© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Die letzten Reste von Stalins Kriegsbeute
Südkurilen: Der russisch-japanische Streit um eine Inselgruppe im Pazifischen Ozean
Albrecht Rothacher

A uch fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ableben des ruchlosen Despoten belastet Josef Stalins Kriegsbeute nachhaltig die Beziehungen zwischen Japan und Rußland. Japan verlangt von Rußland unverdrossen die Rückgabe der der japanischen Nordinsel Hokkaido vorgelagerten kleineren Habomai-Inselgruppe, der Insel Shitokan sowie der größeren Inseln Kunashiri und Etorofu. Sie waren Anfang September 1945 drei Wochen nach der japanischen Kapitulation aus japanischer Sicht illegal von der Roten Armee besetzt und nach der blutigen Vertreibung ihrer 17.000 Einwohner 1947 von der Sowjetunion einseitig annektiert worden.

Putins kürzlicher Japanbesuch brachte ebensowenig Fortschritte wie die früheren Visiten Jelzins (1993) und Gorbatschows (1991). Dies obwohl Japan jeweils großzügige Wirtschaftshilfe in doppelstelliger Milliardenhöhe für die darniederliegende Wirtschaft Sibiriens in Aussicht stellte, sobald Rußland die japanische Forderung nach der Wiederherstellung seiner Souveränität über die Inseln akzeptierte, wobei die größeren und stärker besiedelten Inseln Kunashiri und Etorofu nach japanischen Vorschlägen noch länger unter russischer Verwaltung bleiben könnten.

Bei der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen 1956 hatte die Sowjetunion schon die Rückgabe der Habomai-Inseln und von Shikotan verbindlich zugesagt, die historisch stets als Teil von Hokkaido angesehen worden waren. Als Japan auch auf den größeren, wirtschaftlich und damals auch strategisch wichtigen Inseln Kunashiri und Etorofu bestand, setzte die Sowjetunion, und in der imperialen Nachfolge Rußland, die Erfüllung dieses Versprechens aus. Gromyko machte die Rückgabe 1960 von der Aufkündigung des Sicherheitspaktes mit den USA abhängig.

Die japanische Nation ist in der Rückgabeforderung einig. Der Konsens reicht von den liberal-konservativen und buddhistischen Koalitionsparteien der Regierung über die rechtskonservative Opposition, die Sozialisten, die KPJ, bis zu jenen schwarzuniformierten "patriotischen" Krawallbrüdern, die in mit der Kriegsflagge geschmückten LKWs in Hundertschaften Putins Besuch in Tokio lautstark mit Marschmusik und vaterländischen Parolen störten. Sie tun dies regelmäßig beim Besuch aller russischer – und vordem sowjetischer – Würdenträger. Auch vor der russischen (vormals sowjetischen) mittlerweile schallisolierten Botschaftsfestung sind sie regelmäßige, wenn auch unwillkommene Gäste. Es handelt sich bei jener dezibelstärksten Lobby zumeist um muskulöse Kleinkriminelle und Mitglieder von Motorradbanden, die mit der Yakuza (Unterwelt)-Truppe der Sumiyoshi-kai loose verbunden sind und sich mit Schutzgeldern ("Firmenspenden") finanzieren. Der Durchschnittsjapaner und die Vertriebenenverbände empfinden die Solidarität dieses lärmenden Gesindels als eher peinlich.

Die von der Regierung stets als "Nördliche Gebiete" bezeichneten Südkurileninseln haben für die Japaner einen hauptsächlich emotionalen Wert. Als Urlaubsziele fallen sie sicher aus. Selbst im Sommer möchte auf jenen neblig-kalten, sturmumtosten und meist regnerischen Inseln wahrscheinlich kaum jemand leben, noch weniger im subpolaren Winter.

Wirtschaftlich sind die Inseln wegen des kalten Kurilenstroms reiche Fischgründe. Kaum berührte Wälder locken die Holzwirtschaft. Ob sie tatsächlich über jenen fabelhaften Mineralreichtum verfügen, der ihnen, wie vielen umstrittenen Territorien, nachgesagt wird, ist noch ungeklärt.

Rußland ist der nach allen Umfragen bei weitem unbeliebteste Nachbar der Japaner. Über 85 Prozent bekunden bei Meinungsumfragen regelmäßig, "unfreundliche Gefühle" gegenüber Rußland zu hegen. Nach ihren Kriegserfahrungen kommt dies nicht von ungefähr. Japan fühlte sich im Zweiten Weltkrieg von der UdSSR verraten und im Zustand der Wehrlosigkeit brutal überfallen. Seit 1941 hatte zwischen Japan und der Sowjetunion ein Neutralitätspakt bestanden. Nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki hatte Japan im August 1945 naiv die angeblich neutrale Sowjetuion um die Übermittlung eines Waffenstillstandsangebots an die Westalliierten gebeten. Statt dessen griff jener friedliebende Neutrale, um seiner von Roosevelt in Jalta versprochenen Kriegsbeute nicht verlustig zu gehen, am 15. August 1945 Japan überraschend an, überrannte die kaum verteidigte Mandschurei, Nordkorea und Südsachalin und besetzte nach der japanischen Kapitulation auch noch die Kurilen und die Hokkaido vorgelagerten "Nördlichen Gebiete". Tausende japanischer Siedlerfamilien wurden massakriert. Von den 640.000 zur jahrelangen Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppten Kriegsgefangenen und Zivilisten überlebten nur die wenigsten. Die letzten kamen erst 1956 heim. Dazu hatten die Sowjets ohne rechtliche Grundlage Territorien gestohlen, die von altersher zwar von dem Naturvolk der Ainu, den Ureinwohnern Nordjapans, besiedelt waren, seit dem 19. Jahrhundert aber stets unstreitig zu Japan gehört hatten: die Nördlichen Gebiete, japanisch "Hopporyodo".

Eine ähnlich einseitige Annexion über die allierten Abkommen von Potsdam und Jalta hinaus war im Herbst 1945 den Pommern widerfahren, als Polen sich einseitig mit Willen der Sowjetbesatzer links der Oder Stettin, die Ükermunder Heide, Wolin und Swinemünde aneignete. Nur hat Japan nie jene Annexionen akzeptiert.

Im ersten Handels- und Schiffahrtsvertrag von 1855 hatte das Zarenreich die Zugehörigkeit der Nordterritorien zu Japan anerkannt und im Gegenzug die restlichen mittleren und nördlichen Kurileninseln,auf denen russische Jäger und Kosaken umherstreiften, erhalten. Die staatliche Zugehörigkeit Sachalins blieb dagegen damals noch offen. Erst 20 Jahre später, 1875, tauschte Rußland für den japanischen Verzicht auf Sachalin die restlichen Kurileninseln (japanisch: Chishima "Tausend Inseln") mit Japan , die sich als Serie aktiver und erloschener Vulkane bis zur Halbinsel Kamtschatka erstrecken. Im russisch-japanischen Krieg von 1904/5 besiegt, trat Rußland zusätzlich die südliche Hälfte Sachalins (jap.: Karafuto) im Frieden von Portsmouth an Japan ab.

Bei seiner Kapitulation am 15. August 1945 war Japan gezwungen, die Potsdamer Vereinbarungen anzunehmen. Im Blick auf Japan bestätigten diese nur die alliierte Vereinbarung von Kairo von 1943, die von Japan die Abtretung aller seit 1914 erworbenen Territorien plus der Kolonien Korea und Taiwan verlangte. Dazu zählten weder Sachalin, die Kurilen noch die Nördlichen Gebiete. 1951 schloß Japan den Friedensvertrag von San Francisco mit den Westalliierten. Auf Druck der Briten, die damals Japan bestraft sehen wollten und auf der Einhaltung der Geheimabkommen von Jalta bestanden, bei denen Roosevelt Stalin für den sowjetischen Kriegsbeitritt im Pazifik Südsachalin und die Kurilen als Belohnung versprochen hatte, mußte Japan auf jene Territorien verzichten. Es machte aber formell klar, daß die aus seiner Sicht nicht zu den Kurilen gehörigen "Nördlichen Gebiete" von diesem Verzicht ausgenommen seien. Die USA bestätigten diese Ansicht wiederholt.

Obwohl Japan Südsachalin und die Gesamtheit der Kurilen nicht länger beansprucht (wie dies eine Karte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. September 2000 fälschlich behauptet), hat es nie akzeptiert, daß diese von der Sowjetunion annektiert wurden. Denn mit der Sowjetunion hat Japan nie einen Friedensvertrag abgeschlossen. Es sind also Gebiete mit rechtlich ungeklärter Souveränität, ähnlich etwa wie Danzig, auf das Deutschland, da es sich bei Danzig seit 1920 um eine Freie Stadt und als Völkerbundsmandat um ein eigenes Völkerrechtssubjekt handelt, keinen "Verzicht" zugunsten Polens aussprechen kann. Zwar hatte die UdSSR 1956 die Rückgabe von Shikotan und den Habomai in Aussicht gestellt, verneinte aber dann bis zum Ende der Sowjetära hartnäckig, daß es mit Japan irgendein Territorialproblem zu regeln gab. Erst 1991 erkannte Gorbatschow die Existenz eines zu klärenden "territorialen Problems" an. Mit dem Niedergang der russischen Fernostflotte haben die Inseln ihre strategische Bedeutung als eisfreier Ostausgang aus dem Ochotskischen Meer in den Pazifik verloren. Jelzin bot deshalb 1993 den Abzug aller 5.000 Militärs aus den in den siebziger Jahren stark befestigten Inseln an.

Die 7.000 nach 1946 nach den Inseln verbrachten Russen und Ukrainer leben in elenden Holzbaracken und ernähren sich eher schlecht als recht von der Fischerei und dem Holzeinschlag. Die Aussicht auf japanische Pässe und Entwicklungsprojekte scheint sie wenig zu schrecken, obwohl altkommunistische Nationalisten auf Sachalin und in Wladiwostok ("Beherrsche den Osten") mit wüster Rhetorik gegen den "Ausverkauf" der angeblich mit hohen Opfern errungenen Muttererde im Fernen Osten agitieren, wohl auch um von der katastrophalen Wirtschafts- und Versorgungslage in Ostsibirien abzulenken. Ein schweres Erdbeben auf den Kurilen und Sachalin tat 1994 ein weiteres, um die Wirtschaft zu zerrütten. Bis heute erfolgte kein nennenswerter Wiederaufbau.

So sind denn im Fernen Osten die letzten Reste von Stalins Kriegsbeute weiter in russischem Besitz. Ähnlich wie im nördlichen Ostpreußen, in Karelien und in den ostestnischen und nordostlettischen Landkreisen wurden jene Beuteprovinzen verwüstet, abgewirtschaftet und werden als offensichtlich sinnlose Eroberungen zunehmend entvölkert.

Mit amerikanischem und britischem Nachdruck unterstützen die G 8-Nationen die japanische Forderung nach der Rückgabe der Nördlichen Gebiete. Selbst die Gorbi-, Jelzin- und Putin- Fans in Berlin tun dies, wenngleich mit knirschenden Zähnen und Bedenkenträgermiene. Wie oft haben sie den begriffsstutzigen Japanern gepredigt, wieviel schöner es sei, in Rußland bedingungslose Milliardenhilfen versanden zu lassen, als windzerzauste Heimatinseln wieder zu zivilisieren.

Doch Japan verhandelt mit der sicher nicht falschen Einschätzung, daß die Zeit für sein Anliegen arbeitet, daß Rußland, sollte es je seinen Fernen Osten mit seinen unerschlossenen Reichtümern wirtschaftlich nutzen wollen (und nicht entvölkert und verarmt an China verlieren), japanische Investitionen, Hilfe und Handel braucht. Solange diese Einsicht in Moskau noch aussteht, enthält sich Japan kühl und kalt jeglicher substantiellen Wirtschaftshilfe für den siechen Koloß und spart damit – im Gegensatz zu den besserwissenden Deutschen – sehr viel Geld. Vielleicht kann man in Berlin von der japanischen Außenpolitik doch etwas lernen.


 
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