© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/00 20. Oktober 2000

 
CD: Jazz
Sicheres Gespür
Michael Wiesberg

Der Jazzinteressierte, der Charles Lloyds neueste Einspielung "The Water is Wide" (ECM-Records 1734) erwirbt, dürfte seine Entscheidung kaum bereuen. Charles Lloyd, einer der bedeutendsten Tenorsaxophonisten, die der Jazz bisher überhaupt hervorgebracht hat, hat für sein neuestes Werk neben Billy Higgins (Schlagzeug) und John Abercrombie (E-Gitarre), die bereits auf Lloyds letzter Produktion "Voice in the Night" (ECM Records 1674) mitwirkten, den Pianisten Brad Mehldau und den Bassisten Larry Grenadier gewinnen können. Mehldau ist, um es salopp auszudrücken, der "Hauptansprechpartner" von Charles Lloyd. Dies gilt insbesondere für das Duett "Ballade and Allegro" und "The Monk and the Mermaid", das kontemplativste Stück des Albums. Lloyd ist mit "The Water is Wide" erneut ein beeindruckendes Album gelungen, das zeigt, daß dieser Ausnahmemusiker auch nach 35 Jahren Musikerdasein immer noch die Fähigkeit besitzt, seinem Instrument jene spirituelle Kraft zu entlocken, die ihn berühmt gemacht hat.

Kontemplativ kann auch die Musik des Bobo Stenson Trios bezeichnet werden, das mit "Serenity" (ECM Records 1740) nach "Reflections" (1993) und "War Orphans" (1997) bereits das dritte Album für das Münchner Label ECM vorgelegt hat. Die Doppel-CD "Serenity" bedeutet, dies kann an dieser Stelle ohne Abstriche festgestellt werden, eine neue künstlerische Qualität für dieses Trio, dem neben dem Pianisten Bobo Stenson der Bassist Anders Jormin und der Schlagzeuger Jon Christensen angehören. Die in diesem Album präsentierte Melange aus Elementen der Jazztradition, der Volksmusik, des Free Jazz, der klassischen Musik und der Neuen Musik sucht ihresgleichen. Ebenso die Mischung der eingespielten Stücke. In einem Interview mit der britischen Zeitung The Observer erklärte Stenson sinngemäß: Wir spielen in der Sprache des amerikanischen Jazz, aber wir bringen darüber hinaus noch andere Stilelemente mit hinein. Wir greifen auf verschiedene Traditionen zurück, hauptsächlich aus der Klassik und der Volksmusik. Diese verbinden wir mit dem amerikanischen Jazz, mit dem wir jedoch sehr frei umgehen. Dies erlaubt uns, unsere Musik in alle möglichen Richtungen zu entwickeln.

"Serenity" spiegelt diese Auffassung wieder: Unter anderen sind zwei Stücke von Hanns Eisler, eines von Charles Ives und eines von Alban Berg zu hören. Stetig und kontinuierlich hat das Bobo Stenson Trio in den letzten Jahren das seinige dafür getan, um zu einem der bemerkenswertesten Jazz-Piano-Trios der Gegenwart heranzureifen. Schon das in der Kritik sehr positiv aufgenommene Album "War Orphans" bedeutete einen erheblichen Fortschritt in der öffentlichen Wahrnehmung. "Serenity" dürfte ein weiterer wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum internationalen Durchbruch werden.

Daß auch Annette Peacocks "An Acrobat’s Heart" (ECM Records 1733) bei ECM erschienen ist, belegt erneut, welch sicheres Gespür ECM-Chef Manfred Eicher bei der Auswahl seiner Künstler hat. Die Atmosphäre dieses Peacock-Albums, das in Zusammenarbeit mit dem Cikada Quartett entstanden ist, erinnert an die Alben der Norwegerin Sidsel Endresen. Ähnlich den Endresen-Einspielungen zeichnet sich "An Acrobat’s Heart" durch eine emotionslose Ruhe aus, die durch Annette Peacocks spröde Stimme noch gesteigert wird. So zerbrechlich und unnahbar, wie Annette Peacock auf dem Cover des Booklets den Betrachter anschaut, so ist auch die Musik dieser Grenzgängerin des Jazz. Verheiratet ist Annette Peacock übrigens mit dem Jazz-Bassisten Gary Peacock, der sie an den Avantgarde-Jazz der sechziger Jahre heranführte. Peacocks "An Acrobat’s Heart" dokumentiert einen Grad von künstlerischer Reife, der auch im Jazz selten anzutreffen ist.


 
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