© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Dem Kanzler den Spaß verdorben
Parteien: In der Zuwanderungsdebatte gibt die CDU jetzt den Ton an / Der innerparteiliche Machtkampf in der Union geht trotzdem weiter
Paul Rosen

Beim Wort "Leitkultur" zittert der deutsche Gutmensch. Und jetzt hat – ausgerechnet – die Merkel-CDU, jenes unbestimmte halblinke Gebilde, dieses Wort in einem Positionspapier zur Ausländerpolitik stehen. Auf Bitten der Vorsitzenden Angela Merkel habe er das Wort "Leitkultur" in das Papier wieder hineingeschrieben, aus dem es vorher herausgestrichen worden war, berichtete der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der das Wort aber nicht verwenden will. Müller, der die Zuwanderungskomission seiner Partei leitet, hatte in der Ausländerpolitik schon immer Extrapositionen im Vergleich zu anderen Landesverbänden der Partei gefahren: Als einziger verweigerte er seine Beteiligung bei der erfolgreichen Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.

Man muß wissen, was in dem CDU-Vorstandspapier zum Thema Leitkultur jetzt noch steht. Von "deutscher Leitkultur" ist natürlich keine Rede mehr. Nun heißt es: "Unser Ziel muß eine Kultur der Toleranz und des Miteinanders sein – auf dem Boden unserer Verfassungswerte und dem Bewußtsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird." Schon soll Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber das Papier als "etwas weich" bezeichnet haben, was von der CSU nur deshalb dementiert wurde, weil den Bayern kurz vor einem wichtigen Parteitag der Sinn ausnahmsweise nicht nach Streit mit der großen Schwesterpartei steht. Offiziell äußerte sich Stoiber ganz anders: "Ich hätte es für einen schweren Fehler gehalten, wenn die CDU den Begriff rausgetan hätte aus dem Papier."

Außerdem sehen die Bayern mit klammheimlichem Vergnügen, wie Frau Merkel die erste Runde im innerparteilichen Machtkampf gegen den Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz verloren hat. Natürlich wurde der Begriff "Leitkultur" nicht auf Wunsch der Vorsitzenden in das Papier genommen. Frau Merkel, die als Rostockerin lupenrein "antifaschistisch" (im DDR-Sinne) sozialisiert wurde, kann mit dem Begriff nichts anfangen. Er ist ihr, so wie alles Deutsche in der DDR hartnäckig negiert wurde, fremd und wird ihr fremd bleiben.

Nur hat Frau Merkel begriffen, wie die Machtverhältnisse in der Partei und besonders in der Bundestagsfraktion liegen. Nachdem sie miterlebt hatte, wie stürmisch Merz für den von ihm ins Spiel gebrachten Begriff "Leitkultur" gefeiert wurde, gab sie klein bei, akzeptierte die Leitkultur und setzte sogar noch eins drauf: Die Diskussion über die Leitkultur müsse einmünden in eine vertiefte Debatte über die Nation und das Vaterland. Daß die CDU-Chefin solche Begriffe in den Mund nimmt, ruft Erinnerungen an einen wichtigen Teil der deutschen Leitkultur wach, nämlich das Erbe der griechischen Philosophie und der Sagen des Altertums, die unser Denken und Handeln über die Jahrhunderte bestimmt haben und bestimmen. Wie hieß es doch in Troja? Ich traue den Danaern nicht, auch wenn sie Geschenke bringen. Das gilt auch und gerade für Frau Merkel, wenn sie mit den Begriffen "Leitkultur", "Nation" und "Vaterland" auf dem Präsentierteller daherkommt.

Schon mit ihren schwammigen Formulierungen, aber bei Festhalten an der Leitkultur, hat die Union die rot-grüne Koalition mächtig unter Druck gesetzt. Kanzler Gerhard Schröder, der das Problem der ungesteuerten und ungeregelten Zuwanderung am liebsten nicht angepackt hätte, warf der Union in bekannter Manier vor, sie wolle mit der "grotesken" Ausländerdebatte von den eigentlichen Themen ablenken. Die unter "verquaster Begrifflichkeit" geführte Diskussion bringe die Gesellschaft nicht weiter, schimpfte der Kanzler in einer Stimmung, die gar nicht zu seinem persönlichen Leitmotto ("Regieren macht Spaß") passen wollte. Doch die Regierung wird reagieren und mit einem Zuwanderungsgesetz den Druck aus der Debatte nehmen wollen.

Damit wäre es dem Oppositionsführer Merz gelungen, die politische Initiative zu übernehmen und der Koalition ein bestimmtes Handeln aufzuzwingen. Das wäre für die Union ein Lichtblick, denn seit der Kampagne gegen den Doppelpaß war ihr kein nennenswerter Erfolg in der direkten Auseinandersetzung mit Schröder mehr vergönnt. Umgekehrt käme Schröder trotz eines gesetzlichen Regelungsversuchs weiter unter Druck, weil die Auffassungen zwischen SPD und Grünen teilweise diametral auseinandergehen. Zwar sprechen auch die Grünen von Teilquoten bei der Zuwanderung, doch haben Jürgen Trittin und Co. dabei möglichst hohe Zuwanderungszahlen im Sinn, weil große Teile der Grünen glauben, nur dadurch die Vision der multikulturellen Gesellschaft noch realisieren zu können. Grünen-Sprecherin Renate Künast, die "Multikulti" in Frage stellte, hat allenfalls die Meinung einer Minderheit artikuliert.

Dennoch weiß man nicht, ob die CDU wenigstens einigermaßen auf Merz-Kurs bleibt. Zu instabil erscheint die Partei, als daß sie in der Lage sein könnte, insgesamt zu ihren eigenen Positionen zu stehen, wie Merz es vorgemacht hat. Altgediente Beobachter warnen davor, daß bei einem kleinsten Mißerfolg die Stimmung der Fraktion wieder gegen Merz umschlagen könnte. Außerdem spielt Frau Merkel immer noch mit dem Gedanken, Merz den Fraktionsvorsitz abzujagen. Zwar hat sie die erste Runde gegen den Westfalen verloren, doch damit ist der innerparteiliche Machtkampf noch nicht entschieden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie sich der seit der Finanzaffäre und besonders durch die Entwicklung in der CDU Hessen pulverisierte konservative Flügel der CDU verhält. Die Debatte um Ausländerpolitik, Asyl und Zuwanderung wurde in der CDU allein von Merz, Frau Merkel und dem linken Flügel bestimmt. Konservative Positionen wurden erst in der Schlußphase wahrgenommen.

So legte die hessische CDU-Bundestagsabgeordnete und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, ein eigenes Positionspapier vor, in dem sie forderte, Zuwanderung nach Deutschland müsse "aus nationaler Interessenlage definiert, begründet und gesteuert werden". Auch fand Frau Steinbach den Mut zu einer Formulierung, die man in der CDU sonst nicht hört: "Demographische Probleme in Deutschland können und sollen nicht durch Zuwanderung gelöst werden". Frau Steinbach verlangte außerdem eine Änderung des Asylrechts, das sie als "steuerungsunfähig" bezeichnet. Mit dem Saarländer Müller verbindet die Hessin allenfalls noch die Forderung, über die notwendigen gesetzlichen Änderungen sollten die Bundesbürger per Volksentscheid entscheiden.

Man weiß nicht, welchen Weg Deutschland exakt in der Zuwanderung gehen wird. Die erstarrten Parteien sind in Bewegung geraten. Doch wieder droht die Gefahr, daß Selbsttäuschung die Debatte bestimmt. Es gibt keine sachlichen Gründe für eine Zuwanderung in größerem Ausmaß. Würde der Bundestag dem Vorschlag der FDP folgen und Zuwanderungsquoten beschließen, müßte man bei Beachtung aller Indikatoren wie zum Beispiel Bevölkerungsdichte und Arbeitslosigkeit – abgesehen von einigen Spezialisten – eine Quote von Null festlegen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen