© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/00 03. November 2000

 
Patriotische Sichtweisen
Polen in deutschen Geschichtsbüchern
Jessica Rohrer

Als am 1. September 1939 die Wehrmacht ohne Kriegserklärung in Polen einrückte, zogen viele Soldaten mit einem Bild Polens in den Krieg, welches der Geschichtsunterricht der Kaiserzeit und der Weimarer Republik vermittelt und die Schulbuchliteratur gezeichnet hatte."

Frank Meier, der so seinen Aufsatz "Das Bild Polens nach dem ersten Weltkrieg in den Geschichtslehrbüchern der Weimarer Republik" in der in Wien redigierten Zeitschrift zeitgeschichte (Heft 2/00) einleitet, müßte in der heute üblichen moralisierenden Reduktion der Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen eigentlich zielsicher mit dem Fazit aufwarten, daß ein negatives Polen-Klischee mentale Dispositionen der deutschen "Aggressoren" geschaffen habe.

Tatsächlich scheint Meier dieser zeitgemäßen Versuchung am Schluß seiner Studie zu erliegen, wenn er ein "deutsch-national zentriertes Geschichtsbild" mit den Kriegsursachen vage verknüpft. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß der Verfasser simplen Bewältigungsschemata nicht erliegt. Besonders bemerkenswert und für weitere Untersuchungen dieser Art Hoffnung stiftend sind Meiers methodische Überlegungen: Bis heute gebe es keine Möglichkeit des geschichtsdidaktischen Vergleichs, da eine Analyse der polnischen Geschichtsbücher der Zwischenkriegszeit noch ausstehe. Daß deren Resultate manche polonophilen Illusionen zerstören dürften, deutet Meier unter Hinweis auf die Erhebungen des niedersächsischen Historikers Enno Meyer an. Meyer, Mitglied der deutsch-polnischen UNESCO-Schulbuchkommission, hatte 1985 die in den siebziger Jahren, also zu Zeiten sozialliberaler "Entspannungspolitik" im polnischen Ge- schichtsunterricht gebräuchlichen Lehrbücher analysiert und eine "patriotisch gefärbte Sichtweise" der Zwischenkriegszeit erkannt. Die Existenz einer jüdischen und einer deutschen Minderheit wurde darin bagatellisiert, prodeutsche Entscheidungen in den Abstimmungsgebieten als Folge antipolnischen "Terrors" diffamiert. Wenn solche Geschichtsklitterungen noch zwei Generationen später das polnische Deutschlandbild bestimmten, muß man kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß die von Meier vermißten Analysen der nach 1919 verwendeten polnischen Lehrbücher ungleich stärker chauvinistisch aufgeladen gewesen sein dürften.

Meier, der sich alle Mühe gibt, in Weimarer Geschichtsbüchern deutschnationale Instrumentalisierungen aufzuspüren, muß doch zugeben, daß etwa die Teilung Oberschlesiens "ein klarer Verstoß gegen das von den Alliierten proklamierte Selbstbestimmungsrecht" gewesen sei. Die deutschen Geschichtsdidaktiker hielten sich demnach also eher an die Fakten und gehorchten nicht den Gesetzen politischer Propaganda, sondern dem wissenschaftlichen Objektivitätsgebot. Daß die deutsch-polnischen Beziehungen trotzdem aus einer jeweils nationalen Perspektive dargestellt wurden, sei, so konzediert Meier, auch in der Weimarer Republik nicht anders zu erwarten: "Eine multiperspektivische Betrachtungsweise war für die damalige Zeit nicht üblich und ist es heute oft auch noch nicht."


 
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