© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Opposition in der Zwangsjacke
CDU I: Die Union hat Schwierigkeiten, Themen für den Wahlkampf zu finden / Fraktionschef Friedrich Merz als Rettungsanker?
Paul Rosen

Die politische Korrektheit in Deutschland funktioniert: Als der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz auf eine Frage in einer Pressekonferenz antwortete, er wolle nicht ausschließen, daß die Ausländerpolitik Wahlkampfthema für die Union im nächsten Bundestagswahlkampf sein könne, ging ein Aufschrei des Entsetzens durchs Land: Von der SPD bis zum Zentralrat der Juden klang es unisono: Das darf er nicht. Mittlerweile zeigte der Westfale Merz, daß er das Zeug hat, Kampagnen loszutreten: Er legte noch einmal nach und stellte in einem Interview die Forderung nach einer deutschen Leitkultur, die Zuwanderer zu akzeptieren hätten. Der Aufschrei wiederholte sich – zum Teil auch wieder in der eigenen Partei.

Die Reaktionen auf Merz lassen zwei interessante Schlüsse zu. Erstens: Die Regierung Schröder versucht, nicht ohne Erfolg, gewisse Themen, die ihr unangenehm sind, aus der politischen Debatte herauszuhalten. Zweitens: Die zaghaften bis ablehnenden Reaktionen aus der CDU zeigen, daß die seit dem Parteispenden-Skandal durchgeschüttelte Partei noch nicht wieder zu sich selbst gefunden hat.

Schröder und Co. haben im Sommer dargelegt, über welches Thema die Republik ihrer Ansicht nach reden darf: Bekämpfung des Neonazismus. Hier überschlugen sich Minister und rot-grüne Politiker in Interviews, Schröder forderte sogar den "Aufstand der Anständigen" gegen alles, was rechts ist. Schon beim Thema Zukunft der Rentenversicherung sah das in den Augen der Regierenden ganz anders aus: Hier beschworen Arbeitsminister Walter Riester und Schröder den Konsens mit der Opposition. Das Thema Rente sei viel zu wichtig, um im Parteistreit zerrieben zu werden.

Die CDU und Horst Seehofer, selbst ein wichtiger Teil der CSU fielen auf das Konsens-Gerede herein. Daß Schröder die Opposition durch das Finden eines Kompromisses in die Mitverantwortung bringen will, wenn auch diese Jahrhundertreform in drei Jahren zwangsweise scheitern wird, erkannten viele Christdemokraten nicht. CDU-Chefin Angela Merkel neigt ebenfalls zum Konsens, aber aus einem anderen Grund: Sie hat Angst, daß sich die eigene Partei sonst zerstreitet, und glaubt, ein Konsens werde ihr Ärger vom Hals halten.

Erst recht fürchten die Rot-Grünen, daß das Ausländerthema hochkommen könnte. Die Fakten sind auch ihnen bekannt: Neun Prozent der Bevölkerung sind Ausländer, deren Anteil durch höhere Geburtenziffern weiter wachsen wird. Ganze Stadtteile in den Metropolen sind inzwischen ausländisch geprägt, die Integration will nicht gelingen. Auch in der dritten Generation lernen die meisten türkischen Kinder erst die deutsche Sprache, wenn sie in die Schule kommen. Ungebremst flutet ein Strom von Asylbewerbern ins Land, bei denen wirtschaftliche Gründe für die Ausreise aus der Heimat im Vordergrund standen.

Parallel dazu hat Schröder im Sommer eine Debatte über die Einreise ausländischer Fachkräfte eröffnet, die er mit einer seit ihrer Einführung nicht sehr erfolgreichen "Green-Card" ins Land zu holen gedenkt. Damit deckt er – unfreiwillig – das Dilemma der rot-grünen Ausländerpolitik auf: Gebraucht werden höchstens Fachkräfte, die Masseneinwanderung unausgebildeter Menschen liegt dagegen nicht im Interesse der Bundesrepublik.

Das erklärt die Reaktion auf den Nebensatz von Merz, er schließe nicht aus, daß die Ausländerpolitik ein Wahlkampfthema werden könne. Die SPD hat nicht vergessen, daß die CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zur Ablösung der rot-grünen Koalition in Hessen führte. Und tief sitzt die Angst der Sozialdemokraten, daß es der CDU erneut gelingen könnte, ein Thema zu besetzen und die Regierung vor sich herzutreiben.

Doch die Gefahr besteht im Moment nicht. Schon bei dem Versuch, eine bundesweite Aktion – nicht einmal eine Unterschriftensammlung – gegen die Ökosteuer zu starten, zeigte sich, daß die CDU nicht mehr in der Lage ist, Kräfte zu mobilisieren. Die Kampagne fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als der Spritpreis um zehn Pfennig nachgab.

Selbst Merz mußte feststellen, daß er mit seiner Forderung nach einer deutschen Leitkultur nicht viel Unterstützung in der eigenen Partei hatte. Zuerst watschte ihn selbst Merkel ab. Erst als die CDU-Chefin merkte, daß sie damit den Fraktionschef mehr beschädigen könnte, als ihr lieb sein konnte, ließ sie sich zur Abgabe unklar formulierter Solidaritätsadressen bewegen.

Merz hat jedoch Nerven gezeigt, die ein Fraktionsvorsitzender auch braucht, wenn er dauerhaft in seinem Amt bleiben will. Er weitete seine Aussage aus und forderte eine deutsche Leitkultur. Rot-Grün kam in erhebliche Argumentationsprobleme, wie sich am Beispiel der Sendung "Sabine Christiansen" zeigte: Weder der grüne Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch noch die baden-württembergische SPD-Spitzenkandidatin Ute Voigt kamen gegen die Unionsvertreter, den nordrhein-westfälischen Landeschef Jürgen Rüttgers und CSU-Generalsekretär Thomas Goppel, an. Goppel und Rüttgers weisen darauf hin, daß es in Deutschland eben üblich sei, Frauen nicht als Menschen zweiter Klasse anzusehen, und auch die Beschneidung von Mädchen hier nicht üblich sei. Interessant ein Einwurf von Rüttgers: Er fragte nach der Alternative zur "Leitkultur" und gab die Antwort: Das könne doch nur die multikulturelle Gesellschaft sein, die die Union ablehne.

Zuvor hatte Merz allerdings feststellen müssen, daß er in der Fraktion, die ihn im Frühjahr mit übergroßer Mehrheit zum Chef gekürt hatte, nicht nur Freunde hat. Sein Stellvertreter Volker Rühe fiel öffentlich im Spiegel über ihn her, die Unterstützung anderer führender Fraktionsmitglieder wie Wolfgang Bosbach kam erst zögerlich. Rühe hatte nichts weiter getan, als Rache zu nehmen: Der Fraktionsgeschäftsführer Hans-Peter Repnik, ein Minenhund von Merz, hatte Tage vorher gezielt in Berlin das Gerücht gestreut, die Fraktion sei unzufrieden mit Rühe, weil er weder in der Außenpolitik noch in der Verteidigungspolitik seit seiner Rückkehr aus Schleswig-Holstein etwas bewegt habe. Rühe machte – nicht zu Unrecht – Merz für die Attacken verantwortlich und übte Kritik am Chef.

Das kleinkariert wirkende Verhalten zeigt, wie zerstritten und wie labil die CDU derzeit ist. Die Gründe liegen nicht nur in den Folgen der Spendenaffäre, sondern auch im Mangel an klaren Vorgaben und an Führung, nicht nur in der Ausländerpolitik, sondern in fast allen Bereichen. Während Merz jedoch mehrfach punkten konnte, blieb Frau Merkel bisher jeder politische Erfolg vergönnt. Zu zögerlich erscheint die Vorsitzende, als daß es schnell zu einer Besserung kommen könnte. Vermutlich weiß sie selbst nicht, welchen Kurs sie steuern soll.


 
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