© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
CD: Rhythm & Blues
Sonnige Aussicht
Silke Lührmann

Rechtzeitig vor Beginn eines – darf man den Wetterpropheten der Boulevardzeitungen glauben – naßkalten Winters, in dem – darf man dem Politbarometer glauben – weiterhin all jenen ein eisiger Wind ins Gesicht blasen wird, die nonkonform oder gar meinungsfrei atmen wollen, fühlen sich die Bochumer Labels Trocadero Records und Roof Music berufen, ein bißchen Sonne in bundesrepublikanische Herzen zu scheinen. Und das gleich sechzehnfach.

"A Collection of Various Interpretations of Sunny" variiert Bobby Hebbs Original vom instrumentalen Gedudel der Arthur Lyman Group über Dusty Springfields Gewitscher bis zum Geknartsche des Schauspielers Robert Mitchum. Leider fallen die meisten der zwischen 1966 und 1969 aufgenommenen Versionen in die Rubrik "Intime Töne", unter der der Potsdamer Sender Radio Eins seinen Hörern allmorgendlich erlaubt, musikalische Peinlichkeiten aus ihrer Jugend zu exorzieren. Elevator music, sagt man dazu im angelsächsischen Sprachraum: Musik, die den Verbraucher im Aufzug, im gepflegten Restaurant nicht belastet und ihn schon gar nicht vom Einkaufen ablenkt. Selbst einer Soulgröße wie Wilson Pickett war "Sunny" schon 1967 nur mehr einen seichten Abklatsch seiner sonstigen Ausdruckskraft wert – dennoch zweifelsohne der Höhepunkt dieser Sammlung.

Entstanden ist das Stück in einem anderen unwirschen Winter, vor 27 Jahren. Immer wieder wird die Ermordung John F. Kennedys – zumal sie sich retrospektiv so nahtlos in den Kontext des Vietnamkrieges und der gesellschaftlichen Tumulte in den sechziger Jahren einfügt – zum Moment des kollektiven nachkriegswestlichen Unschuldsverlusts stilisiert. Für Bobby Hebb überschattete eine persönliche Tragödie diese Epiphanie: Einen Tag später, am 23. November 1963, kam sein Bruder bei einem Streit vor einer Bar in Nashville ums Leben. Daß der klebrige Frohsinn des Liedes eine Trotzreaktion auf soviel Trauer ist, bestreitet der inzwischen zurückgezogen in der Nähe von Boston lebende Hebb ebensowenig, wie er es bestätigt. Das sei alles eine Frage des Temperamentes, sagt der 59jährige, der immerhin mit 12 Jahren und als einer der ersten Afro-Amerikaner in der Grand Ole Opry, dem Heiligtum der amerikanischen Country-Szene, auftreten und später mit den Beatles auf Tournee gehen durfte: "Entweder du hast ein sonniges Gemüt oder ein lausiges, trübseliges. Entweder du schreist den anderen an oder du sagst: ’Laß uns nett und freundlich drüber reden.‘ Und diese nette und freundliche Art, die Dinge zu regeln, das ist ein sonniges Gemüt. "

Ein wenig erinnert dieser Meliorismus an eine andere kulturelle Errungenschaft, an der man momentan als braver Bildungsbürger nicht vorbeikommt: Lars von Triers neuen Film "Dancer in the Dark", in dem sich schicksalsgrausame Realität und euphorische Musical-Einlagen gegenseitig ausblenden. Für alle, die dem Film trotz seiner aufdringlichen Bewerbung entsagen wollen: Die Euphorie obsiegt, vielleicht gegen den Willen des Regisseurs; die politisch gemeinte Hinrichtungsszene wirkt als melodramatische Choreographie erlösend auf die Tränendrüsen der Zuschauer – selbst wenn Eiskönigin Björk sich nicht den Galgenstrick vom Hals reißt und die Fesseln sprengt, mit denen sie an ein Brett gekreuzigt wurde, um ihren Henkern triumphierend eine letzte Arie aus "The Sound of Music" entgegenzuschmettern. Das muß auch so sein, denn bei aller dogmatischen Ernsthaftigkeit ist "Dancer in the Dark" schließlich selbst ein Musical.

Der letzten Nummer, die Björk als Selma Jeskova so fürchtet, weil dann alles vorbei ist, nimmt die "Sunny"-CD allerdings den Stachel. Wer nicht schon lange vor der sechzehnten Wiederholung fluchtartig die Wohnung verlassen hat, um sich lieber doch dem Herbststurm auszusetzen, wird sie sehnsüchtig erwarten.


 
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