisiert: Es besteht inzwischen zu mehr als 80 Prozent aus Anlagen, die nach 1990 errichtet worden sind. Es gibt in den neuen Ländern etwa 500.000 den Industrie- und Handelskammern zugehörige Unternehmen, damit erreicht die Dichte der Unternehmungen im Osten bereits vier Fünftel des westdeutschen Wertes. Und in großem Umfang ist unternehmerisches Potential aus dem Osten selbst aktiviert: Rund vier Fünftel der Betriebe des produzierenden Gewerbes haben einheimische Mehrheitseigentümer. Wobei bemerkenswert ist, daß diejenigen Unternehmen am meisten florierten, die wenige oder keine Fördermittel bekommen haben.

Eine Tatsache, aus der die Politik noch keine Schlußfolgerungen gezogen hat. Es wird weiter nach Subventionen gerufen und es werden Subventionen versprochen. Dabei stockt der Aufbau Ost genau dort, wo östliche Subventionsnormalität eine Symbiose mit Altiasten und Seilschaften einging. (...)

Warum liest man so wenig über die wirklichen Erfolgsmodelle in der Zeitung? Warum wird der Osten weiter als externes Problemgebiet behandelt? Auch der Bundeskanzler stärkt die kollektive Verbunkerungsmentalität, Larmoyanz und falsche Anspruchshaltung. Er empfiehlt den Menschen in den neuen Bundesländern an den "biographischen Wurzeln ihrer Würde" festzuhalten und ihre "kulturelle Identität" nicht preiszugeben. Als wäre das Leben in einer Diktatur ein würdevolles, als wäre die von der PDS behauptete "Ost-ldentität" etwas wünschenswertes! Wer bestimmt die Maßstäbe eines würdevollen Lebens? Die SED/PDS? Oder war es nicht vielmehr so, daß diejenigen ihre Würde bewahrt haben, die sich individuell von der Diktatur abgewandt haben und sich nicht den Maßstäben den kommunistischen Machthabern beugten, die sogar den Verrat der Nächsten zugunsten des Systems forderten. (…)

Was wir brauchen, ist nicht moralisierender Alarmismus, sondern eine Stärkung der freien Bürgergesellschaft. Wir brauchen keine Erregungs- und Betroffenheitskultur, sondern politische Klugheit, die nicht umerziehen, sondern Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung der Menschen als unverzichtbare Grundlage unserer Gesellschaft stärken will. (…)

Keine Generation zuvor hatte in Deutschland solche Lebenschancen. Mit dem Zusammenbruch der totalitären Regime in Mittel-Ost-Europa endete nicht nur die blutigste Epoche in der Geschichte der Menschheit, es begann ein neues Zeitalter mit einem ungeheuren Entwicklungsschub in Forschung und Technologie. Wir haben die Freiheit, diese Chancen zu nutzen, diese Freiheit ist aber ohne Risiko nicht zu haben.

Das Leben kann mißlingen, dies ist der Preis der Freiheit. Die Einheit Deutschlands ist jedenfalls gelungen. Das ist ein gutes Omen. Eine mißliche Situation, die für das Dilemma der Linken charakteristisch ist.

Wir sollten uns nicht beirren lassen und das politische Verständnis von Freiheit verteidigen. Es geht um das Besondere, Einmalige, Unverwechselbare – um Kultur, also um die Bindekräfte der freiheitlichen Gesellschaft, die sonst in ein gleichgültiges, unpolitisches Nebeneinander zerfällt. Wir brauchen den souveränen Bürgerstaat mit seiner Identitätsbildung als sichernde Institution der freien Gesellschaft. Denn die Geschichte mit weltanschaulichen oder kulturellen oder wirtschaftlichen Konflikten kann uns schneller wieder heimsuchen, als wir ahnen. Und auch innerhalb einer offenen Weltgesellschaft wird das Problem des sozialen Zusammenhalts weiter bestehen und vielleicht eine beispiellose Schärfe annehmen. Das einzige, wofür die multikulturelle Weltgesellschaft bürgen könnte, ist die Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege.

Die Verteidigung der Meinungsfreiheit, die Sicherung individueller Bürgerrechte in deren Bindung an Bürgerpflichten, die Stärkung konkreter staatsbürgerlicher Tugenden gegen Abstraktionen ist eine Grundlage unserer politischen Freiheit!

Mit der Beseitigung der Ordnung des Kalten Krieges begann keineswegs eine Epoche des Ausgleichs, keine selbstverständliche universale Durchsetzung von Demokratie, Marktwirtschaft und persönlichen Freiheitsrechten. Und dennoch liegen in der Epoche bei weitem mehr Chancen als Gefahren. Die aktuelle Gefahr für unsere Freiheit lauert in der Gewöhnung, in der Selbstzufriedenheit. Die Erregungs- und Betroffenheitsdemokratie verdrängt das Politische. Gegen einfache, offen oder latent totalitär gesinnte Antworten hilft nur die politische Klugheit. Die Einsicht in das Problematische der menschlichen Natur und der sozialen Verhältnisse ist die Grundlage abendländischer politischer Theorie mit ihrem Begriff der Freiheit. Freiheit bedeutet, die Wahl haben. Freiheit ist eine Chance, nie eine Garantie des Gelingens. Wir können uns verwählen. Das Leben kann mißlingen – das ist der Preis der Freiheit. Aber das Leben wird mißlingen – das ist der Preis des Sozialismus.

Es geht in Zeiten subtiler Freiheitsgefährdung nicht vorrangig um Gesinnung. Verlangt ist politischer Charakter! Kant sagte einmal, in schwierigen Situationen gebe es eine "Pflicht zur Zuversicht". Ein vereintes und geeintes Deutschland wird seinen Platz in der Welt einnehmen als souveräner, demokratischer und freier Staat. Es geht um die Freiheit unserer Nation – und daran haben wir nicht wenig zu verlieren!

 

Vera Lengsfeld war Bürgerrechtlerin in der DDR und ist heute CDU-Bundestagsabgeordnete. Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus ihrer Rede zum Tag der deutschen Einheit, die sie am 2. Oktober bei einer Feier des "Instituts für Staatspolitik" in Berlin gehalten hat.


 
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