© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Den Konfliktfall denken
CDU/CSU-Fraktionschef Merz hat eine Debatte um den Begriff "deutsche Leitkultur" losgetreten
Karlheinz Weißmann

Es gibt in England neuerdings eine Debatte über Britishness, ausgelöst durch den "roten Ken", Ken Livingstone, den Oberbürgermeister von London, der am Trafalgar Square die Statuen zweier Militärs aus der Zeit des Empire entfernen und durch Alternativkandidaten ersetzen möchte. Welche das sein werden, ist noch unklar, aber soviel steht schon fest: sie dürfen nicht der bis dato vorherrschenden und subkutan "rassistischen" Konzeption von Britishness entsprechen. Es muß sich um Persönlichkeiten handeln, die das neue, also das multikulturelle Britannien verkörpern.

Für die Deutschen enthält der Vorgang auf der Insel die tröstliche Botschaft, daß sie nicht allein sind mit ihrer Debatte über die "Leitkultur". Das Wort ist seit dem Vorstoß des Unions-Fraktionsvorsitzenden Merz in aller Munde. Dessen Behauptung, es gebe so etwas wie die Verbindlichkeit deutscher nationaler Identität sogar für den Fall steigender Einwanderung und steigender ausländischer Bevölkerungszahlen, fand entschiedenen Widerspruch in der Regierungskoalition, aber auch in den Reihen seiner eigenen Partei.

Wie erklärt sich die aufreizende Wirkung des Begriffs "Leitkultur"? Wahrscheinlich durch die Schieflage, in der in Deutschland über alles gesprochen wird, was mit Deutschland und dem Deutsch-Sein zu tun hat. Als Jörg Schönbohm im Sommer 1998 – damals noch Berliner Innensenator – die Anerkennung der deutschen "Leitkultur" mit Blick auf die "Parallelgesellschaften" verlangte, die Einwanderer in den Gettos der Hauptstadt bildeten, führte das schon zu außergewöhnlich heftigen Reaktionen. Seine Gegner konnten bestenfalls eine "angebliche deutsche Leitkultur" (Wolfgang Thierse) ausmachen, der keinerlei Vorrang zustehe.

Seitdem wiederholte sich das Gefecht immer wieder in ähnlicher Schlachtordnung. So auf einer Tagung der Herbert Quandt-Stiftung im April 1999, bei der Bundesinnenminister Schily und sein bayerischer Amtskollege Beckstein aufeinandertrafen. Schily lehnte ausdrücklich eine für alle Migranten verbindliche "Leitkultur" ab, während Beckstein um so entschiedener für die Verteidigung der christlichen und europäischen Zivilisation plädierte. Ganz in diesem Sinn äußerte sich Anfang des Jahres Ministerpräsident Stoiber, während die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Beck, erklärte, daß von "keiner Leitkultur" mehr die Rede sein könne; die Regierung setze voraus, daß sich in Deutschland eine "pluralistische Gesellschaft" von Individuen gebildet habe, die die Werte der Verfassung teilten und die deutsche Sprache der Einfachheit halber als Kommunikationsmittel verwendeten. Das entspricht ungefähr dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller Gegner des Konzepts "deutsche Leitkultur": Auf einem zufällig entstandenen Territorium entschließt sich eine zufällig zusammengewürfelte Bevölkerung qua vernünftiger Einsicht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu akzeptieren, zu tragen und notfalls auch zu verteidigen. Die Eingewanderten besitzen ein unumstößliches Recht, ihre Kultur zu erhalten, soweit diese nicht mit Verfassungs-"Werten" kollidiert. Dagegen muß die Stammbevölkerung auf dieses Recht verzichten, da der Rekurs auf "Deutschheit" nur "Gefasel" ist, wie Merz von seiten der Grünen im Bundestag entgegengehalten wurde.

Die Meinung, daß es sich bei der Bezugnahme auf die "Leitkultur" um "Gefasel", und zwar um gefährliches "Gefasel" handele, ist nicht auf die Linke beschränkt, sie findet ihre Vertreter bis weit in die Mitte des politischen Spektrums. So wurde im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen mehrfach mit dosiertem Hohn gegen Merz und seine Anhänger Stellung bezogen (Christian Geyer: "Der Begriff der deutschen Leitkultur gehört als solcher nicht diskutiert. Er gehört aus dem Verkehr gezogen."). Bezeichnend für die innere Verfassung des bürgerlichen Lagers ist aber, daß in der FAZ auch eine prononcierte Parteinahme für Merz plaziert werden konnte. Im Leitartikel vom 24. Oktober hieß es, die Polemik gegen den Begriff "Leitkultur" habe mit der letzten und in ihrer Wirkung schwer kalkulierbaren Konsequenz jener "Entnationalisierung" zu tun, der die Deutschen seit der Mitte des Jahrhunderts unterworfen wurden (Berthold Kohler: "... das (Wahl-) Volk folgt nicht gehorsam den Vorgaben, was es als Bereicherung ansehen soll und was es nicht als als Bedrohung begreifen darf").

Diese Interpretation hat viel für sich, weil sie auch verständlich macht, warum die Verteidigung der "Leitkultur" durch ihre Befürworter so unsicher wirkt. Man scheut die inhaltliche Festlegung jenseits von Sprachkompetenz und Verfassungstreue, und niemand bemerkt, daß das Wort keine aggressive Note hat, sondern bestenfalls Verteidigungswillen signalisiert. Es liegt ihm die Vorstellung von der Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit aller Kulturen zugrunde. Nur aus pragmatischen Gründen wird der relative Vorrang einer einzigen behauptet, um die Autochthonen nicht zu beunruhigen und das politische System funktionstüchtig zu halten.

Gerade diese Art von Relativismus ist für eine Kultur fatal, denn Kulturen sind keine natürlichen Gebilde, die sich selbst erhalten und regenerieren (die "rechte" Illusion), so wenig wie es sich um "Konstruktionen" handelt, die man nach Belieben neu- und umbauen kann (die "linke" Illusion). Sie beruhen vor allem auf einer Menge von überlieferten Präferenzen, die im Konfliktfall aktiv verteidigt werden müssen. Der Konfliktfall ist grundsätzlich immer dann gegeben, wenn verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Es muß nicht gleich zum clash of civilizations kommen, aber diese Möglichkeit ist auch nicht grundsätzlich auszuschließen. Die launige Art, in der das ganze Problem reduziert wird auf die Alternative Bratwurst oder Döner oder Pizza, darf man so wenig ernst nehmen wie die Vorstellung, der Konsens in der multikulturellen Gesellschaft entstehe durch Diskurs. Es geht zuletzt immer darum, wer sich behauptet und wer sich nicht behauptet, im deutschen Fall: wer sich nicht behaupten will. Es geht immer um die Frage, welche Eliten die "Vorzugswerte" (Heinz O. Ziegler) einer Kultur festlegen oder deren Festlegung verweigern.

Die ganze Debatte zur "Leitkultur" ist nicht von allgemein-menschlicher Art, sondern eine europäische und ganz besonders eine deutsche Debatte. Sie beruhten allerdings auf den Vorgaben einer "Leitkultur", die anderswo in der Welt nicht gelten (der aus dem Christentum resultierenden Annahme von der Menschenwürde jedes Individuums, der aus der Aufklärung her kommenden Idee der vernünftigen Auseinandersetzung, der aus der Romantik stammenden Wertschätzung des Fremden), und sie läßt eine Bereitschaft zur Preisgabe erkennen, die so nur auf dem alten Kontinent denkbar ist.

Bassam Tibi, der in Göttingen lehrende Politologe, ein gebürtiger Syrer mit deutschem Paß, hat den Begriff der "Leitkultur" ursprünglich geprägt, um klarzustellen, daß Integration von Zuwanderern sich niemals auf einen formalen rechtlichen Aspekt beschränken kann. Integration bedeute selbstverständlich die Anerkennung und Übernahme bestimmter kultureller Muster. Tibi, ein Moslem, äußerte die Befürchtung, daß die Europäer längst den Willen eingebüßt hätten, ihre Identität – vor allem gegenüber einwandernden Moslems – zu verteidigen. Ihnen fehle es an Unterscheidungsfähigkeit im Hinblick auf das, was von den Anderen verlangt werden dürfe, und was nicht: "... aber Toleranz bedeutet nicht Selbstaufgabe".

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat. Seinen Text haben wir mit freundlicher Genehmigung der aktuellen Ausgabe der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift "Gegengift" (Edition Coko, Raiffeisenstr. 24, 85276 Pfaffenhofen) entnommen.


 
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