© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Abschied vom Bürgertum
Wolf Jobst Siedlers Autobiographie: Ein Leben wird besichtigt
Ellen Conradt

Wolf Jobst Siedler, so wirbt der Verlag für seinen Autor, sei einer der "bedeutendsten Verleger und Publizisten Deutschlands". Eine nähere Bestimmung, womit sich Siedler einen solchen Ruf erworben habe, worauf sich sein Rang gründe, wo er politisch zu verorten sei, verrät uns diese Presse-Information leider nicht. Denn vielleicht hätte gerade in diesen Wochen die treffende Bezeichnung "linker Tory" (Armin Mohler) schon unliebsame Assoziationen ausgelöst, von immerhin auch denkbaren Einstufungen als "konservativ" oder gar "rechts" ganz zu schweigen.

Und doch könnte man den 1926 Geborenen mit den heute gebräuchlichen groben Rastern als rechten Finsterling, höflicher vielleicht als neokonservativen Promoter schmähen. Immerhin erschienen, als er zwischen 1963 und 1979 für das Programm der Verlage Propyläen und Ullstein verantwortlich zeichnete, dort die Erinnerungen von Albert Speer, Memoiren von "Nazi"-Militärs und Diplomaten zuhauf, die mitunter als Beitrag zur Ästhetisierung des "Faschismus" abgetane Hitler-Biographie des Siedler-Freundes Joachim Fest, die von ihm angeregte "Geschichte der Deutschen" Helmut Diwalds und sogar eine deutsche Ausgabe des "Fascho-Dandys" Drieu de La Rochelle. Daß ein solcher Mann 1982 bereit- stand, um für den gegen heftigste rot-grüne Widerstände mit dem Goethe-Preis geehrten Ernst Jünger in der Frankfurter Paulskirche die Laudatio zu halten, scheint ins Bild zu passen.

Der von Siedler 1980 mit dem Bauunternehmer Jochen Severin gegründete, bald allein geführte eigene Verlag nahm sich schließlich in den achtziger Jahren wirklich wie ein Widerlager zur linksliberalen Suhrkamp-Kultur aus, spätestens nachdem Andreas Hillgruber in Siedlers Corso-Reihe sein "Zweierlei Untergang" veröffentlichte hatte, ein Stein des Anstoßes im "Historikerstreit". Aus linker Perspektive dürfte sich Siedlers Sündenregister noch erheblich verlängert haben, als er, vor dem Mauerfall an der literarischen Vergegenwärtigung Preußens zu arbeiten begann. Plötzlich meldeten sich Autoren mit ihren Erinnerungen zu Wort, die man – wie das ganze "Ostelbien" – schon im Schattenreich wähnte: Ernst Jüngers "Ur-Freund" Martin von Katte, Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten oder Dankwart Graf von Arnim. Neben sie traten die "Berliner Tagebücher" der russischen Fürstin Marie "Missie" Wassiltschikow oder, nach 1989, Lally Horstmanns "Kein Grund für Tränen", die in später Anknüpfung an die Anfang der sechziger Jahre erschienenen Diarien Ursula von Kardorffs und Hans Georg von Studnitz’ die großbürgerlich-adlige Gesellschaft der Reichshauptstadt in "Aufzeichnungen aus dem Untergang" (Horstmann) ins Bewußtsein der provinziell-egalisierten, im Ambiente der "kleinstädtischen Assekuranz" eingerichteten BRD zurückholten.

Mit dem vielbändigen Werk über die Geschichte und Kultur der Deutschen jenseits von Oder und Neiße, mit den von Ulla Lachauer und Horst Bienek edierten memelländischen und schlesischen Bilderbogen hat Siedler vermutlich mehr gegen die geschichtspolitisch verordnete Eliminierung Preußens und seiner "geistigen Landschaften" aus der deutschen Geschichte getan als sonst jemand, der nach Hans Joachim Schoeps, "von großer Trauer ergriffen", den "Untergang Deutschlands, die nationale Tragödie, das Ende des Reichs" (Siedler) beklagt hat.

Wo kommt jemand her, der in "vornehmem Konservatismus" den Schmerz über die "vertane Geschichte" geradezu kultivierte? Was disponierte ihn zu elegischen Abgesängen auf jenes Preußen, das sich für Siedler nicht zuletzt in der militärischen Opposition gegen Hitler, im nationalkonservativen Widerstand des gelehrten Kreises der "Mittwochs-Gesellschaft" inkarnierte, deren "Sitzungsprotokolle" 1982 bei Siedler erschienen, als ein fast programmatisch zu verstehender Auftakt der Verlagsproduktion?

Die Autobiographie, die Siedler jetzt vorlegt, verspricht Antwort auf diese Fragen. Doch die "Welt der Eltern", die durch Vorfahren wie Schadow und Zelter mit der preußischen Klassik verbunden ist, gehobener Dahlemer Mittelstand, bürgerlich-liberale "Funktionselite", bleibt seltsam konturenlos. Ganze fünfzig von vierhundert Seiten sind dem bürgerlichen Arrangement mit dem Dritten Reich gewidmet. Wichtigster, wenn auch nicht origineller Ertrag dieser Rückschau ist das Fazit, daß der NS-Staat anders als die DDR mit seinem totalitären Anspruch nie Ernst gemacht habe. Die bürgerliche Welt bestand bis in die letzte Kriegsphase fort, sie überdauerte sogar den "Zusammenbruch" und ihr "milder Abendglanz" erlosch wirklich erst nach 1968.

Die eigentümlich irenisch-resignative Stimmung, die der Leser spürt, läßt zwar ahnen, warum Siedler diese "Kultur" als lebenslang prägende Kraft erfährt, aber es scheint doch fraglich, ob das politische Potential ihrer Trägerschicht mit dem Ende Weimars nicht auch erschöpft war. Vielleicht erklärt dies, warum nostalgische "Trauerarbeit", die nur noch dem "privaten seelischen Komfort des Einzelnen" dient (so Mohler in seinem meisterlichen Porträt Siedlers in Criticón 75/1983), zur Determinante eines Konservatismus werden konnte, der in Westdeutschland deshalb "toleriert" wurde, "weil er alles Gelände meidet, wo es wirklich ernsthaft und – gefährlich wird" (Mohler).

Zu oft muß Siedler, der sprunghaft, ja fahrig erzählt, einräumen, daß er sich an den bürgerlichen Alltag im Nationalsozialismus nicht genau erinnere. Die Mentalitäten und Befindlichkeiten der noch im 19. Jahrhundert wurzelnden Väterwelt, die irritierende, mit viel Sinn für die Komplexität des Wirklichen erfaßbare Gleichzeitigkeit des Inkommensurablen im Dritten Reich – damit wird man wohl ein für allemal nur in Walter Kempowskis Kollektivtagebuch "Echolot" (1994) vertraut. Jede individuelle, also auch Siedlers Erinnerungsarbeit, muß dagegen defizitär wirken. Das gilt erst recht für die Kapitel, die nicht mehr in der Welt seiner Eltern spielen, also die Internatserziehung auf Schloß Ettersburg, die Jahre als Flakhelfer auf Spiekeroog, die Haftzeit zusammen mit Ernst Jünger junior, der Kriegseinsatz in Italien, die Gefangenschaft in Afrika, die Monate politischer "Umerziehung" in England, die ihn während des Kalten Krieges für den anti-kommunistischen Posten des CIA-beeinflußten "Kongresses für kulturelle Freiheit" qualifizieren. Hier führt der Weg wieder aus dem Privaten zurück ins Bedeutsam-Allgemeine, das aber dem angekündigten zweiten Band der Memoiren vorbehalten bleibt.

 

Wolf Jobst Siedler: Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern. Siedler Verlag, Berlin 2000, geb., 384 Seiten, 40 Abb., 49,90 Mark


 
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