© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Halloween in New York: Die Nacht der Lebenden und der Toten
Tummelplatz für Psychopathen
Günter Schenk

S chwere Ketten zerren am Hals. Kinn und Kopf martern silbrige Nägel. Ein Bild aus dem Grusel-Kabinett. Direkt aus dem Horror-Laden kommt auch der Herr daneben. Blutig sein Gesicht, verstümmelt seine Arme. Dracula, der Blutsauger, ist hinter einer Hexe her. Und vor dem Pfarrer im schwarzen Talar zeigt ein geiles Teufelchen blanke Brust. New York feiert Halloween, die Nacht der Nächte.

Einmal im Jahr nehmen höllische Visionen Gestalt an, mitten in Manhattan, auf der Sixth Avenue, die sich schnurgerade durch New York zieht. Für ein paar Stunden regieren Tod und Teufel, bestimmcn die Bösen das Bild. Gangster und Gespenster, Monster und Machos, Vetteln und Vampire, Zwerge und Riesen. Und natürlich fehlen auch die nicht, deren Namen allein für Gänsehaut sorgen: Jekyll und Hyde, Jack the Ripper und die Addams Family. Selbst Fidel Castro, Kubas sozialistischer Staatschef, reiht sich im kapitalistischen Amerika mitunter ins Grusel-Kabinett.

"Geben Sie gut acht", mahnt einer der vielen Uniformierten am Washington Square Park, einem der Treffpunkte in Greenwich Village. Mit ein paar tausend Kollegen schiebt er heute Dienst. Kein leichter Job, denn Halloween, die Nacht zum 1. November, ist das Sorgenkind der Ordnungshüter. Anlaß für bacchantische Gelage oder spiritistische Sitzungen und für New Yorker Rowdies auch zunehmend Gelegenheit, kräftig auf den Putz zu hauen. Vor allem aber ist Halloween New Yorks größtes Kostümfest. Für Zehntausende Gelegenheit, sich in Amerikas größten Mummenschanz zu stürzen.

Das Treffen der Masken wurzelt im alten Verständnis des Halloween-Festes. Denn nach keltischem Glauben kamen die Toten am letzten Tag des Jahres zurück auf die Erde, um sich zu stärken. Für die Kelten war die folgende Nacht eine Art Silvesterfeier. Abschluß des Sommer-Jahres, dem gleich der Winter folgte. Die Christen machten aus der Feier für die lebenden Toten später ein Fest für alle Heiligen, Allerheiligen eben. Aus dem Abend davor, Hallows’ Eve, wurde schließlich Hallowe'en.

"Trick or treat?" Die Frage der Kinder verlangt nach Antwort. Wir jungen Geister, soll das heißen, fordern ein Geschenk – a treat. Süßigkeiten für die Kleinen, Schokolade und Bonbons, bedeutet das. Heischegaben für die Jüngsten, die am Mittag des letzten Oktobertages wie überall in Amerika durch New York streifen. Wer nichts gibt, muß mit einem Streich rechnen, einem Trick. Sei es auch nur, daß man zur Tür rennen muß, weil es geklingelt hat. Zum Leidwesen vieler Eltern aber drehen immer mehr Zeitgenossen den Spieß um, treiben mit den Kindern Schabernack, indem sie ihnen Senf statt Schokolade in die Bonbons füllen. Halloween, klagt die Polizei, wird mehr und mehr zum Tummelplatz von Psychopathen. Kekse mit eingebackenen Rasierklingen mußte sie in den letzten Jahren ebenso aus dem Verkehr ziehen wie zyankalivergiftete Pralinen. "Sagen Sie Ihren Jüngsten, daß sie alle Süßigkeiten nach Hause bringen, bevor sie davon essen", mahnt deshalb eine nationale Sicherheitskampagne vor dem Halloween-Fest. "Achten Sie darauf, daß alles Süße original verpackt ist. Und nehmen Sie Obst besonders unter die Lupe. Vor allem aber geben Sie ihren Kindern Kleingeld mit, damit sie anrufen, wenn ihnen etwas seltsam vorkommt."

Kinder standen auch am Anfang von New Yorks größtem Maskenzug. "Village Halloween Parade", heißt der Karneval, vielleicht der schönste in der Neuen Welt. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist er alt, ein Umzug, den der Puppenmacher Ralph Lee 1973 ins Leben gerufen hatte. Zwei Jahre später wurde aus den Umzügen des Maskenbauers eine größere Parade, die allen New Yorkern offenstand. Erwachsenen vor allem auch, die nach einer neuen Form der Selbstdarstellung suchten. Damals, erinnert sich Jeanne Fleming, die heute die Halloween-Paraden organisiert, "wurden die Umzüge auch Sache der Homosexuellen, war die Nacht zum ersten November die wichtigste Gelegenheit, sich öffentlich als Schwuler zu bekennen".

Heute ist die Halloween-Parade neben Macy‘s Thanksgiving Day-Parade New Yorks wichtigste Großveranstaltung und mit geschätzten sechzig Millionen Dollar Umsatz auch Garant für viele hundert Arbeitspläze.

Hunderttausende reisen inzwischen eigens zur Parade an, Radio und Fernsehen berichten live vom Umzug. Vergessen sind die Zeiten, als die Parade in den Vereinigten Staaten ihren Niederschlag in briefmarkengroßen Zeitungsnotizen fand. Heute sind die Bilder vom Maskenzug auf den Titelseiten aller großen Blätter, hat die Parade in allen Nachrichtensendungen ihren Stammplatz. Wenn es dämmert, treffen sich die New Yorker auf der Sixth Avenue südlich der Spring Street am Rand von Greenwich Village. Junge und Alte, Männer und Frauen. Zwanzig- bis dreißigtausend Enthusiasten, die für ein paar Stunden in eine andere Rolle schlüpfen.

Fast vierzig Kapellen garantieren für gute Laune. Reggae-Musikanten aus der Karibik und Samba-Spezialisten aus Brasilien, Klezmer-Musiker aus Israel und mexikanische Geiger, Schulorchester und Südstaaten-Bands, Klangkünstler aus aller Welt. Für Zwischentöne sorgen Dudelsack und Didgeridoo, Fiedel und Sitar. Je schräger, je besser.

Gegen zehn Uhr ist der Umzug durch Greenwich Village zu Ende, geht es von der Straße in die Säle und Kneipen oder zum Kostümball in einen der vielen Clubs. Für die passende Kostümierung sorgen spezielle Geschäfte, allein in Manhattan ein gutes Dutzend. In den "Halloween Adventure Shops" gibt es Masken zu allen Preisen. Transvestiten kaufen bei "Lee's Mardi Gras", wo für ausgesuchte Fummel leicht ein Monatseinkommen draufgeht. Gleich tonnenweise liegt dort die Schminke in den Regalen, stapeln sich Federboas, Perücken und Reizwäsche. "Manhattan Costumes", einer der größten Kostumverleiher, hat zum Fest gar rund um die Uhr geöffnet.

Am Broadway bläst ein Schwarzer traurig Trompete. So wie oft, wenn sie am Mississippi einen zu Grabe tragen. Heute aber sind die Toten lebendig, springen die Geister munter durch die Stadt. Tausende, die einmal jährlich in eine andere Rolle schlüpfen. Einer hat sich ein Taxi auf den Kopf geschnallt, ein anderer einen Wolkenkratzer übergestülpt. Ecken weiter tanzt die Pizza mit einem Würstchen. Surreale Bilderwelten, die für ein paar Stunden die Straßen erobern.

Weit nach Mitternacht staut sich in New Yorker Stadtteil Manhattan der Verkehr noch immer wie sonst nur in der Rush Hour. Eisig bläst der Wind durch die Asphaltschluchten, der Winter läßt grüßen. Plötzlich ein Knall, da zerplatzt knapp über dem Auge ein rohes Ei. Geworfen aus einem Cabrio, in dem sich vier Maskierte über den Treffer freuen. Die Geister haben zugeschlagen. Doch nur der Mantel muß in die Reinigung. "Geben Sie gut acht", die Warnung des Polizisten am Washington Square Park hatte ihren Grund.


 
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