© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
Fahrten in Zeit und Raum
Die Buchmesse ist die weltgrößte Nabelschau bibliophiler Geister
Thorsten Thaler

Treffen sich zwei auf der Frankfurter Buchmesse, sagt der eine: "Schön, daß wir uns mal wieder- sehen. Das muß ja eine Ewigkeit her sein." Darauf der andere: "Wieso? Wir haben uns doch erst letztes Jahr hier getroffen." Jedes Jahr im Oktober erlebt die Stadt Frankfurt am Main das immergleiche Ritual: Ganze Heerscharen von Verlegern, Buchhändlern und Lesern, von Schriftstellern, Autoren und solchen, die vorgeben, welche zu sein, fallen in die Bankenmetropole ein, um sich einige Tage lang selbst zu feiern. Die Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr zum 52. Mal stattfindet, ist das weltgrößte Klassentreffen aller an Büchern Interessierten, eine Nabelschau bibliophiler Geister.

Zu den Ritualen, die mit der Buchmesse einhergehen, gehört auch die wohlfeile Klage über den Niedergang der Buchkultur – eine Klage freilich, die auch durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung nicht an Substanz gewinnt. Nach einer Umfrage im Herbst 1999 des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (infas) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung lesen mehr als die Hälfte aller Bundesbürger ab 14 Jahren, immerhin 58 Prozent, bis zu fünf Bücher im Jahr. Aktuelle Media-Analysen weisen aus, daß rund 56 Prozent aller Deutschen ab 14 Jahren mindestens einmal im Monat ihre Nase in Bücher stecken.

Demgegenüber wirken die Untergangsprophetien und Kassandrarufe einfach nur noch antiquiert. So fand es der Verleger Samuel Fischer schon anno 1926 sehr bezeichnend, "daß das Buch augenblicklich zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man verbingt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino (…) Man findet keine Zeit, ein Buch zu lesen." Nicht anders tönte es bald nach Anbruch des Fernseh-Zeitalters, und auch die heraufziehende Computer-Welt evozierte einen Kulturpessimismus, der dem Buch das Sterbeglöckchen läutete. Offenbar scheint es sich bei der Buchkrise um "ein qualvolles nicht enden wollendes Verenden zu handeln" (Botho Strauß).

Gewiß ist Literatur heutzutage einem harten Konkurrenzkampf mit anderen Medien ausgesetzt, und sicher haben sich auch die Lesegewohnheiten verändert, aber um das Buch muß einem trotzdem nicht angst und bange sein. In seinem Tagebuch "Jahre der Okkupation" (1958) notierte Ernst Jünger: "Tröstlich wie immer bleiben die Bücher als leichte, zuverlässige Schiffe für Fahrten in Zeit und Raum und darüber hinaus. Solange noch ein Buch zur Hand und Muße zum Lesen da ist, kann eine Lage nicht verzweifelt, nicht gänzlich unfrei sein."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen