© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Alles ist schon passiert
Theater: "Parasiten" an der Berliner Schaubühne
Konstantin Nörenberg

Es gibt keinen Anfang. Denn alles fing schon an, bevor es losging. Die Theaterglocke mahnte, als noch gar keine Tür offen war, und die Schauspieler saßen schon auf Sofa und Klappstühlen, als die ersten hereinkamen. Auf die Rückwand werden meterlange Schlangenkörper projiziert, dazu eine Grzimekstimme, die Fortpflanzungs- und Freßverhalten erklärt. Der Geier, der seine Krallen in die Schlange schlägt, ist der geeignete Einstieg in die "Parasiten".

Das Stück des jungen Dramatikers Marius von Mayenburg feierte am vergangenen Wochenende Premiere an der Berliner Schaubühne. Unter der Regie von Thomas Ostermeier und nach dem Erfolgsstück "Feuergesicht" des Hausautors und Dramaturgen Mayenburg lagen die Erwartungen auf der jungen Generation, die nach den Baracke-Zeiten nun auf eigenen Füßen steht.

Ringo ist zum Krüppel gefahren worden und handelt fortan aus der Sitzperspektive. Im Rollstuhl vom eigentlichen Leben durch äußere und innere Umstände abgeschnitten, wird er im Verlaufe des Stückes zu der Figur, um die sich die Beziehungsmiseren flechten. Die schwangere Friderike droht mit Selbstmord, aber auch so ist die Aufmerksamkeit ihres Mannes Petrik nicht zu erkaufen, er füttert lieber seine Schlange mit lebenden Ratten. Sie stellt sich ans Fenster, doch Petrik ermuntert sie nur lakonisch: "Sehr gut, du kannst den Müll gleich mitnehmen, wenn du sowieso runter willst." Ihre Verzweiflung und Haß wenden sich nach innen, gegen sich selbst und gegen die "Schwellung, die zuschaut": ihr Kind, "ein Parasit mit Armen und Beinen". Parallel und in kurzen Szenenwechseln verwoben, machen sich Betsi und Ringo das Heim zur Hölle. Wie ein menschlicher Vierfuß, der eine abhängig vom anderen. Die Parasiten, das sind die anderen. Ringo tyrannisiert Betsi mit seiner Behinderung, er hat Lust an seinem Leiden, provoziert es selbst und lacht über die Zerknirschtheit des alten Multscher, der ihn zum Krüppel gefahren hat. Dem sei das Leben gerissen durch den Unfall, jetzt läßt er sich kommandieren, Gewissen macht gefügig. Ringo hingegen verläßt nie sein Zimmer und betrachtet die Welt durch ein Fernglas, Symptom der kalten Ferne, in der er zum vitalen Leben steht. Mark Waschke kommt dabei schwerelos mit den verbleibenden Ausdrucksmitteln aus, die Bedienung seiner zwei Räder beherrscht er von anbiedernd bis zänkisch. Seine Figur entwickelt er zu einer Inszenierung in der Inszenierung, in der er Petrik winseln und bellen läßt, Multscher ihn streicheln und mit Wurst füttern.

Der Kannibalismus dieser Beziehungen ist wie die stickige Luft im Terrarium, schwanger an Brutalität, gepolstert mit dem Gesetz des Stärkeren. Eigentlich wollten sie doch nur "einen geglückten Tag" erleben, statt dessen mischen sie immer mehr Zutaten in den Horror ihres Alltags. So überrascht auch nicht, daß so manche der häuslichen Requisiten an der weißen Rückwand zerschellen, die wie ein Vorwurf in ihrer Reinheit und Glätte das Zimmer überragt.

Zu jeder Zeit sind alle Schauspieler auf der Bühne, einzelne Gegenstände oder Worte kitten eine Szene an die nächste. Eine Maschinerie kommt in rasenden Takt, die jede Figur einfach mitreißt, die jede Möglichkeit einer Beziehung einreißt. Nachdem Mayenburg in "Feuergesicht" die Familie abgefackelt hat, sind seine Figuren groß geworden und sägen an der Zweisamkeit.

Während das mit dem Kleistförderpreis für junge Dramatiker ausgezeichnete und in sechs weiteren europäischen Ländern gespielte "Feuergesicht" seinen Vorzug in der fortschreitenden Handlung hat, vermißt man bei den "Parasiten" die Geschichte (Berliner Zeitung: "Nicht-Stück").

Alles ist schon vorher passiert, jetzt gilt es damit zu leben. Dafür sind die Figuren mit größerer Schärfe gezeichnet, ohne sich auf ein Deutungsmuster (soziologisch, psychologisch) festzulegen. Auch die Frage der Schuld erübrigt sich, sie verteilt sich kreisförmig und fließt zurück, woher sie kam. Wiederzuerkennen ist die Sprache, die zeitweise aus Gedicht und Prosa entliehen scheint. Gefühle und Bilder geraten damit ins Spannungsfeld zwischen auktorialer und schauspielerischer Darstellung.

Das Abbruchunternehmen Ostermeier hat mit Hammerschlägen von Witz und Bitterkeit noch eine Parzelle der Gesellschaft unbewohnbar gemacht. "Die ganze Welt ist bewohnt, wir sind das Lebendfutter."

 

Die nächsten Aufführungen von "Parasiten" an der Schaubühne am Lehninerplatz, Kurfürstendamm 153, finden statt am 5.,6.,7. und 8. November.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen