© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Der Weg in die EU wird noch hart und steinig
Parlamentswahlen in Litauen: Die sozialdemokratische Koalition geht als Sieger hervor
Paul Leomhard

Wilna. Die Bayern stehlen den prachtvollen barocken und klassizistischen Kirchen die Schau. Auf dem Kirchenplatz im Zentrum der litauischen Hauptstadt Wilna (Vilnius) drängen nur die Touristen in die Baudenkmäler. Die Einheimischen bestaunen mobile Kunst und Hightech: bajowarische Autodroschken. Mit seinem neuesten Fahrzeugwundern ist BMW auf "VIP Tour 2000" im Baltikum unterwegs.

Behutsam streicht Vaidas über die silbern glänzende Motorhaube. Ob er mal so ein Auto fahren wird? Der junge Mann in der Tarnuniform der litauischen Armee blickt skeptisch: "Vielleicht, wenn wir tatsächlich in fünf Jahren in die EU aufgenommen werden", sagt Vaidas. Dann werde er in Deutschland arbeiten. Bei BMW beispielsweise. Schließlich sei er KFZ-Mechaniker.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für Vaidas und die übrigen 3,8 Millionen Einwohner des kleinen Landes. Ob sich die Wettbewerbsfähigkeit Litauens, bisher wegen seiner geografischen Lage und seiner Marktgröße der bevorzugte Standort deutscher Direktinvestitionen, weiter verbessern wird, hängt nicht zuletzt von der konsequenten Fortführung der vom bisherigen Premier Kubilius angekündigten Pläne ab. Dieser hatte die Stärkung des Rechtssystems und eine forcierte Privatisierung ganz oben auf die Agenda gestellt.

Die Privatisierung der Infrastrukturunternehmen sowie zweier Banken ist bereits eingeleitet. Auch war es Kubilius gelungen, durch eine strikte Sparpolitik das Vertrauen in die durch die Rußlandkrise angeschlagene litauische Wirtschaft wieder herzustellen.

Gerade diese erfolgreiche Wirtschaftspolitik hat den Konservativen aber am 7. Oktober die Wahlen gekostet. Viele Wähler haben der Regierung den strikten Sparkurs übelgenommen. So wunderte es wenig, daß bei den Parlamentswahlen die sozialdemokratische Koalition des früheren Präsidenten Algirdas Brazauskas als stärkste Kraft hervorgegangen ist und die bisher regierende konservative Vaterlandsunion von Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis mit 8,58 Prozent abgeschlagen auf dem vierten Platz landete. "Das Pendel wird sicher nach links ausschlagen", hatte Algirdas Kikutis, Vizebürgermeister von Wilna, bereits frühzeitig prophezeit.

Kursänderungen in der Außen- oder Wirtschaftspolitik werden trotz des Regierungswechsels nicht erwartet. Alle Parteien hatten sich frühzeitig geeinigt, daß die Integration des Landes in die Europäische Union und die Nato unabhängig vom Wahlausgang das vorrangige Ziel bleibe. Das bescherte den Litauern weitgehend einen "Wahlkampf ohne Themen" (Kikutis).

Die Grundprinzipien der Wirtschaftsreform in Litauen seien bisher sowohl von den Lins- als auch den Rechtsregierungen respektiert worden, zeigt sich auch der Direktor der staatlichen Entwicklungsagentur, Gruodis, optimistisch. Allgemein werde erwartet, dass sich die Aufnahme Litauens in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken wird.

Auch Wahlsieger Brazauskas hat bereits signalisiert, an dem Ziel EU-Beitritt bis 2005 festhalten zu wollen. Ohne eine grundsätzliche Fortsetzung der bisherigen Spar- und Privatisierungspolitik wird das nicht möglich sein. Zu groß sind die wirtschaftlichen und politischen Sachzwänge. So ist das Staatseinkommen in den ersten drei Monaten dieses Jahres um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken.

Eine Ursache für das gesamtwirtschaftliche Ungleichgewicht ist nach Einschätzung der Delegationen der Deutschen Wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen das weiterhin hohe Leistungsbilanzdefizit. Dazu wächst die Auslandsverschuldung von Staat und Privatsektor. Die Direktinvestitionen sind rückläufig. Die litauische Wirtschaft hat infolge ihrer festen Bindung an den amerikanischen Dollar unter dem im Verhältnis zum Euro hohen Dollarkurs zu leiden. Eine diskutierte Anbindung des Litas an den Euro soll erst 2001 umgesetzt werden.

Vor allem die labile politische Lage und die unzureichende rechtliche Situation schrecken Investoren ab. Standortvorteile wie günstige geografische Lage, gute Verkehrsanbindung – viele Warenströme bewegen sich auf der Fährstrecke Kiel–Memel (Klaipeda) – und niedrige Arbeitslöhne werden durch die gravierenden Widersprüche innerhalb geltender Gesetze, die geringe Kaufkraft, den Fremdsprachenmangel im einheimischen Management und die bisher instabilen Regierungsverhältnisse aufgewogen. Auch macht sich insbesondere unter der Landbevölkerung zusehends EU-Skepsis breit.

Noch gebe es "gewisse Ängstlichkeiten unter den Menschen", räumt Vize-Bürgermeister Kudzys unumwunden ein: "Wir müssen der Bevölkerung klar- machen, wie Marktwirtschaft funktioniert, und sie ermuntern, selbst unternehmerisch aktiv zu werden." Dann würden die Litauer auch begreifen, daß ihnen niemand das Land wegnehmen will, sondern die Ausländer Arbeitsplätze schaffen und damit Wohlstand nach Litauen bringen. Was das ist, wissen seit kurzem auch Vaidas und seine Freunde: silbern glänzende Autos aus Bayern.


 
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