© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
"Integriert und verwurzelt"
Günsel Gül Keskinler, Mitglied der CDU-Zuwanderungskommission, über die neue Einwanderungspolitik der Union
Moritz Schwarz

Frau Keskinler, sind Sie stolz darauf, Deutsche zu sein?

Keskinler: Ja, ich bin stolz darauf, Deutsche zu sein – mit türkischer Herkunft. Es sind doch erst die Komponenten, die mir die Stärke für mein Leben, meine Arbeit und mein Engagement in der Politik geben. Mein Vater kam 1969 als Facharbeiter nach Köln und hat meine Mutter und uns Kinder ein Jahr später nachgeholt, als er genug verdiente, um uns hier zu unterhalten. Meine Eltern vertreten die typische erste Generation, sie sind von vornherein als Gastarbeiter gekommen und wollten nach einer Weile wieder in die Türkei zurückkehren. So hätten sie es auch gemacht, wenn wir Kinder – hier aufgewachsen – nicht hätten hierbleiben wollen. Heute habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Wir sind hier integriert und meine Kinder hier in Bensberg verwurzelt.

Sie sind Mitglied in der CDU-Zuwanderungskommission. Mit deren gerade veröffentlichtem Positionspapier hat die Union Initiative in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik gezeigt. Hat man aber in dieser wichtigen Frage nicht viel zu lange gezögert, statt eine konservative Zuwanderungs- und Integrationspolitik zu gestalten?

Keskinler: Ja, das Thema blieb zu lange von der CDU unbehandelt, die Zeit und auch die Partei mußte reifen, um an diesem Thema konkret zu arbeiten. Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland, doch nicht de jure, deshalb begrüße ich, daß man sich endlich des Themas annimmt. Der Vorwurf, nur auf die Opposition zu reagieren, stimmt nicht. Zwar wurde unsere Zuwanderungskommission tatsächlich erst mit der der Regierung gegründet. Aber bei uns war von vornherein klar, daß auch Zuwanderer an der Arbeit beteiligt werden müssen. Die Regierungskommission hat erst einen Zuwanderer aufgenommen, als dies von so vielen Stimmen angemahnt wurde.

Der Kommissionsvorsitzende, Saarlands Ministerpräsident Peter Müller, hat zum Ausdruck gebracht, daß das Papier und seine persönlichen Ansichten nicht übereinstimmen. Wie ist Ihre Meinung zu den bisherigen Ergebnissen?

Keskinler: Ich bin sehr positiv gestimmt. Nur weil sich nach der Bundestagswahl 1998 abzeichnete, daß in dieser Richtung Tendenzen zu anderen Denkweisen zu sehen waren, bin ich ja überhaupt in die CDU eingetreten. Zwar gibt es auch noch Punkte, wo ich wie Herr Müller anderer Meinung bin, aber ich sehe das eben als ersten Schritt eines längeren Weges an. Es wird künftig noch diskutiert werden müssen.

Welche Fragen waren denn in der internen Diskussion bisher besonders umstritten?

Keskinler: Wir haben uns ja erst einmal – zur konstituierenden Sitzung – getroffen. Das war im Sommer – da "gab" es ja noch nicht einmal den Begriff "Leitkultur".

Dann ist das bisherige Papier eher ein von oben "durchgedrücktes" Ergebnis, für dessen Umsetzung die Kommission jetzt Wege erarbeiten sollen?

Keskinler: Ja, das bisherige ist mehr eine interne Sache. Die kommenden Sitzungen, die nächste Ende dieser Woche in Berlin, werden nun interessant werden. Erst jetzt beginnt die Arbeit.

Das Papier bedeutet eine 180-Grad-Kehre der Union: Bisher war man gegen weitere Zuwanderung, nun spricht sich Angela Merkel offen dafür aus.Wählertäuschung?

Keskinler: Nein, es gibt zwei Ursachen für diesen Kurswechsel: Erstens hat man endlich anerkannt, daß die Zuwanderung schon längst stattfindet. Zweitens verlangt es mittlerweile unsere wirtschaftliche Situation von uns. Übrigens ist es ein Prozeß des Umdenkens, der in ganz Europa stattfindet. Das braucht Zeit.

Das Papier spricht von einer "vernünftig geregelten Zuwanderung".Was ist darunter zu verstehen?

Keskinler: Ich plädiere diesbezüglich für eine Einwanderung nach dem Muster der klassischen Einwanderungsländer, also entsprechend den eigenen Interessen.

Warum soll Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland werden? Das "Argument", weil es das schon sei, kann schließlich auch als ein zu behebender Mißstand und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten als Ansporn für eigene Anstregungen verstanden werden.

Keskinler: Nein unsere wirtschaftliche und künftige soziale Situation braucht das. Aber es gilt auch unsere gesellschaftlich-kulturelle Vielfalt zu mehren. Erst dann wird Deutschland nämlich wieder stark in Europa und der Welt, nicht nur im Sport, wie zum Beispiel im Fußball, sondern auch in den neuen Branchen werden.

In welchem Umfang soll also Zuwanderung stattfinden?

Keskinler: Wir können natürlich nicht ausschließlich nur die hereinlassen, die wir brauchen. Wir brauchen auch die kulturelle Bereicherung. Wir lernen ja von anderen Kulturen, das nützt uns in unserer gesamten Entwicklung auf allen Ebenen. Wir brauchen also nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch den Umgang mit ihnen.

Ist diese Norm nicht allzu beliebig gefaßt? Denn mit dieser Argumentation wird Zuwanderung doch nicht mehr objektiv begrenzt, sondern ist in beliebigem Maße zu rechtfertigen.

Keskinler: Es werden Kriterien ausgearbeitet, die auch kulturell-geistige Aspekte berücksichtigen werden.

Das heißt im Klartext, es wird immer eine Hintertür zur beliebigen Erweiterung offen bleiben.

Keskinler: Von einer Hintertür möchte ich nicht sprechen, aber von einer flexiblen Denk- und Handlungsweise, wenn einmal der Bedarf da ist.

Ist es nicht ein schwerer Verstoß gegen das Prinzip der Demokratie, die Frage der Einwanderung im Walhkampf zu tabuisieren?

Keskinler: Ich bin gegen eine Tabuisierung. Allerdings, finde ich, man darf die Frage nicht als Kampfthema in der heißen Phase zulassen. Denn dieser Begriff hört sich für mich sehr aggressiv an. Diese Thema aber muß sehr sensibel behandelt werden. Also man muß daran gearbeitet werden, aber nicht unbedingt im Wahlkampf – Betonung auf der letzten Silbe.

Die Wahlen sind in Deutschland die einzige Chance zur Einflußnahme des Volkes. Wenn Sie sagen, diskutieren ja, aber nicht im Wahlkampf, könnte man das nicht als Hohn auffassen?

Keskinler: Aber nicht in der Kampfphase, denn dann wird nicht mehr sachlich darüber gesprochen.

Das mag sein, aber damit enthalten Sie den Menschen eine politische Entscheidung vor. Wie vereinbaren Sie das mit dem Prinzip der Volkssouveränität?

Keskinler: Grundsätzlich bin ich für Volksentscheide, allerdings müssen wir aufpassen, wann wir zum ersten Mal in Deutschland damit beginnen, wie wir es machen und mit welchem Thema. Die Themen Zuwanderungs- und Ausländerpolitik sind zu komplex und sensibel, um damit zu beginnen.

Das Papier spricht vom "Abbau übertriebener Ängste" vor der Zuwanderung im Volk. Wie ist zu unterscheiden zwischen übertriebenen und angemessenen Ängsten?

Keskinler: Es sind starke Gefühle, die man nicht unbeachtet lassen darf. Man kann dem nur durch Aussprache und gegenseitiges Näherkommen begegnen. Ich verstehe völlig, wenn sich eine deutsche Familie unwohl fühlt, wenn sie plötzlich von lauter Zuwanderer-Familien umgeben ist. Solche Probleme können nur im Dialog ausgeräumt werden. Vor allem aber brauchen wir dazu positive Vorbilder! Zum Beispiel in der Politik – Ausländer, die etwa im Bundestag für Deutschland Politik machen. Nicht nur die privaten multikulturellen Feste sind wichtig, sondern auch integrierend wirkende Persönlichkeiten im öffentlichen Raum. Es gibt natürlich heute schon zahlreiche positive Beispiel dafür, die aber leider meist noch zu wenig ins öffentliche Bewußtsein dringen. Es muß alles selbstverständlich werden.

Laut Shell-Studie 2000, die im Frühjahr diesen Jahres veröffentlicht wurde, wünscht die überwiegende Mehrheit der deutschen Jugend, einerseits mit den hier lebenden Ausländern friedlich und gemeinschaftlich zu leben, andererseits aber keine weitere Zuwanderung mehr. Wie verträgt sich das mit dem Beschluß der Kommission?

Keskinler: Zunächst mal halte ich das dort zum Ausdruck gebrachte Votum der deutschen Jugendlichen für eine völlig menschliche Aussage. Allerdings bin ich bei solchen Erhebungen vorsichtig, denn würde ich die deutschen Kumpels meines Sohnes – er ist sechzehn – fragen, würde sich ein ganz anderes Ergebnis einstellen. Was hören denn die jungen Menschen? Die Ausländer kommen, nehmen uns die Arbeitsplätze weg und bringen Kriminalität und Unruhe zu uns. Das sind negative Bilder, denen muß man eben – ich sagte es gerade – mit positiven Bildern begegenen. Deshalb würden ja die Freunde meines Sohnes anders antworten – weil sie eben andere Bilder im Kopf haben. Daß dann alle miteinander auf dem Arbeitsmarkt um Stellen konkurrieren müssen, ist natürlich klar. Das soll man auch nicht verschweigen, aber das ist eben das marktwirtschaftliche System.

Auf gut deutsch: Letztlich ignorieren Sie das Votum der Shell-Studie?

Keskinler: Es handelt sich um eine Meinungsäußerung. Ich halte es für legitim, Meinungen – sofern man sie ernst nimmt – durch Überzeugungsarbeit zu revidieren. Nochmal: Ich werfe den Jugendlichen ihre Äußerung in keiner Weise vor, im Gegenteil, sie ist nur menschlich.

Viele werfen den Deutschen das politisch korrekt als "Ausländerfeindlichkeit" vor.

Keskinler: Oh, gerade mit dem Begriff "Ausländerfeindlichkeit" möchte ich sehr behutsam umgehen. Nicht jeder, der mal eine negative Äußerung über Ausländer macht, ist "ausländerfeindlich". Sowenig, wie ich etwa deutschfeindlich bin, wenn ich zum Beispiel immer wieder sage, die Deutschen seien oft engstirnig und unflexibel. Daß wir in unserer Gesellschaft auch echte ausländerfeindliche Menschen haben, ist doch vollkommen klar. Leider ist der Rassismus viel enthemmter geworden als vor einigen Jahren.

Das Papier spricht nirgendwo davon, wie der Import von ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikten verhindert werden kann.

Keskinler: Es ist absolut falsch, wenn wir Zuwanderer Konflikte hierher bringen. Wir sind hier eine Minderheit, und wenn wir uns zu Deutschland, also einem Leben hier bekennen, dann müssen wir die Konflikte unserer ursprünglichen Heimat auch den Menschen dort überlassen, dies bedeutet natürlich nicht, daß wir desinteressiert gegenüber Vorkommnissen in unserem Herkunftsland sein sollten. Allerdings gebe ich zu, daß dieses Problem nicht in unserem Papier auftaucht, ist ein Mangel. Allerdings, wie ich schon erklärt habe, steht die Arbeit der Kommission noch am Anfang. Dann ist das ein Beispiel dafür, wo noch verbessert werden muß. Das Papier wird sich sowieso immer wieder ändern. Es wird leben.

Außer den Deutschen haben auch die Ausländer in Deutschland erfahrungsgemäß sogar noch größere Vorbehalte gegen weitere Zuwanderung. Inwiefern berücksichtigt das Papier die Gefühle und Bedenken dieser Menschen?

Keskinler: Das ist sicherlich ein Problem. Natürlich wird mein Sohn, der demnächst mit jungen Experten aus dem Ausland konkurrieren muß, auch die gleiche Leistung wie diese erbringen müssen. Aber das sind doch nur allzu menschliche Bedenken. Das würde ich nun nicht überinterpretieren. Natürlich trifft es eventuell eher die sozial Schwachen, vielleicht sogar tatsächlich eher die Ausländer in Deutschland. Da muß eben die Politik einiges leisten und die Ängste den sozial schwachen Bürger nehmen.

Was verstehen Sie unter dem umstrittenen Begriff "Leitkultur"?

Keskinler: Ich verstehe darunter, daß eine Kultur überlegen ist und die anderen anleitet. Es gibt also eine "leitende" Kultur und "angeleitete" Kulturen.

Das klingt positiv, nämlich nach konstruktiv gestaltetem Zusammenhalt und Gemeinschaft.

Keskinler: Ja – aber es hört sich nicht nach Team an, sondern nach Leitung. Erst wenn man im Team denkt, ist die Gruppe stark. Deshalb trete ich ein für eine Kulturenvielfalt, so wie es hier ja auch schon stattfindet.

Also das Konzept der Multikultur?

Keskinler: Nein! "Multikulturell" hört sich für mich zu unübersichtlich an. Ich aber will meine Identität als Türkischstämmige mit den Elementen der deutschen Kultur aufwerten.

Was für alternative Modelle zur Integration wurden in der Kommission diskutiert?

Keskinler: Soweit sind wir noch nicht. Die eigentliche Arbeit beginnt ja erst jetzt.

Dann kann es passieren, daß der Begriff "Leitkultur" auch wieder herausdiskutiert wird?

Keskinler: Das weiß ich nicht. Das hängt wohl davon ab, wie die anderen Kollegen darüber denken und mit dem Begriff umgehen.

Das Papier wurde von Angela Merkel als Bekenntnis zur Nation bezeichnet. Müssen wir unsere Nationalität also in Zukunft nicht lebendiger leben, damit die Integration von Deutschen und Ausländern zu einer gemeinsamen Nation nicht nur papierene Theorie bleibt?

Keskinler: Auf jeden Fall! Ich will den Grund erklären: Integration ist ein Prozeß. Das heißt, alle Beteiligten müssen daran teilnehmen. Nicht nur einerseits die Zuwanderer, sondern andererseits auch die Deutschen und ihre Ausländer hier. Das heißt auch die Deutschen müssen aktiv mitarbeiten. Ein neues deutsches Nationalgefühl kann das Ergebnis darstellen.

Gilt es also "mehr Patriotismus zu wagen"?

Keskinler: Ja, wenn Patriotismus nicht den "Kampf für etwas" darstellt, wie es bei der klassischen Vaterlandsliebe der Fall ist. Ja, wir haben alle gelernt: In der Geschichte hieß es immer wieder, für das Vaterland zu kämpfen und es zu verteidigen. Ich aber möchte in Europa weder kämpfen noch etwas verteidigen. Wir sind dabei, uns zu vereinen und die Türen nach Osten aufzustoßen. Da möchte ich nicht vom Vaterland sprechen, sondern von der Mutter Europa.

 

Günsel Gül Keskinler geboren 1960 in Istanbul, entstammt einer konservativen türkischen Familie. Ihr Großvater war Bürgermeister von Istanbul. Die gelernte Industriekauffrau und Mutter zweier Kinder ist heute als Selbständige im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung tätig. 1998 nahm sie die deutsche Staatsangehörigkeit an. 1999 trat sie in die CDU ein. Sie gehört dem Vorstand des Deutsch-Türkischen Forum der CDU Nordrhein-Westfalen an und wurde als Vertreterin der Zuwanderer in Deutschland im Juli 2000 in die "Präsidiumsarbeitsgruppe ‘Zuwanderung und Integration’" berufen. CDU-Zuwanderungskommission: Das offiziell "Präsidiumsarbeitsgruppe ‘Zuwanderung und Integration’" genannte sechzehnköpfige Gremium soll als Antwort auf die Zuwanderungskommission der Bundesregierung die Grundlagen für eine eigene Zuwanderungs- und Integrationspolitik der Opposition erarbeiten.

 

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