© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Der subventionierte Amoklauf
Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden
Günter Maschke

Nullus est liber tam malus, ut non aliqua parte prosit – Kein Buch ist so schlecht, daß es nicht in irgendeiner Beziehung nütze, pflegte Plinius d. Ä. (23–79) seinem Neffen und Adoptivsohn, dem jüngeren Plinius (61–113) tröstend zu sagen. Doch dank der nie genug zu preisenden Gnade unser aller Sterblichkeit ward es dem rastlos lesenden Gelehrten nicht vergönnt, Raphael Gross‘ "Carl Schmitt und die Juden" aufzuschlagen, und blieb es dem Admiral der Römischen Flotte versagt, vor den Untiefen dieser nicht auszulotenden Seichtigkeit zu erschaudern.

Wir sind einiges gewohnt und wissen, daß, wer sich die Füße an Carl Schmitt abstreift, gute Gesinnung beweist und es deshalb auf Kenntnisse und Genauigkeit nicht ankommt, handelt es sich doch um "ein politisch-moralisches Integrationsritual". Dem Pingeligen wird an dieser treffenden Bemerkung Vilmos Holczhausers das Wort "Ritual" stören. Denn so einig sich die zahllosen Schmitt-Verfolger waren, sind und sein werden – bisher streifte ein jeder seine Füße auf die eigene, gar zu individuelle Manier ab. Ein mächtig-weiser Ordner mußte kommen, auf daß sich das üppig geförderte, volkspädagogisch so erfreuliche Gewusel in ein wirkliches Ritual verwandele, auf daß aus dem Chaos Schöpfung werde. Nun ist er da, der große Liturgiker, der in genialer Einfachheit, mit einer einzigen Position und keinem Begriff, die Wirrnis beendet und gelassen sein Fiat lux spricht: überlebensgroß Herr Gross.

Herr Gross weiß etwas, das alle wissen, doch bringt er‘s nicht übers Herz, diese seine Sonderstellung zu verschweigen: Carl Schmitt war Antisemit. Das war er tatsächlich, wenn es auch für geraume Zeit (oder für immer) unklar bleiben wird, wie sein Antisemitismus funktionierte bzw. wie er sich zusammensetzte. Vor 1933 lassen sich keine antisemitischen Bemerkungen Schmitts finden, sieht man von dem harmlosen Spott auf Walther Rathenau in den "Schattenrissen" (1913) ab, der gleichwohl Gross erzürnt. Gross aber schließt aus dem Fehlen antisemitischer Bemerkungen auf deren "stillschweigende Allgegenwart" (so Thomas Wirtz in einer glänzenden Kritik in der FAZ vom 31.7., die ihren Gegenstand zu ernst nimmt). Sei vor 1933 ein antisemitisches Bekenntnis "einfach unklug" gewesen, so habe sich 1933 der wahre Schmitt entpuppt. Dessen Antisemitismus aber könne nicht reduziert werden auf einen mit nationalsozialistischen Girlanden umdekorierten, christlichen Anti-Judaismus. Doch gab es genug Professoren, auch Juristen, wie etwa Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven, die vor 1933 aus ihrem Antisemitismus keinen Hehl machten, ab 1933 es jedoch vorzogen, zu schweigen (der Vergleich fällt hier nicht zugunsten Schmitts aus). Wie es aber um Schmitts Antisemitismus auch stand, wie sehr man von Schmitts "Glossarium" aus den Jahren 1947/51 auch schockiert sein mag: die entsprechenden Textstellen und Fakten lassen sich auf wenigen Seiten ausbreiten. Wir kennen auch längere Aufsätze über die von Schmitt geleitete "Judentagung" (3. bis 4. Oktober 1936 in Berlin) und es sind auch ausführliche Studien, etwa über die Hintergründe dieser Tagung, denkbar.

Doch eine solche Arbeit leistet Gross nicht. Er will statt dessen das gesamte Werk Schmitts, das 1910 mit "Über Schuld und Schuldarten" einsetzt und erst 1983 mit dem Interview des italienischen Juristen Fulco Lanchester, "Un giurista d‘avanti a se stesso" (Quaderni costituzionali, 1/1938, Seite 5–34), endet, als bloßen Ausfluß, als getarnte Anwendung, als fachwissenschaftlich nur verbrämte Polemik wider den /die Juden verstehen. Gross möchte uns weismachen, er verfüge über den Universalschlüssel zu einem Haus, dessen Türen er noch nicht einmal von weitem gesehen hat. Denn Schmitts Werk ist in erster Linie Staatstheorie, Völkerrecht und Politikwissenschaft, es ist eng verbunden mit damaligen konkreten Problemen, und es bleibt verbunden mit weiter andauernden Fragen; was Schmitt von den Juden dachte, ist für ein Verständnis seiner Schriften nicht einmal von tertiärer Bedeutung. Selbst die beliebt gewordene Debatte um seine "Politische Theologie" führt zu nichts, verkennt man, daß sie im bloß Metaphorischen verharrt, – sie wird nur für soo wichtig erachtet, weil sie zu Spekulationen reizt, die sich inzwischen als Karikaturen fort und fort reproduzieren. Achselzuckend bemerkt Thomas Wirtz: "Der Jude als Artfremder (ist) der einzylindrige Motor, der Schmitts Werk über mehr als sechs Jahrzehnte am Laufen gehalten habe; ihn zu vernichten sei der Antrieb seiner langen und weit gestreuten Produktion gewesen." Weshalb ist noch niemand auf die Idee gekommen, das Werk Jean Bodins als eine Camouflage seines Hasses auf die Hexen und seiner Forderung, diese zu foltern und zu töten, zu deuten?

Solche Methode ist wissenschaftlich unsinnig (eigentlich sollte hier stehen "irrsinnig", aber was tue ich nicht alles für meinen Redakteur?) und nicht unverwandt der Verfahrensweise des Herrn Omnes, Napoleon aus seiner Körpergröße zu erklären. Für Gross sind alle Begriffe Schmitts, auch die so typischen Gegensatzpaare Nomos–Gesetz, Legalität–Legitimität, Land–Meer, Norm –Befehl, Macht–Recht, aber auch Beschleunigung, Katechon, Antichrist substantiell antisemitische Begriffe, die stets den Feind Schmitts, die Juden, im Visier haben. (Wie steht es mit "Verfassung-Verfassungsgesetz" oder mit "institutioneller Garantie"?). Wer der Moderne ablehnend oder auch nur skeptisch gegenübersteht (die bei Gross wenig mehr ist als die jüdische Emanzipation, ansonsten aber als schnurstrackser Weg zum Heil erscheint), der sollte sich vorsehen. Denn wenn es stimmt, daß die Juden besonders begabte Agenten der Moderne sind, sprich der Beschleunigung, Abstrahierung, Quantifizierung, Entortung, dann hat man auf derlei Hirnwebereien gefälligst zu verzichten. Da die jüdischen Juristen besonderem Wert auf die "formale" Legalität legen, ist schon jede Kritik an deren Alleinherrschaftsanspruch und jede Suche nach einer tragfähigen Legitimität verdächtig und gehört in den Orkus. Da die Vorstellungen vom Kommen des Antichrist antisemitisch getönt sein können, ist jedes Erschrecken vor dem Pax et securitas, mit dem der Mensch dem Menschen ausgeliefert wird, ist jedes Entsetzen vor einer rein quantitativen, nihilistischen Ordnung würgender Immanenz "böse" und "gefährlich".

"Gefährlich" ist übrigens ein Lieblingswort Gross‘, der sich hier gänzlich dem gouvernantenhaften Wissenschaftsbetrieb der BRD eingliedert. Und da der Nomos auch die Kritik des jüdischen Gesetzes beinhaltet (und weil es ihm um die Erhaltung der konkreten Völker als "Gedanken Gottes" zu tun ist?), ist er letztlich nichts als eine aufgetakelte antisemitische Spekulation. Wie fruchtbar und aufschließend ein Gedanke auch sei, – wenn er zu einer antisemitischen Conclusio führen kann, hat man sich seiner zu entschlagen. Am grauenvollsten ist für Gross natürlich das "Feinddenken", die Unterscheidung von Freund und Feind. Diese banalité supérieure impliziert jedoch auch zwingend, daß man nur mit einem Feind Frieden schließen kann, – solch simple Einsicht Schmitts, die auch das Urteil spricht über eine Welt, in der es keine Feinde mehr geben soll und die gleichzeitig vom Frieden schwätzt, entgeht Gross wie so vielen anderen. Über die Struktur, die Entwicklung, die lignes de force von Schmitts Werk, über deren Zusammenhang mit den Fragen, die die Menschen des 20. Jahrhunderts quälen und ängstigen (und die die des 21. Jahrhunderts noch ganz anders quälen und ängstigen werden!), erfährt man selbst bei Jürgen Fijalkowski, Mathias Schmitz oder Graf Krockow mehr.

Gross verplempert statt dessen seine Seiten mit schülerhaften Nacherzählungen, sei es der Deutung des Erbsündendogmas, einiger Thesen Kelsens, der Vorstellungen vom Nomos bei Albert Erich Günther und Wilhelm Stapel (die flugs mit denen Schmitts ineinsgesetzt werden), der Überlegungen de Maistres und Donoso Cortés‘ usw. Schwupp sind wieder 20–30 Seiten geschrieben, die das Herz des linksliberalen Bildungsspießers erfreuen (weil dieser meint, sich der Lektüre der betreffenden Autoren entschlagen zu können, da er wähnt, Gross habe diese wirklich sorgfältig gelesen: "Echo kommt vor jedem Wort"). Dieses hilflose Proseminaristen-Verfahren verwehrt es Gross, Schmitt dort zu kritisieren, wo es angebracht ist. Weil Schmitt sich lobend über de Maistres angebliche Thesen zur "Souveränität" und zur "Entscheidung" äußert, entgeht es Gross, daß der Savoyarde stets an "Wahrheit" interessiert war, daß für ihn die "Entscheidung" nur effektiv war im Dienste dieser einen, zwar bedrohten, jedoch unbezweifelbaren Wahrheit: Wichtig war, wie entschieden wurde, nicht, wie Schmitt gerne schrieb, daß. De Maistre war weder ein "Dezisionist", noch glaubte er, daß es nur auf eine "Entscheidung" ankomme, gleichgültig, wie diese beschaffen sei. (Ob mit letzterem Schmitt während seiner dezisionistischen Phase wirklich erfaßt ist, muß hier auf sich beruhen). Ähnliches gilt für Schmitts Deutung von Donoso, der nicht, wie Schmitt erklärte, die Diktatur forderte, weil er die Legitimität für erledigt hielt, sondern nur die Diktatur im Namen der Legitimität bejahte. Schmitt hat sich diese (und andere!) Autoren aufs Bedenklichste zurechtgeschnitzelt und sie gewaltsam zu seinen Vorläufern ernannt; dies zu demonstrieren (was freilich schon geschah), wäre ein sinnvolles Unterfangen gewesen.

Gross‘ in der Regel unholde Unwissenheit verrät sich auch, weist er dem Katechon eine zentrale Bedeutung für die katholische Theologie zu, – als wäre dieser in den Dogmatiken und Handbüchern nicht beinahe inexistent und als hätte nicht der schärfste katholische Kritiker Schmitts, Alvaro d‘Ors, die Entbehrlichkeit dieses Begriffes für ein christliches Geschichtsbild dargelegt: der Christ muß wollen, daß Sein Reich komme und darf gar nicht um Aufschub bitten. Gross hat keine Ahnung von Katholizismus, weiß aber, daß Schmitt "eigentlich" kein Katholik war.

Besonderes Augenmerk widmet Gross Hans Kelsen. Die Kontrapunktik Kelsen–Schmitt ist in der Sekundärliteratur beliebt und gibt ja tatsächlich einiges her. Sieht man jedoch von Schmitts "Politischer Theologie" (1922) und von Kelsens Polemik "Wer soll der Hüter der Verfassung sein?" (Die Justiz, 1930/31, Seite 576–628) gegen Schmitts "Der Hüter der Verfassung" (als Aufsatz zuerst 1929) ab, so bezieht sich Schmitt sehr selten auf Kelsen, Kelsen auf Schmitt so gut wie nie. Was Schmitt angeht, so ist die Ursache bekannt: er hielt Kelsens Werk schlicht für langweilig und banal und sprach allenfalls abfällig von den "ewigen Trivialitäten Kelsens".Laut Gross aber hat Schmitt Kelsen fanatisch verfolgt. Beklagte sich dieser 1934, im Vorwort zur "Reinen Rechtslehre", über die "schon an Haß grenzende Opposition gegen die ‚Reine Rechtslehre‘, so fingiert Gross, daß sich dies auf Schmitt beziehe, von dem in Kelsens Schrift nirgendwo die Rede ist.

Gross sieht nur Antisemiten und Antisemitisches

Viel schärfer als von Schmitt wurde Kelsen von dem Wiener Völkerrechtler Hold v. Ferneck oder von dem protestantischen Antinazi Rudolf Smend attackiert, geradezu brutal aber von Hermann Heller (vgl. dessen "Die Souveränität", 1927), der nota bene Jude, Sozialist und Emigrant war. Über diese und andere Kritiker Kelsens schweigt Gross. Jeder Zweifel jedoch, der gegenüber der "Reinen Rechtslehre" geäußert wird, die für Gross eine potenzierte Heilige Schrift ist, verrät schurkischen Antisemitismus, so daß – folgt man der Logik Gross‘ – der Jude Heller ein weitaus bösartigerer Antisemit sein muß als Schmitt. Kurz darauf erfahren wir, daß Kelsen "sich der Gefahr bewußt (war), die seiner relativistischen Weltanschauung von seiten der politisch-religiösen Theorie Schmitts" drohe und werden auf Kelsens "Staatsform und Weltanschauung" (1933, S. 29 f.) verwiesen, wo es jedoch um Jesus und Barabas geht und die "Volksabstimmung" (sich äußernd in der Forderung des jüdischen Pöbels, daß Pilatus Jesus kreuzigen lassen solle und nicht den Barabas) Kelsen nur dann als "ein gewaltiges Argument gegen die Demokratie" erscheint, "wenn die politischen Gläubigen (...) ihrer Wahrheit so gewiß sind wie der Sohn Gottes"; von Schmitt ist auch hier nirgendwo die Rede. Gross verfährt noch einmal so und macht den Leser glauben, daß Kelsen mit einer Passage aus "Der soziologische und der juristische Staatsbegriff" (Ausgabe 1928) auf eine Kritik Schmitts antworte, – doch gibt es weder diese Kritik noch einen von Kelsen auch nur erwähnten Carl Schmitt.

Eine weitere, noch üblere Methode Gross‘ darf man "assoziatives glissando" nennen: Wenn "selbst ein liberaler Theologe, wie Adolf v. Harnack" den Alten Bund mit dem Neuen für unvereinbar hält (als wenn vom Christentum aus etwas anderes möglich sei, Dialog hin, Hans Küng her!), so ist dies für Gross die Vorstufe zu Ernst Jüngers und Carl Schmitts Sorge, daß "durch die Exterminierung der Juden deren Moral nun frei und virulent" geworden sei. Von Sympathie für die Juden zeugen derlei Aussagen nicht, aber sie stehen in einem strikten Gegensatz zur Forderung, daß man sie ausrotte – Gross aber rückt sie in die Nähe dieser Forderung. Aufweis der Unvereinbarkeit von Altem und Neuem Bund und Ablehnung des Allgemeinwerdens der jüdischen Moral ist für ihn gleichbedeutend mit klammheimlicher Bejahung des Massenmordes!

So wie Antisemiten einer bestimmten Spezies nur Juden und Jüdisches sehen, so sieht Gross nur Antisemiten und Antisemitistisches. Wo Gross auch hintapert: Der Antisemitismus war schon da und hat die Landschaft vermint. Wenn aber dem der Grosschen Prosekution Unterworfenen gerade mal keine antisemitischen Gedankengänge nachzuweisen sind, so hat er sich ihnen doch hingegeben, "trotzdem" und "eigentlich": Hoch leben die Moskauer Trotzkistenprozesse! Gleichwohl schimpft Gross auf "Verschwörungsphantasien" und "-theorien" und vergißt, daß ohne Verschwörungen, die weder in Biarritzer Hotels noch auf Prager Friedhöfen stattfinden müssen, das Politische und die Politik gar nicht denkbar sind und daß "Verschwörung" seit Jahrzehnten ein seriöses Thema der Geschichtsschreibung und politischen Wissenschaft (nicht nur) in den romanischen Ländern ist.

Man mag erwarten, daß Gross etwas über die Ursachen des Antisemitismus sagt, d. h. über die Realitäten, die ihn provozierten; daß diese Realitäten verzerrt wahrgenommen werden können, kann nur bewiesen werden, wenn man sie untersucht. Doch Gross sieht nur jahrtausendealtes Vorurteil, ewigen Wahn, ein permanentes Kopfkino, eine geheimnisvolle, sich unaufhörlich aus dem Nichts erneuernde Urzeugung. Die ausgedehnte, jüdische Selbstkritik nicht nur vor und nach 1933, der Kampf der assimilierten deutschen Juden gegen die einströmenden Ostjuden zwecks Eindämmung des Antisemitismus u. a. m., – dies alles gibt es für Gross nicht. Bei Theodor Herzl lesen wir: "In den Bevölkerungen wächst der Antisemitismus täglich, stündlich und muß weiter wachsen, weil die Ursachen fortbestehen und nicht behoben werden können. – Die causa remota ist der im Mittelalter eingetretene Verlust unserer Assimilierbarkeit, die causa proxima die Überproduktion an mittleren Intelligenzen, die keinen Abfluß nach unten haben und keinen Aufstieg – nämlich keinen gesunden Abfluß und keinen gesunden Aufstieg. Wir werden nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert, bilden die Unteroffiziere aller revolutionären Parteien und gleichzeitig wächst nach oben unsere furchtbare Geldmacht". (Herzl, "Gesammelte zionistische Werke", Band I, 1923, Seite 39 und 41) Ein Vertreter dieser furchtbaren Macht bemerkt derweil zu einem anderen: "Was die antisemitischen Sympathien betrifft, so sind die Juden selbst hieran schuld und haben die Aufregung ihrem Dünkel, ihrer Überhebung und namenlosen Frechheit zuzuschreiben". (Meyer Carl Rothschild an Gerson von Bleichröder, 16. September 1875, zitiert nach: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, 1963, Seite 92). Friedrich Meinecke kam 1946 in "Die deutsche Katastrophe", gedruckt mit Erlaubnis der US-Besatzer, zu dem Ergebnis: "Zu denen, die den Becher der ihnen zugefallenen Macht gar zu rasch und gierig an den Mund führten, gehörten auch viele Juden. – Die Juden, die dazu neigen, eine ihnen einmal lächelnde Gunst der Konjunktur unbedacht zu genießen, hatten mancherlei Anstoß erregt seit ihrer vollen Emanzipation. Sie haben viel beigetragen zu jener allmählichen Entwertung und Diskreditierung der liberalen Gedankenwelt, die seit dem Ausgange des 19. Jahrhhunderts eingetreten ist" (Seite 53 und 29). Wer nicht von den Ursachen des Antisemitismus reden will, sollte auch von diesem schweigen, und schweigen sollte auch der, der sich weigert, dessen Realitätskern zu untersuchen, weil wahnhafte Reaktionen möglich sind. La verdad es siempre deliciosa.

Daß gerade "der assimilierte Jude der wahre Feind" sei, diese Wendung Peter F. Druckers aus seinem Buche "The end of economic man" (New York 1939) schreibt Gross Schmitt zu: Dieser hatte in seinem "Glossarium" (Seite 17/18) den Satz Druckers nicht klar genug als Zitat gekennzeichnet. Das Motiv für seinen Amoklauf findet Gross also in der sachlichen Feststellung eines jüdischen Intellektuellen! Schmitts oft verblüffende Nachlässigkeit im Umgang mit Zitaten, auch mit historischen Herleitungen, biographischen Behauptungen oder angeblichen Nachzeichnungen der Ideen anderer, die in Wirklichkeit Verzeichnungen sind, – hier wird sie rüde abgestraft, wobei sich der Abstrafer freilich selbst disqualifiziert: Gross warf keinen einzigen Blick in das von Schmitt immerhin deutlich genannte Buch Druckers.

Zweifel am Zustand der akademischen Welt

Die groben Schnitzer, die oft kleinen, dann aber Gross‘ Ignoranz und stultitia offenbarenden Irrtümer, die Nichtkenntnis selbst der Literatur, die ihm bei seinem Feldzug zupaß käme, – man findet kein Ende. Schreibt Schmitt etwa über Hitler: "Er wollte sich mit Gewalt in die weltbeherrschende Schicht und in ihr Arcanum eindrängen; er wollte es ihnen nicht entreißen, sondern nur daran beteiligt werden; er wollte aufgenommen werden in den feinen Club, endlich einmal ein ganz großer Herr sein, ein Lord. Jenes Arcanum aber lag tatsächlich in der Idee der Rasse" (Glossarium, Seite 157; bei Gross, Seite 358), so "beschrieb Schmitt sich damit selbst als einen Verführten des nationalsozialistischen Arcanums"! Gross kennt gar einen Bruder Schmitts namens "Georg", von dem selbst das schlaue Carlchen nichts wußte. Einen Aufsatz jedoch, dessen Autor Gross‘ Bösartigkeiten nicht erreicht, ihn aber wegen seiner Konfusion anregen könnte, straft er mit Nichtachtung: Jean-Luc Evrard, Les juifs de Carl Schmitt, in: Les Temps Modernes, November/Dezember 1997, Seite 53–100.

Der Text hat Gross "viele Jahre beschäftigt", – die tropisch wuchernde Fülle an Fehlern, Verschleifungen, Insinuationen, ganz zu schweigen von der grundsätzlichen Unergiebigkeit des Themas, lassen sich vielleicht auch damit erklären. Doch der Skandal liegt nicht darin, daß wieder einmal ein miserables Buch über Schmitt geschrieben wurde (unter den ca. 200 Monographien liegt die Gross‘ wohl im untersten Vierzigstel), sondern daß Gross eine ganze Heerschar von Beratern, Hinweisgebern, Helfern zur Seite stand, ganze 45, so ich richtig zählte. Hier finden sich bedeutende Gelehrte, wie Reinhart Koselleck, leidliche Kenner wie Dirk van Laak, ein Anti-Schmitt-Maniaque wie Bernd Rüthers. Einige dieser 45 Leute aus Deutschland, Österreich, Israel, Frankreich, den USA sollen sogar das Manuskript gelesen haben. Man muß also einmal mehr am intellektuellen wie am moralischen Zustand der akademischen Welt verzweifeln.

Gross wurde auch über Jahre hinweg von mehreren Stiftungen gefördert. In den deutschsprachigen Ländern fließen für jüdische Stipendiaten keineswegs Milch und Honig – sie stürzen vielmehr kataraktartig auf die Antragsteller herab. Jacob Taubes‘ Diktum, daß die jüdische Intelligenz in der BRD sich in einer Situation befinde, in der sie bis auf die Knochen korrumpiert werde, bewahrheitet sich ein weiteres Mal. Na also! Etwas kann man immer lernen, hätte der ältere Plinius gejauchzt. Ein jiddisches Sprichwort weiß es noch: Gott bewahre uns vor jüdischer Chuzpe, jüdischen Mäulern und jüdischem Köpfchen.

 

Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 441 Seiten, geb., 54 Mark


 
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