© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Die Tänzerin der Zukunft
Rainer Rother hat sich dem Faszinosum Leni Riefenstahl genähert
Doris Neujahr

Leni Riefenstahl hat sich um die deutsche Nachkriegsdemokratie verdient gemacht. Ein vergleichbares "symbolisches Feindbild", das sich so zuverlässig "für Schuldzuweisungen und -verschiebungen" eignete, hat es nach 1945 nicht gegeben. An der Kontrastgestalt der unbelehrbaren "Nazi-Filmerin" konnte noch jedes künstlerische und journalistische Mittelmaß seine Überlegenheit demonstrieren. Über diese Funktionalisierung ihrer Person, die sie keinesfalls erstrebt, vielmehr erlitten hat, ohne an ihr ganz unschuldig zu sein, hat sie zur mentalen Ertüchtigung der bundesdeutschen Gesellschaft beigetragen. Rainer Rother, Verfasser des neuesten Riefenstahl-Buches, läßt keinen Zweifel daran, daß eine enorme Heuchelei dabei mit am Werk war. Ein Volk der Mitläufer hatte sie sich zum Sündenbock erkoren, nach dem Motto: "Was ’wir nicht wissen konnten‘, das müssen andere, Mächtigere, Einflußreichere doch gewußt haben – zum Beispiel Leni Riefenstahl."

Allein ihre exponierte Stellung in der Filmproduktion des "Dritten Reiches" hätte dazu kaum ausgereicht. Andere waren weit problematischer in das Regime verstrickt und haben relativ unbeschadet ihre Karrieren fortgesetzt. Doch einer Frau verzieh man derlei nicht. Einer Frau, die früh klargemacht hatte, daß sie nur dem eigenen Willen gehorchte, und damit das traditionelle Geschlechterverständnis verletzte. In der Kritik, die sich später an ihrer Nähe zur NS-Macht entzündete, hallte lange der Ärger brauner Funktionsträger nach, die sich auf den Nürnberger Reichsparteitagen 1933 und 1934 nur widerwillig den Arrangements der "Herrin der Bilder" untergeordnet hatten. Stets bildete ein hämisches: "Das kommt davon!" den männlichen Subtext. Das von Luis Trenker in die Welt gesetzte, lüstern kolportierte Gerücht über Nackttänze vor Hitler bediente sogar Stereotype des Hexensyndroms, in dem das Böse auf durch Teufelsbuhlschaft verdorbene, in Wahrheit sozial unangepaßte Frauen projiziert wird. An Riefenstahl wurde exekutiert, was 1990 im deutschen "Literaturstreit" auch über Christa Wolf hereinbrach: Exponierte Frauen scheinen nach geschichtlichen Katastrophen zur exemplarischen Abstrafung besonders geeignet.

Der Stammtisch deutscher Meinungsführer kann von Glück sagen, daß Leni Riefenstahl keine Gelegenheit hatte, ihr "Penthesilea"-Projekt zu realisieren: Die Verfilmung des Kleist-Dramas über die Amazonenkönigin, "halb Furie, halb Grazie", über deren Tod es am Ende heißt: "Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! / Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, / Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, / Weil er in ihre Krone greifen kann."

Der Name Riefenstahl löste Pawlowsche Reflexe aus

Die Nachkriegsrezeption Leni Riefenstahls bietet Stoff für unterschiedlichste Fallstudien über eine traumatisierte Gesellschaft. Aufschlüsse über die Kunst und die Person der Riefenstahl enthalten sie indes kaum. Ihr Name diente als Reizwort, das Pawlowsche Reflexe auslöste. Erst in den siebziger Jahren nutzte es sich ab. Allmählich wurde die Regisseurin als bedeutende Figur der Filmkunst akzeptiert. Inzwischen ist sie, "noch zu Lebzeiten, in die Phase ihres Nachruhms eingetreten". Eine Ausstellung im Potsdamer Filmmuseum 1998 besiegelte ihre Rehabilitierung endlich auch in Deutschland. Der braune Einband des Katalogs allerdings ließ noch auf eine nachwirkende Befangenheit und das verschämte Bedürfnis schließen, Riefenstahls Kunst präventiv politisch "einzuordnen", sich von ihr zu "distanzieren", was den Blick auf das ästhetische Ereignis stellenweise eintrübte. Das neue Buch von Rainer Rother, Programmleiter des Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum in Berlin, ist ein erklärter Versuch, sich aus jeglicher Befangenheit zu lösen und Leni Riefenstahls Person und Werk vorurteilsfrei zu betrachten, zu analysieren und zu deuten.

Dazu distanziert er sich von undifferenzierter Verdammung genauso wie vom kritiklosen Geniekult. Riefenstahls Selbsterklärungen, niedergelegt in dickleibigen Memoiren und zahlreichen, immer gleichlautenden Interviews, bezeichnet er als "Fiktionen" einer Künstlerin, die sich in und für die Öffentlichkeit als Kunstfigur neu erschuf. Er weist nach, daß sie die Resonanz ihrer frühen Tanzkarriere durch Zitatenklitterungen schönte. Die Feindschaft von Goebbels, ein Herzstück ihrer Autobiographie im "Dritten Reich", ist wenigstens teilweise Legende. Ihr Unverständnis und die Unempfindlichkeit gegenüber Fragen und Vorwürfen zu ihrer privilegierten Stellung zwischen 1933 und 1945, die Anmaßung, eine Jahrhundertkatastrophe vor allem auf sich selber zu beziehen, wirkten taktlos. Sie war, wie gesagt, nicht ganz schuldlos am haßerfüllten Furor, der sie traf. Nebenbei relativiert Rother die verbreitete Auffassung, sie habe ihre Regiearbeit vor allem aus politischen Gründen nicht fortsetzen können. Während ein Veit Harlan sich nach dem Krieg mit Dreharbeiten im Studio begnügte, gingen Riefenstahls Planungen stets ins Gigantische. Gigantomanie aber war im Nachkriegsdeutschland nicht finanzierbar. Ihre Entschlossenheit, nur das wahrzunehmen, was sich in ein harmonisches Selbstbild fügt, deutet auf eine maßlose Egomanie. Doch diese Egomanie ist auch der unvermeidbare Teil jenes besessenen Künstlertums, das wiederum die Voraussetzung für ihr einmaliges, inkommensurabeles Werk war.

Leni Riefenstahl war auch als Schauspielerin, Tänzerin, als Spielfilmregisseurin und Fotografin erfolgreich. Ihr fortwirkender Ruhm aber gründet sich auf "Triumph des Willens" (1935) und die "Olympia"-Filme "Fest der Völker" und "Fest der Schönheit" (1938). Die unpolitische Haltung, die sie für ihre Person reklamiert, hält Rother für erwiesen, doch den behaupteten unpolitischen, ausschließlich dokumentarischen Charakter ihrer Filme widerlegt er überzeugend. Der doppeldeutige Untertitel des Buches, "Die Verführung des Talents", soll eine Künstlerin bezeichnen, die ihr Publikum überwältigt hat und selber überwältigt worden ist.

Der besondere, innovative Charakter von "Triumph des Willens" hängt mit der Anwendung narrativer Konventionen im Dokumentarfilm – der "Führer" schwebt, ohne daß er in einer ausdrücklichen Authentisierungsgeste gezeigt werden muß, mit dem Flugzeug in Nürnberg ein – und der Montage zusammen, die, so Gilles Deleuze, "Sprünge, Konflikte, Auflösungen und Resonanzen verwendet, kurz: selektiv und koordinierend (vorgeht), um der Zeit ihre wirkliche Dimension und dem Ganzen eine Konsistenz zu geben". Die Anfangsszenen zeigen einen ständigen Wechsel von Schuß und Gegenschuß, das heißt, die Kamera suggeriert den alternierenden Blickkontakt zwischen "Führer" und "Volk". Die Hierarchie in dieser Beziehung ist klar: Das Volk wird nur in der Aufsicht, von oben, Hitler in der Untersicht oder parallel gezeigt. Die Gesichter verzückter Frauen und Kinder werden in Großaufnahme ins Bild gesetzt: "In ’Triumph des Willens‘ lieben die Frauen und die Buben den Führer‘, während die Männer ihm folgen." Riefenstahl hat eine hochartifizielle Bildsprache gefunden, die geeignet war, die Volksgemeinschaftsideologie auf die Realität zu applizieren. Die affirmative Perspektive wird an keiner Stelle durchbrochen oder ironisiert, der Terror als Kehrseite des schönen Scheins bleibt außen vor: Der Film verleiht dem NS-Selbstverständnis seinen idealen Ausdruck, und Leni Riefenstahl wird, im Bestreben, "schöne Bilder" zu liefern, zur Propagandistin des Nationalsozialismus. Auch "Olympia", laut Kapitelüberschrift "Der beste Sportfilm aller Zeiten", ist – subkutaner – von propagandistischen Verweisen durchzogen. Der Olympiasieg eines deutschen Kugelstoßers wird mit dem Horst-Wessel-Lied, statt wie üblich mit der Nationalhymne, unterlegt, und als in der Einleitung die Fackelträgerstaffette die deutsche Grenze erreicht, wird das Hakenkreuzsymbol auf den Schriftzug "Deutschland" geschnitten. Den Kulminationspunkt des Prologs bildet eine Großaufnahme Hitlers, dem nach einem Schnitt die Menge im Stadion mit dem "deutschen Gruß" huldigt: Der Film "identifiziert die olympische Bewegung als Wiedergeburt der Antike im arischen Deutschland".

"Ein modernes Kunstwerk", so damals ein Filmkritiker, "kann als solches angesprochen werden, wenn es ästhetische Wirkungen hervorruft, ohne selbst ästhetischen Ursprungs zu sein." Getrost kann "modern" durch "nationalsozialistisch" ersetzt werden, und der nicht-ästhetische Ursprung waren selbstredend die Politik und Interessen des NS-Staates. Als Prototyp modernen Künstlertums galt diesem Kritiker – Leni Riefenstahl!

Wie kommt es, daß ein Werk, das von den Machthabern als genuin nationalsozialistisch vereinnahmt werden konnte, bis heute in weiten Passagen von durchschlagender Wirkung ist? Für Rother erklärt sich das vor allem aus den technischen Überwältigungseffekten. Damit entgeht ihm jedoch der bleibende ästhetischen Mehrwert der Filme. Das Ingenium Riefenstahls hatte in "Triumph des Willens" nämlich erfaßt, wie stark "Nürnberg 1934" auch einer verzweifelten, irrationalen, anachronistischen Disposition der deutschen Gesellschaft entsprach – und nicht nur der deutschen, wenn man die Erlebnisberichte ausländischer Besucher heranzieht – und in welchem Maße "Hitler" untergründige, kollektive Sehnsüchte verkörperte. Es ist denkbar, daß Thomas Mann bei der Charakterisierung von Kaisersaschern, dem Schauplatz seines "Faustus"-Romans (1947), von den Riefenstahl-Bildern inspiriert wurde: "Aber in der Luft war etwas hängengeblieben von der Verfassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts, Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie: (...) man konnte sich denken, daß plötzlich eine Kinderzug-Bewegung, ein Sankt-Veits-Tanz, das visionär-kommunistische Predigen irgendeines ’Hänselein‘ mit Scheiterhaufen der Weltlichkeit, Kreuzwunder-Erscheinungen und mystischem Herumziehen des Volkes hier ausbräche." Riefenstahls Film bietet eine unübertroffene, vielleicht unübertreffbare, Innenansicht aus dem Herzen des Nationalsozialismus. Ohne "Triumph des Willens" wüßte man wenig über die mentalen Strukturen einer totalitären Diktatur.

Rother entgeht, daß dieser "definitive Film des nationalsozialistischen Führerkults" das bis heute überzeugendste künstlerische Abbild Hitlers enthält. Hitler ist hier tatsächlich der "Führer", an den die Menschen ihr Verlangen delegieren, der ihnen die Befreiung von existentieller Angst verbürgt; für den umgekehrt die Zustimmung, die ihm entgegenschlägt, das unverzichtbare Lebenselixier darstellt. An diesem Befund ändert nichts, daß dieses "Führer"-Bild unvollständig und affirmativ erscheint, weil seine Nachtseiten unsichtbar bleiben. Ob Riefenstahl in der Lage gewesen wäre, diese ebenfalls künstlerisch umzusetzen, ist zweifelhaft. Im Verhör durch die Amerikaner erklärte sie Hitlers Grausamkeit mit dessen fortschreitender Isolierung vom Volk, was eine Übertragung der Energieströme verhindert habe. Daß diese Grausamkeit von Anfang an konstitutiver Teil der Beziehung zwischen "Führer" und "Volk" gewesen ist, kommt ihr nicht in den Sinn. Sie war dem zerstörerischen Charisma Hitlers, das sie so unvergleichlich schilderte, selber erlegen.

Ein Rezensent hatte 1923 im Berliner Tageblatt anläßlich einer Tanzauftritts Leni Riefenstahls notiert: "Es stolpert hier keine leichtsinnige Schöne die verworrenen Pfade zur Kunst empor; es grübelt in diesen Tänzen ein wahnsinniger Wille zur Erlösung von solchen Ketten des verwunschenen Leibes, es tastet in dieser Finsternis eine Demütige, es ringt ein Mensch mit dem Engel." Von Anfang an hatte sie das ästhetische Programm verinnerlicht, das Isadora Duncan (1878 – 1927), Ahnherrin des modernen Ausdruckstanzes, in der Vorlesung "Tanz der Zukunft" (1903) formuliert hatte. Duncan forderte eine umfassende, harmonische Erziehung von Körper, Geist und Seele durch Musik und Tanz und verkündete: "Ja, sie wird kommen, die Tänzerin der Zukunft, sie wird kommen als ein freier Geist, der in dem Leibe des freien Weibes der Zukunft wohnen wird."

Hitler als Held eines ästhetischen Programms

Wovon der "freie Geist" Riefenstahls "erlöst" werden wollte, zeigt ihr Spielfilm "Das blaue Licht" (1932). Am Ende werden die Bergkristalle, die bei Vollmond ein rätselhaftes Licht ausstrahlen, zur okönomischen Verwertung, für den sozialen Fortschritt, abgebaut. Durch die Entweihung ihrer Berggrotte verliert das von Riefenstahl gespielte Mädchen Junta den Bezirk seiner Freiheit und stirbt. Die stupiden Dorfbewohner sind durch die Vernutzung des Wunderbaren wohlhabender, nicht aber klüger und besser geworden: Dummheit paart sich jetzt mit Selbstbewußtsein. Der Maler Vigo, der ihnen – auch, um sich Junta zu unterwerfen – den Weg in die Grotte bahnte, muß erkennen, daß er, statt das Höchste zu erringen, das Beste verloren hat. Vigo ist ebenfalls zum Opfer einer männlich strukturierten Moderne geworden. Die Kraft einer Frau allein, das hatte Juntas Schicksal gezeigt, reichte nicht aus, um sich aus diesem Gefängnis zu befreien. Sie benötigte dazu den Meta-Mann. Den hat Leni Riefenstahl in Hitler gesehen und ihn deshalb zum Helden ihres ästhetischen Programms gemacht – und damit, beiläufig, NS-Propaganda vom Feinsten geliefert.

Man mag das alles naiv, hybrid oder selbstmörderisch nennen: Der Primat ihrer ästhetischen Idee, auf dem Riefenstahl besteht, wird dadurch nicht widerlegt. Es ist daher ein Kurzschluß, wenn Rother für "Triumph des Willens" und "Olympia" in toto den Charakter des Autorenfilms bestreitet. Riefenstahl, argumentiert er, sei es nicht darum gegangen, ein "persönliche Anliegen" mit einer "persönlichen Handschrift" zu verbinden, sondern "eine unpersönliche, rein handwerklich interpretierte Aufgabe zu lösen. (…) Perfektion ohne Provokation ist das Resultat." Die Berühmtheit ihrer Filme sei deshalb "nur zum kleineren Teil Resultat formaler Qualitäten, zum größeren Teil aber den Anlässen, Produktionsumständen und Funktionen der Filme geschuldet". Sie werde nur "so lange als eine große Regisseurin gelten, wie sich auch den Nimbus des Berüchtigten behält". Die weiteren Argumente lauten: Leblosigkeit, Entpersönlichung, Stilisierung, Monumentalisierung, Vermeidung der Zweideutigen, usw. usf.

Da möchte man ausrufen: Schade! Langer Anlauf, aber zu kurz gesprungen und schließlich doch bloß wieder im nahen Sandkasten von Kracauer & Söhne gelandet! Siegfried Kracauer hatte in dem Buch "Von Caligary zu Hitler" (1947) einen Vergleich zwischen Riefenstahl und einem sowjetischen Avantgarde-Regisseur angestellt und bei jenem das Stilmittel hervorgehoben, die Bewegungen "in einem Bild (zu gefrieren), das wie ein Stehkader irgendein Fragment bewegungsloser Realität präsentiert: es ist, als würde, indem das Leben zum Stillstand gebracht wird, das Innerste der Realität, ihr eigentliches Wesen enthüllt." Bei Riefenstahl jedoch scheine die "völlige Bewegung die Substanz verschlungen zu haben". Substanzlosigkeit also auch noch!

Dagegen ist zu fragen, ob der spezifische Blick der großen Riefenstahl-Filme nicht schon per se eine "Provokation" darstellt, weil er tradierte Erwartungszusammenhänge radikal durchbricht und, im Sinne einer "Ästhetik des Schreckens", blitzartig einen neuen Modus des Sehens evoziert, der, wie an "Triumph des Willens" beschrieben, neuartige, unbekannte oder verdrängte Realitäts- und Lebenszusammenhänge erkennbar macht. Der Vorwurf der Stilisierung, der Substanzlosigkeit gar, hat sich seit der Ausstellung der "Olympia"-Fotografien in der Berliner Galerie "Camera Work" erledigt. Als gerahmte Einzelfotografien demonstrierten die eingefrorenen Filmbilder mit überraschender Deutlichkeit, daß "Olympia" den Sportlern ihre individuellen Physiognomien nicht nur beläßt, sondern sogar noch verstärkt. Problemlos lassen sich in "Olympia" die unterschiedlichsten Wirklichkeitsschichten feststellen: die empirische Wirklichkeit im identifizierbaren Ereignis, die normative in den Regeln des Kampfes, die mythisch-archaische in den Antike-Zitaten, die utopische in der Sehnsucht nach Erlösung und Vollendung. Die Schönheit ist keinesfalls das Ergebnis antikisierender Stilisierungen. Die Sportler arbeiten sie, im Zusammenwirken mit der Kamera, aus sich selber heraus! Die Antike-Zitate fordern nicht zum Rückfall in die Vergangenheit auf, sondern sind Ansporn, sich dem verlorengegangenen Zustand der Grazie im sportlichen Kampf wieder anzunähern, wie Kleist es in dem Aufsatz "Über das Marionettentheater" beschreibt: "Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien auf der anderen Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat".

Das Bewußtsein, welches dem Zuschauer zum Beispiel aus dem Gesicht der Diskuswerferin Gisela Mauermeyer entgegenstrahlt, ist ein nahezu unendliches. Leni Riefenstahl hat ihren Figuren in "Olympia" die volle personale Würde belassen und sie gleichzeitig so dicht an die Grenze zur Vollendung geführt wie nur menschenmöglich. Das ist ihr bleibender Beitrag zur Weltkunst!

Bedürfnis nach elementarer, brutaler Körperlichkeit

Verstärkt greifen Künstler auf Elemente der körperbetonten "Riefenstahl-Ästhetik" zurück, um eine brachliegende Semantik neu zu besetzen. Die stets "engagierten", sich mit den Zeichen einer diffus-linken Protestkultur schmückenden Großstadtindianer hatte Pasolini bereits vor dreißig Jahren als Reflexbündel der Konsumgesellschaft und "Huren einer ungerechten Bilderwelt" verabschiedet. Den neuen, unpolitischen Heroen des Computerzeitalters kommt indes der Unterleib abhanden. In einer Gegenbewegung drücken Filme wie Claire Denis’ "Beau Travail" (1998) oder "Skin Flick" (1999) des Szenefilmers Bruce La Bruce, die in der Fremdenlegion bzw. der Skin-Szene spielen, das Bedürfnis nach elementarer, ja brutaler Körperlichkeit als ehrlichster Alternative zur Künstlichkeit modernen Lebens aus. Werke dieser Art mögen noch randständig sein: von der Peripherie aus zielen sie auf zentrale Leerstellen unserer Zeit.

Neuestes, bizarres Beispiel ist der dieser Tage angelaufene Spielfilm "Oi! Warning" der Regisseure Benjamin und Dominik Reding. In einem Interview wegen ihrer "Faszination von Leni-Riefenstahl-Ästhetik" zur Rede gestellt, antwortet einer der beiden Brüder zunächst politisch korrekt: "Nein, Frau Riefenstahl lehne ich ab. Wie sie ihre Karriere im Naziregime nicht aufgearbeitet hat, finde ich furchtbar, und das Monumenalisieren tut ihr nicht gut." Dann kommt er zur Sache selbst und fügt offenherzig hinzu, man müsse auch "die positive Seite" der "monumentalisierten Männlichkeit" darstellen. "Wenn ich gleich am Anfang sagen würde: ’Das ist alles Scheiße‘, kann ich ja gleich sagen: ’Schaut euch diese Monster an.‘ Ich muß die Faszination aber erst zeigen, bevor ich sie kritisiere."

Faszinosum Riefenstahl: Das amerikanischeTime Magazine zählte sie zu den 100 bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Gut möglich, daß, entgegen der Prognose Rothers, ihre wirkliche Renaissance erst noch bevorsteht.

 

Rainer Rother: Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents. Henschel Verlag Berlin 2000, 283 S., zahlr. Abb., 39,90 Mark


 
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