© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Nietzsche als geistiger Wegbereiter Harald Schmidts
Das ideale Konfirmationsgeschenk: Rüdiger Safranski offeriert die Biographie des "Zarathustra"-Philosophen
Angelika Willig

Wer kann ihn eigentlich noch hören, den Namen Nietzsche, nach diesem Jahr des gedenkenden Abfeierns, bei dem für die Zukunft nun wirklich nicht das Geringste herausgekommen ist? Das Beste, was mir einfällt, ist noch ein Beitrag von Reinhart Maurer in dieser Zeitung, der darauf hinweist, wie Nietzsche heute überall verharmlost werde. Was passieren würde, wenn man ihn nicht verharmloste, verrät aber auch Maurer nicht. Vielleicht würde der Strom von Veröffentlichungen etwas schmaler. Vielleicht aber auch nicht, wenn man sich die Flut von Kriminalromanen und Hitler-Biographien ansieht. Vielleicht ist es sogar so, daß die Ahnung von seiner Gefährlichkeit das besondere Interesse an dem Philosophen erklärt und die Verharmlosung eine verquere Art ist, das Interesse zu äußern. Der Mensch ist schlecht und schlechter, als sogar Nietzsche dachte. Denn Nietzsche hat zwar den Gutmenschen vorausgeahnt, aber nicht wissen können, wie sehr sich der mit sich langweilen und welche Teufel er wiedererwecken würde, nur um nicht mit seinesgleichen allein zu sein.

Doch auch Gespenster langweilen, wenn sie stets als Mumien auftreten, und Mumien bleiben sie, solange die Historisierung als Mittel der Verharmlosung so zum Gähnen wunderbar funktioniert. Ein Buch wie Rüdiger Safranskis "Nietzsche" möchte man seinem Neffen zur Konfirmation schenken, damit dieser nicht, wie einst man selber, seine Nietzsche-Lektüre mit Texten beginnt, die gar nicht richtig echt sind, um später nicht zu begreifen, wieso sie doch echt sind, ziellos im Nachlaß herumblättert, sich über den Haß auf Wagner wundert, irgendwo aufschnappt, daß Nietzsche auf Cosima eifersüchtig, obwohl eigentlich schwul war und jahrzehntelang an einer Psychose litt, weshalb seine Werke nur mit Freud in der anderen Hand zu lesen sind. Um dem Neffen oder jungen Studenten diese Irrungen und Wirrungen zu ersparen, mag man ihm ruhigen Gewissens Safranski in die Hand geben. Denn dort ist alles gewissenhaft und korrekt und der Reihe nach aufgezeichnet: von den autobiographischen Skizzen des Schülers über die "philologische Diät", das "Schopenhauer-Erlebnis" und die "erste Begegnung mit Wagner", die "Desillusionierung in Bayreuth", den "Versuch mit der Kälte", also die Wendung von der Kunst zur wissenschaftlich-kritischen Haltung, "die große Inspiration am Surlej-Felsen", das heißt die Lehre von der ewigen Wiederkunft, "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral" als "Abzweigungen auf dem Weg zum ungeschriebenen Hauptwerk" bis zum "Finale in Turin".

Die Werke sind ausführlich referiert und die Zitate so geschickt in den Text eingebunden, daß sie, nur durch Kursivdruck kenntlich gemacht, keine Stockung oder Störung im Leseverlauf verursachen. Fußnoten gibt es nicht, nur Stellenverweise in Klammern. Es ist so, als ob man den ganzen Nietzsche in einem durchläse und eine ausführliche Biographie dazu. Sehr ökonomisch auf 400 Seiten inklusive Rezeptionsgeschichte und kurzer informativer Chronik. Auf dreißig Seiten wird abgehandelt, wie Thomas Mann, Bergson, Simmel, Bertram, Baeumler, Jaspers, Heidegger, Adorno und Foucault auf Nietzsche reagierten.

Wie reagiert Safranski? Gar nicht. Er bleibt ruhig und läßt alles an sich ablaufen, wie er es schon in ähnlich angelegten Schriften zu Schopenhauer und zu Heidegger gemacht hat. Wer wird der nächste sein? Man wünscht sich Hegel und dann Descartes, so ließe sich mit einer Handvoll Safranskis das Philosophie-Studium ganz erheblich abkürzen.

Für jede Prüfung ist man auf jeden Fall bestens gerüstet. Schneidet wahrscheinlich sogar besser ab als die Kommilitonen, die sich in die Texte selbst verloren haben und garantiert nach einer wichtigen Stelle gefragt werden, die ihnen entging. Bei Safranski steht die Stelle mit Sicherheit, denn er weiß, was wichtig ist und was nicht. Wichtig für den Zusammenhang des Werkes und wichtig für die Philosophiegeschichte. Was wichtig für den einzelnen Studenten ist oder gar wichtig für die Deutschen, die Menschen oder die kommenden Generationen, das interessiert an der Universität überhaupt nicht und im Feuilleton auch längst nicht mehr. Wir leben in einer Informationsgesellschaft. Und gut informiert ist man mit Safranski gewiß. Nicht nur über Nietzsche, auch über seine Zeit, "die großen Entzauberungen", "das darwinistische Mißverständnis", den Einfluß Max Stirners. Man wird auch nicht oberflächlich und häppchenweise informiert wie beim Focus, sondern gediegen bildungsbürgerlich zieht alles an einem vorüber, wie Nietzsche nach Sils Maria kam, "was ihm dabei im Kopf herumging", nämlich "das ewige Werden", wie ihn in Genua ein milder Winter in die Stimmung der "Fröhlichen Wissenschaft" und die Arbeit am "Zarathustra" auch ohne Sonne in einen "Ausnahmezustand" versetzt hat.

Doch abgesehen vom Proseminaristen, wer will das eigentlich alles noch einmal hören? Nicht nur, daß wir die Passionsgeschichte des Antichristen inzwischen besser kennen als die von Jesus, sein Evangelium hat sich auch mittlerweile schon soweit erfüllt, daß es in Teilen überflüssig geworden ist. Safranskis Referat führt einem immerhin noch einmal deutlich vor Augen, welche Gedanken von Nietzsche auch heute noch "Dynamit" enthalten und welche ihr Pulver längst verschossen haben.

Der ganze Nihilismus, mit dem Nietzsche seine frühen Leser schockierte, die ganze Moralkritik und Vernunftkritik, wird doch heute schon von einer halben Stunde Harald Schmidt überboten. Die Erkenntnis, daß der Mensch von Natur aus egoistisch und triebgesteuert ist und jede Moral in Wahrheit die Interessen eines bestimmten Kollektivs ausdrückt, daran zweifelt doch heute gar keiner mehr, das verschweigt auch keiner mehr. Das "Jenseits von Gut und Böse" und die "Weisheit des Leibes" sind doch die allgemein verbreitete Haltung der Spaßgesellschaft. Daran ist heute nichts Schockierendes und auch nichts Erhellendes mehr, die Tradition bis auf die Grundmauern von Lust und Unlust zu stürzen. Das tut auch Nietzsche nur, weil er weiß, daß es ohnehin passieren wird. Inzwischen ist es passiert, und nun kommt das eigentlich Schockierende, das eigentlich Gefährliche und das eigentlich Neue, was Nietzsche so umschreibt: "Abgesehen davon, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegenteil."

Das Gegenteil von dem, was damals vorauszusehen war und heute eingetreten ist, stellt sich Nietzsche zur Aufgabe. Eine Aufgabe, die er nicht gelöst hat. Im Unterschied zum virtuosen Umgang mit der Zersetzung, in der Nietzsche schwimmt wie ein eleganter Raubfisch und den Heutigen ein immer wieder gern gesehenes Schauspiel bietet, japst er auf dem zu erobernden Neuland ziemlich hilflos und macht Bewegungen, die eher häßlich aussehen. "Zarathustra" mißlingt, "Der Wille zur Macht" bleibt ungeschrieben. "An diesen Lehren, besonders an der Verknüpfung der drei Lehrstücke von der ewigen Wiederkehr, vom Übermenschen und vom Willen zur Macht, wird er weiter arbeiten mit dem Bewußtsein, das Entscheidende immer noch nicht zureichend getroffen und formuliert zu haben", erklärt Safranski. Das ist richtig, aber es hinterläßt den falschen Eindruck, daß Nietzsche großartige Erkenntnisse geliefert, sich aber mit seinen Vorschlägen eher verrannt habe. Dabei sind die Erkenntnisse nur noch historisch relevant, die Vorschläge zwar unbeholfen, stehen aber ohne Alternative nach wie vor auf der Tagesordnung.

Kann man es von einer Biographie verlangen, "Lebendiges und Totes" bei einem Denker zu trennen, wie es Benedetto Croce einmal mit Hegel versuchte? Safranski ist kein Croce. Er wertet nicht, sondern behandelt Nietzsche als einen Gegenstand der Betrachtung, den es in jeder Richtung auszuloten gilt. Sein Buch hat ein Motto. Es handelt sich um ein Zitat Nietzsches aus einem Brief vom 29. Juli 1888. "Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir."

In einer Zeit, die Nietzsche fast durchgehend ignorierte, ist der Wunsch nach etwas Neugier verständlich. Inzwischen aber ist die Neugier auf "Fremdes" und Gefährliches in ekelhafter Weise verbreitet, und die Intelligenz wuchert auf Kosten des Glaubens, so daß das Motto dem Buch sicher seine Käufer verschafft. Zumal jede geistige Neugier da gestillt, jedes Hindernis gekonnt genommen wird. Die Wiederkunftslehre, vielleicht das heikelste Stück Weges, wird mit wohltuender Sachlichkeit geprüft und schließlich so ausgelegt, daß sie Sinn ergibt: "So wie Kant die moralischen Gebote stärken wollte, indem er ihnen die Unbedingtheit verlieh, ’als ob‘ ein Gott sie erlassen hätte, will auch Nietzsche seinen Imperativ einer ekstatisch-intensiven Diesseitigkeit stützen mit dem Argument, man solle so leben, ’als ob‘ jeder Augenblick ewig sei, weil er ewig wiederkehrt." Selbst die Verharmlosung kann man Safranski nicht direkt vorwerfen. Er gehört nicht zu denen, die beim "Übermenschen" jeden Gedanken an Biologie von sich bzw. von Nietzsche weisen. Auch hier wägt er die Stellen gegeneinander ab, die für oder gegen solche "nichts Gutes" verheißenden Deutungen sprechen, läßt sich auch von Nietzsches Polemik gegen Darwin nicht gleich auf die sichere Seite tragen. "Der Übermensch repräsentiert einen höheren biologischen Typus, er könnte das Produkt einer zielstrebigen Züchtung sein; er ist aber auch ein Ideal für jeden, der Macht über sich selbst gewinnen und seine Tugenden pflegen ..., der auf der ganzen Klaviatur des menschlichen Denkvermögens ... zu spielen weiß." So ist es sicher: "der Übermensch ist ambivalent" so wie auch die Wiederkunftslehre eigentlich ambivalent ist, denn "vergessen wir nicht, daß Nietzsche diese Lehre auch für wahr hielt im propositionalen Sinne: eine Beschreibung der Welt, wie sie ist". Sicher, denn ohne den "propositionalen Sinn" hätte der "existentiell-pragmatische" Sinn ja keine Geltung.

An solchen Punkten läßt sich "textimmanent", wie das an der Uni heißt, wunderbar interpretieren, und Safranski tut das auf hohem Niveau und ohne wissenschaftliche Wichtigtuerei. Es kommt ihm wirklich aufs Verstehen an. Hauptsache, wir haben Nietzsche "verstanden" und können sein Werk zur Gänze plausibel darstellen und nacherzählen. Alles weitere, wenn es da etwas weiteres geben sollte, bleibt reine Privatsache: "Nietzsche also arrangiert seine Bücher so, daß man auf der Suche nach den zentralen Gedanken im günstigen Fall auf eigene Gedanken stößt. Ob man ihn, Nietzsche, dabei entdeckt, ist nicht so wichtig; bedeutsamer ist, ob man das Denken entdeckt. Das eigene Denken ist die Ariadne, zu der man zurückfinden soll."

Jeder findet sich, und alle sind zufrieden. Wenn es dabei auch mal ein bißchen gefährlich wird oder "ambivalent", um so besser. Merken wir eigentlich noch, wie historistisch dieser ganze Betrieb schon seit langem wieder ist? Ein Wachsfigurenkabinett, wo wie bei Madame Tussaud’s in den oberen Stockwerken "die Guten", im Keller "die Bösen" gezeigt werden, aber alle so tot, daß kein Tourist seinen Bus versäumt. Sicher, es hat Foucault gegeben und andere Franzosen, die aus Nietzsche etwas Eigenes machten. Doch statt sich deren mutige Methode zum Vorbild zu nehmen und auf eigene Weise Nietzsche zum Leben zu erwecken, haben die Deutschen auch Foucault bereits mumifiziert, ihn mit gewissen Einschränkungen zu den "Guten" gestellt und glauben, ihm und sich und vielleicht auch noch Nietzsche damit einen Gefallen getan zu haben.

Ein interessanter Streit geht um die Frage, welches von Nietzsches Werken das bedeutendste sei. Es ist ein Streit unter Nietzscheanern, nicht unter Nietzsche-Forschern, denn in der Forschung und in der Wissenschaft sind auch die Fragen nach Wertung und Gewichtung prinzipiell nicht erlaubt, und es geht immer nur – wie bei Safranski – um Vollständigkeit und Ausgewogenheit. Die echten 150prozentigen Nietzscheaner halten natürlich den "Zarathustra" für das bedeutendste Werk, gerade weil das Buch Außenstehenden wie eine peinliche Anti-Bibel vorkommen muß. Moderne liberale Nietzscheaner schätzen die quasi aufklärerischen Schriften von "Menschliches-Allzumenschliches" bis zu "Jenseits von Gut und Böse". Politische Geister sind für den "Willen zur Macht", auch wenn sie ihn sich jetzt mühsam aus dem Nachlaß zusammensuchen müssen, um nach der wissenschaftlich-kritischen Ausgabe zitieren zu können. Die Rezensentin vertritt ganz allgemein die These, daß Jugendwerke meist bereits das Beste enthalten, was ein Schreiber zu bieten hat. Es ist alles schon ganz im Anfang da. Bei Nietzsche steckt in der "Geburt der Tragödie" das, was ihm am Ende nicht mehr zu sagen gelang. Die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" aber sagt alles über den Umgang mit der Tradition.

Welchen Nutzen oder Nachteil hat Safranskis "Nietzsche" für das Leben seiner Leser? Es hat den Nutzen, gegen die übelsten Fehldeutungen und Falschmeldungen gefeit zu machen, und den Nachteil, keine eigenständige Deutung anzubieten, mit der es sich auseinanderzusetzen lohnt. Es ist quasi neutral, quasi objektiv, quasi rein informativ. Und wir leben im Informationszeitalter. Ein besseres Buch dürfen wir uns also gar nicht wünschen.

 

Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. Hanser Verlag, München 2000, 398 Seiten, geb., 49,80 Mark


 
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