© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/00 27. Oktober 2000

 
Mitteleuropas familiäre Wurzeln
Wissenschaftsstandort Leipzig: Plädoyer für ein sozialhistorisches Forschungszentrum
Volkmar Weiss

Berechtigt ist die Frage, ob die Gegenstände, mit denen sich die etablierte Sozialforschung in Deutschland befaßt, den drängenden Notwendigkeiten des mitteleuropäischen Raumes gerecht werden, oder ob nicht – seit 1945 – als Reaktion oder Überreaktion auf eine tiefgreifende politische Fehlentwicklung und Niederlage noch immer ganze Forschungsfelder ausgelassen und unbesetzt geblieben sind, die für unser Selbstverständnis von Bedeutung sein sollten.

Zu solchen politisch kontaminierten Forschungsfeldern zählen die Bevölkerungswissenschaft in all ihren Verzweigungen undTeile der empirischen Sozialforschung, die sich mit sozialen Differenzen befassen, die nicht nur auf soziale Ursachen zu reduzieren sind, sondern auch auf genetische und ethnische Determinanten. 1904 war in Leipzig eine "Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte" gegründet worden, die sich in der Folgezeit zu einem Zentrum mit Weltruf entwickelte. Seit 1921 eng an die Deutsche Bücherei in Leipzig gebunden, dürfte die "Familiengeschichtliche Bibliographie" der Jahre 1900 bis 1950 das wertvollste Hauptertrag dieser Zentralstelle sein. Nachlässe wurden gesammelt und spezielle Karteien mit Daten über Millionen historischer Personen aus allen Sozialschichten angelegt. Bis 1933 war die Zentralstelle Sammelpunkt für die Vertreter aller Fachrichtungen, die Erkenntnisse gewinnen wollten über Familie und durch Abstammung entstandene Zusammenhänge. Dazu gehörten zahlreiche Fachleute der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. In den Jahren 1933 bis 1945 war es vor allem das erstaunliche Verdienst des nationalliberalen Geschäftsführers der Zentralstelle, Dr. Johannes Hohlfeld, daß die Zentralstelle nicht gleichgeschaltet werden konnte und von antisemitischen Aktivitäten völlig frei blieb. Und dies, obwohl zu einer völkische Instrumentalisierung der Familienforschung mehr als einmal angesetzt worden ist. Doch es gab vor 1933 nur einen einzigen genealogischen Verein, den "Deutschen Roland, Verein für deutsch-völkische Sippenkunde zu Berlin", der von seinem Mitgliedern bereits seit 1904 den sogenannten arischen Abstammungsbeweis verlangte und dessen Vorsitzender Dr. Bernhard Koener bereits 1920 die Errichtung eines Reichssippenamtes gefordert hatte.

In der DDR wurden die in der NS-Zeit im Rahmen des Schriftdenkmalsschutzes von dem dann tatsächlich geschaffenen Reichssippenamt verfilmten oder kopierten Kirchenbücher, die 1945 zufällig auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone deponiert waren, 1967 in der Leipziger Zentralstelle zusammengeführt, darunter von zahlreichen Gemeinden der früheren deutschen Ostgebiete, aber auch von Südtirol, der Krain (heute Slowenien), Siebenbürgen und dem Baltikum. Für Südtirol lag diesen Verfilmungen das Abkommen mit Italien zugrunde; für die Deutschen, die 1940 mit ihren Kirchenbüchern aus der Bukowina ins Wartheland umgesiedelt waren, entsprechende Klauseln in dem Abkommen mit der Sowjetunionion.

Die Bibliothek der "Deutschen Zentralstelle für Genealogie", diesen Namen trägt die Institution seit 1990, enthält heute nicht nur Hunderte von Firmenchroniken und genealogischen Sammlungen des Adels, sondern auch Tausende Arbeiten über bürgerliche und bäuerliche Familien. In den letzten Jahrzehnten sind dazu rund 1. 500 Ortsfamilienbücher gekommen, die jeweils die gesamte Bevölkerung eines Dorfes oder einer Stadt (nach Familien zusammengestellt) enthalten. Unter den Familien- und Heimatforschern Mitteleuropas ist das Verfassen und Drucken eines solchen Ortsfamilienbuches inzwischen zu so einer verbreiteten Beschäftigung, einer echten Graswurzel-Bewegung, geworden, daß gegenwärtig jährlich rund 200 neue Bücher erscheinen – inzwischen auch in zunehmender Zahl von den früher deutschen Gemeinden in Ostpreußen, Siebenbürgen, im Sudetenland und anderswo.

Das in zweiter Auflage 1998 erschienene Bestandsverzeichnis der Zentralstelle "Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig" (Neustadt/Aisch: Verlag Degener) weist darüber hinaus 480 wissenschaftliche Originalarbeiten nach (und diskutiert ihren Inhalt), die als statistische oder sonstige Auswertungen dieser Ortsfamilienbücher bisher erschienen sind. Während das 1997 in England veröffentlichte Werk von E. A. Wrigley et al. "English Population History from Family Reconstitution 1580-1837", das auf der Grundlage von nur 26 Ortsfamilienbüchern entstanden ist (mehr gibt es in England nicht), als letzte Errungenschaft der "Weltwissenschaft" auf diesem Sektor gilt, wurden von der Zentralstelle 1993 konkrete Pläne vorgelegt, auf der Grundlage von Stichproben aus 200 bis 300 Ortsfamilienbüchern für Mitteleuropa zu weit aussagekräftigeren Ergebnissen zu gelangen. Die Originaldaten der Stichproben sollten als Kopien bzw. Datenbanken auch anderen Forschungsinstitutionen zugänglich gemacht werden.

Die Arbeiten mußten jedoch 1997 abgebrochen werden, da die Deutsche Forschungsgemeinschaft sich aus rein finanziellen Gründen – alle Gutachter sprachen für die Weiterführung dieser Forschung – nicht mehr in der Lage sah, die Arbeiten in Leipzig zu fördern. Ständen Mittel zur Verfügung, so könnte für Mitteleuropa innerhalb weniger Jahren eine Bevölkerungsgeschichte geschrieben werden, die nicht nur die üblichen demographischen Grunddaten (wie die englische Arbeit) über Geburten, Heirat und Tod enthält, sondern auch einmalige Zeitreihen über die Entwicklung sozialer Strukturen, der Berufs- und Wirtschaftsstruktur, der sozialen Mobilität und der Bewegung im Raum, insbesondere der Land-StadtWanderung vom 16. Jahrhundert bis zum Anschluß an die Daten der heutigen amtlichen Statistik.

Der detaillierte Forschungsplan für diesen historischen Mikrozensus ist in Buchform veröffentlicht, und seine Machbarkeit auf der Grundlage der in Leipzig gesammelten Ortsfamilienbücher steht außer Zweifel, aber es gibt in Deutschland kein Geld dafür und die hochqualifizierten Mitarbeiter des Projekts sind inzwischen seit zwei oder drei Jahren arbeitslos. Der Leipziger Standort für Sozialforschungen, die genannte Zentralstelle, hätte sicher längst Mittel und Wege gefunden, die Arbeit weiter voranzubringen, wenn sie es denn nur dürfte. Denn im Juli 1995 wurde die Deutsche Zentralstelle für Genealogie, trotz der gegenteiliger Meinung zahlreicher Fachleute und der Bedenken politischer Kräften aus mehreren Parteien, in das sogenannte Paunsdorf-Center eingewiesen und dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig als Abteilung angegliedert. Sie verlor damit nicht nur ihren eigenen Finanzhaushalt, sondern auch die Möglichkeit, selbständig für ihre Interessen zu werben, ja jede erkennbare Perspektive.

Man kann nicht umhin, nach einem Jahrzehnt Existenz dieser Zentralstelle unter staatlicher Verwaltung das Fazit zu ziehen, daß sie, unabhängig von den Fähigkeiten des jeweiligen Vorgesetzen, in einer derartigen Zuordnung niemals gedeihen kann. Die Kooperation mit den Familien- und Heimatgeschichtsvereinen und Tausenden Privatpersonen erfordert einen Geschäftsstil, wie er in einer staatlichen Bürokratie nicht verwirklicht werden kann, sondern nur durch eine privatrechtliche Stiftung. Bis 1950 war die Leipziger Zentralstelle auch eine selbständige, aber vertraglich eng an die Deutsche Bücherei gebundene Stiftung. Sie wurde dann in eine Sammelstiftung überführt und 1956 dem Staatlichen Archivwesen der DDR geschenkt, das die Sammlungen u.a. um die Kirchenbuchverfilmungen staatlicher Herkunft bereicherte. Wenn die Leipziger Zentralstelle wieder eine Zukunft erhalten soll, dann nur durch die Wiedererrichtung einer Stiftung mit einem dazugehörigen Förderverein. Dieses Modell hat sich vor allem in den Niederlanden bewährt, wo die 1945 gegründete Stiftung "Centraal Bureau voor Genealogie" in Den Haag rund 15. 000 fördernde Mitglieder zählt, deren Zahl von Jahr zu Jahr steigt. Eine ähnliche führende Stellung hatte die Leipziger Zentralstelle um 1930 für Deutschland.

Vor 1945 war die Zentralstelle praktisch zugleich Fachverlag sowie bibliographisch- wissenschaftliche Leiteinrichtung für die Personen- und Familiengeschichte des deutschen Sprachraumes. Geleistet wurde diese gesamte Arbeit von einer einzigen Kanzleimitarbeiterin und einem außerordentlich fähigen und fleißigen Geschäftsführer, der in dieser Funktion nicht einmal hauptamtlich tätig war. Etwa ab 1970 arbeitete die Zentralstelle mit fünf hauptamtlichen Mitarbeitern und wurde in der DDR in erster Linie als Auskunftsbüro betrieben, um westliche Devisen einzunehmen. Erst ab 1990 versuchte man, partiell zu den ursprünglichen Aufgaben der Zentralstelle zurückzukehren, insbesondere durch die Sammlung und vollständige Erfassung der Ortsfamilienbücher Mitteleuropas.

Eine auf personen- und familiengeschichtliche Daten gestützte Sozialforschung hat eine große Zukunft. Wenn eine Zentralstelle ihre frühere Leitfunktion durch einen Kooperationsvertrag mit dem Dachverband der Genealogen wiedererlangt, dann hat sie auf indirekte Weise rasch 20.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Das ist etwa heute die Zahl der Mitglieder der achtzig deutschen Vereine für Familiengeschichte, mit steigender Tendenz. Eine große und ständig wachsende Rolle spielt die computergestützte Forschung. Personen- und familiengeschichtliche Daten haben eine relativ einfache und beschreibbare logische Struktur, so daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es Programme gibt, aus denen sich aus den schon vorhandenen Karteien und Publikationen die Daten in Stammdateien übertragen bzw. zu Ortsfamilienbüchern verarbeiten lassen. Auch ohne diese technischen Neuerungen ist bereits jetzt beim steigenden Arbeitstempo der Heimatforscher abzuschätzen, daß irgendwann zwischen 2020 und 2030 die Hälfte aller Einwohner, die seit Beginn der Quellen um 1550 in Mitteleuropa gewohnt haben, in Ortsfamilienbüchern und elektronischen Dateien erfaßt sein wird.

Daß diese Dateien auch ein Markt sind, haben bisher die wenigsten begriffen. Da Millionen Menschen einmal aus Mitteleuropa ausgewandert sind, die Menschen anderer Herkunft geheiratet haben und heiraten, verdoppelt sich etwa alle 40 Jahre die Zahl der Amerikaner, Australier usw., die bei uns ihre Wurzeln suchen. Eine kräftige Gebühr für eine Auskunft aus einer Internet-Datei (die etwa die Zentralstelle auf der Grundlage der Ortsfamilienbücher-Sammlung unterhält) ist für sie billiger als ein Flugticket. Ein Zentrum für mitteleuropäische Sozialforschung könnte sich damit mittel- und langfristig auf ein solides Standbein stützen, ohne darin seine Aufgabe zu erschöpfen.

Dieser Beitrag kann hier durchaus als ein erster Ansatz zu einem späteren, formalen Gründungsaufruf verstanden werden. Der Verfasser wäre bereit, erste Aktivitäten in diese Richtung zu koordinieren, müßte aber dann wegen seiner dienstlichen Bindungen in die zweite Reihe der Gründer zurücktreten. Da es zweifellos bereits mehrere Institutionen und Stiftungen mit ähnlichen Zielstellungen gibt, so wäre es die einfachste Lösung, wenn ein bereits bestehender Stiftungsvorstand seine Aufgaben so erweitern würde, daß die Sammlungen der Leipziger Zentralstelle darin ihren Platz fänden. Da der Freistaat Sachsen seit 1995 für die Weiterentwicklung dieser Stelle keine Konzeption hat, wird und sollte er letztendlich froh sein, die Verantwortung für diese Stelle in sachkundige Hände abgeben zu können. Diese Reprivatisierung kann aber weder Sachsen noch den Bund vollständig aus ihrer finanziellen Mitverantwortung entlassen. Man muß davon ausgehen, daß die Stiftung ein Kapital von 15 bis 20 Millionen Mark als Grundlage benötigt, wovon nur ein kleiner Teil aus regelmäßigen staatlichen Zuwendungen stammen kann.

Es gibt derzeit keine staatliche Institution, die sich verantwortlich fühlt, die personen- und familiengeschichtliche Literatur, einschließlich der kostbaren Ortsfamilienbücher, zu sammeln, zu bibliographieren oder gar auszuwerten. Vieles erscheint heute nur noch als computergestützer Ausdruck in kleinen Auflagen,und die Deutsche Bibliothek ist völlig überfordert, diese Materialien vollständig zu sammeln. Die skizzierte Stiftung für mitteleuropäische Sozialforschung könnte und sollte die familien- und personengeschichtlichen Sammlungen nur als Hintergrund ihrer Aktivitäten betrachten. Es wird von dem konkreten Personenkreis, der sich in der Stiftung zusammenfindet, seinen Interessen und seinen Kenntnissen abhängen, auf welche Felder sich die Arbeit erstrecken wird. Zu früh fixierte Begrenzungen düften der Entwicklung eher schaden. Wir werden nach der Entzifferung des genetischen Codes erleben, wie die Humangenetiker Erkennisse über die Natur des Menschen gewinnen, die vor unserer geistigen Ausstattung nicht halt- machen und neue Fragen über Wert und Sinn von Abstammung im sozialen Kontext aufwerfen werden. Ein Zentrum für mitteleuropäische Sozialforschung sollte sich diesen Fragen bewußt stellen und auf diesem Gebiet eine Vordenkerrolle übernehmen. Familiengeschichte hat stets auch etwas mit Familienpolitik zu tun, mit Rentenpolitik und nicht zuletzt mit Problemen der ethnischen Zusammensetzung einer "Bevölkerung". Wer die Mikrohistorie nutzbar macht, wird die Geschichte im großen beeinflussen. Mögliche Aktionsfelder der Stifung sind damit angedeutet.

 

Dr. Dr. Volkmar Weiss ist Historiker und Genetiker. (Kontaktadresse: Rietschelststr. 28, 04177Leipzig)


 
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