© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Falscher Alarm
Medien: Panikmache mit der "rechten Gefahr"
Phlip Plickert

Luis Marsiglia wurde ein Opfer rechter Gewalt. Am 18. September dieses Jahres erschien der 43jährigen Religionslehrer jüdischer Abstammung mit blutendem Kopf in einem Spital in Verona und erzählte, drei Vermummte hätten ihn mit Eisenstangen verprügelt. Er legte auch einen Drohbrief vor, unterzeichnet mit "Eviva Jörg Haider". "Über mangelnde Anteilnahme kann sich Luis Marsiglia nicht beklagen", schrieb die Süddeutsche Zeitung (im Unterschied zu dem vergangene Woche fast totgeschossenen NPD-Funktionär). Italiens Innenminister Enzo Bianco griff die parlamentarische Rechte vehement an, beschuldigte die Veroneser des Schweigens und Nichthinsehens. Marsiglia erhielt eine Polizeieskorte, Schüler versammelten sich zu Mahnwachen vor seinem Haus, und mehrere große "antifaschistische" Kundgebungen im ganzen Land schlossen sich an.

Letzte Woche kam dann die Enttäuschung: Luis Marsiglia ist ein Betrüger. Er habe die ganze Geschichte nur erfunden, um lästigen Fragen seines Arbeitgebers nach seinem Diplom zu begegnen, gestand er den Ermittlern. Die Platzwunde am Kopf hat er sich selbst beigefügt, den Brief selbst geschrieben. Nun erhält mancher vorhergegangener Kommentar einen neuen, unfreiwillig komischen Sinn. Die Stuttgarter Zeitung etwa meinte: "Italien reagiert rasch. Während in Deutschland rechte Gewalt jahrelang eher verharmlost wurde, reichte in Italien ein Überfall auf einen jüdischen Lehrer aus, um die Öffentlichkeit auf den Plan zu rufen."

Niemand wird bestreiten, daß es rassistische Übergriffe gibt, abscheuliche Gewalttaten, die schärfstens zu verurteilen sind. Doch ebenso muß man erkennen, daß unsere Medien und Politiker zu Überreaktionen neigen. Von politisch korrektem Eifer ergriffen, vergessen sie die elementaren Regeln des Rechtsstates. Werden Ausländer Opfer von Verbrechen, so stehen die Schuldigen sofort fest, auch ohne Beweise. Bis heute ist der Bombenanschlag von Düsseldorf nicht aufgeklärt. Inzwischen, so hört man von der Polizei, werde auch ein Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen und der Russenmafia nicht mehr ausgeschlossen. Die Vorverurteilung irgendwelcher "Neonazis" wird tagelang auf den Titelseiten breitgetreten, die Gegendarstellung steht dann später in einer kleinen Meldung in der Rubrik "Vermischtes".

Friedrich Küppersbusch, einer der schärfster linken Kommentatoren, bewahrte beim diesjährigen Sommertheater einen kühlen Kopf. In einem Artikel für die taz forderte er, die Düsseldorfer Kripo solle erst "die richtigen, nicht die passenden Täter finden".

Mitte August diesen Jahres meldete ein Münchner Boulevardblatt auf der Titelseite: "Nazi-Terror in Bamberg! Bombe vor jüdischer Villa gefunden". Allerdings war der letzte jüdische Bewohner des Hauses von rund zehn Jahren verstorben. Als ausgewiesener Linker durfte Küppersbusch spotten, demnächst werde wohl der "Lichterkettenpanzer" rollen: "1996 scharten sich Zehntausende zum Protestmarsch gegen Nazigewalt an einem Mädchen, dem ein Hakenkreuz in die Wange geritzt worden war. Bis sich herausstellte, daß sie sich in pubertärer Abirrung selbst verstümmelt hatte."

Mitte 1997 wurden in Krefeld bei einem Brandanschlag eine türkische Mutter und zwei ihrer Kinder getötet. Zustimmend zitierten die Zeitungen den damaligen türkischen Premier Erbakan, die Bonner Regierung trage mit einer angeblichen "Anti-Islam-Kampagne" Mitschuld. Die Anteilnahme und das Mitgefühl der deutschen Öffentlichkeit kühlten sehr schnell ab, als Videoaufnahmen den Familienvater Aziz Demir als den wahren Brandstifter überführten. Demir, der in der Haft Selbstmord beging, hatte Spielschulden und wollte vermutlich den Unterhalt für seine Familie sparen. Der Fall zeigt deutlich die heuchlerische Tendenz von Politik und Medien. Verliert das Verbrechen irgend etwas von seinem Schrecken durch die Tatsache, daß nicht Rassismus, sondern Habgier das Motiv war? An Schrecken nicht, wohl aber an Attraktivität für profilierungssüchtige Politiker!

Jedes Opfer ist in gleicher Weise zu bedauern. Doch beobachten wir – insbesondere bei Freunden der "Multikultur" – ein interessantes Phänomen, welches man "selektives Mitleid" nennen könnte. Nur zu oft werden die Leiden der Opfer fremdenfeindlicher Ausschreitung zu politischen Zwecken mißbraucht und in zynischer Weise für die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner instrumentalisiert. Wenn aber Kurden türkische Geschäfte zerstören oder Araber Synagogen – laut jüdischen Organisationen gab es seit dem jüngsten Ausbruch der Feindseligkeiten im Nahen Osten mehr als 200 Überfälle in Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland –, wird dies eher am Rande vermerkt. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen und Kulturen darf es nach der Multikulti-Ideologie gar nicht geben.

Seit 1992 sank die Zahl der Gewaltverbrechen mit erwiesenem oder vermutetem rechtsextremistischen Hintergrund von 1.485 auf 746, also ein Rückgang von fast 50 Prozent. In der ersten Jahreshälfte 2000 gab es sogar nur 330 registrierte Vorfälle.

Fremdenfeindliche Gewalt ist eine traurige Tatsache in vielen Ländern der Welt. Hierzulande ist das Ausmaß an Heuchelei beschämend. Erst durch ihre hysterische Berichterstattung schaffen die Sensationsmedien jene für Ausländer so bedrohliche Atmosphäre, die sie angeblich beklagen.


 
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