© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Volkheit
von Karlheinz Weißmann

Wir sind an einem Punkt angekommen, von dem die meisten glaubten, daß wir ihn nie erreichen würden. Die Vernunft werde das verhindern, der gesunde Menschenverstand, die Pendelgesetze der Weltgeschichte, die Sittlichkeit. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Abtreibung straflos bleibt und die Schwulenehe staatlich gefördert wird und die Geburtenziffer einen Tiefpunkt erreicht, wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Zahl der Wehrdienstverweigerer unaufhörlich wächst und Frauen ihr Recht auf Kriegertum einklagen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Volksvertreter nicht mehr zwischen Volk und Bevölkerung unterscheiden können, das Bürgerrecht für praktisch jeden zu haben ist und ein paar hunderttausend fremde Einwohner mehr kaum jemanden schrecken.

Wir sind an einem Punkt angekommen, von dem die meisten glaubten, daß wir ihn nie erreichen würden, weil sie nicht mit der Entschlossenheit der "bösartigen Menschenliebe" (Edmund Burke) rechneten, weil sich niemand vorstellen wollte, daß Unsinn wirklichkeitsfähig ist, wir sind so weit gekommen, und vielleicht lernen wir jetzt, uns vorzustellen, daß wir noch viel weiter kommen könnten. Wir sind so weit gekommen, weil es dagegen keinen nennenswerten Widerstand gab.

Wir sind so weit gekommen, weil sich eine neue Mehrheit und ein neuer Konsens gebildet haben. Erst unmerklich nach dem Ende der großen Debatten in den siebziger Jahren, deutlicher nach dem Scheitern aller konzeptionellen Ansätze in der bürgerlichen Koalition, unverkennbar mit dem großen Rückschlag, der verhindert hat, daß in der Folge der Wende von 1989 über die Neugründung Deutschlands gesprochen werden durfte. Der Konsens umfaßt alle, deren Vorstellungswelt bestimmt wird vom Glauben an Westbindung, Zivilgesellschaft und social engineering. Das läßt kleinere Abweichungen zu (Kruzifixe in Klassenzimmern oder nicht), aber sonst wird rigide über die Einhaltung gewacht.

Hier hat man die ideellen Fundamente der Berliner Republik, die faktisch an die Stelle jener Vorstellungen getreten sind, die zwar schon nicht mehr die alte Bundesrepublik bestimmten, aber noch im Grundgesetz ausdrücklich festgehalten waren: Neben dem Allgemeinen, dem Rekurs auf die Menschenrechte, das Besondere, die Verantwortung vor Gott, vor der Tradition und dem Volk.

Die Abwendung von diesem Besonderen bedeutet die Aufgabe einer für das europäische Denken zentralen Vorstellung: der patria. Bis in das hohe Mittelalter hinein galt die Loyalität dem Brot-, dem Grund- oder Kriegsherren. Personenverbände dieser Art nahmen wenig Rücksicht auf sonstige Bindungen. Das änderte sich während der großen Kämpfe des 14. und 15. Jahrhunderts, als Frankreich, England und Spanien zu Vaterländern wurden und so die antike Vorstellung von der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber seiner patria wiedergewannen. Das nationale Königtum und der Kult des Nationalheiligen (Saint Dénis, Saint Edward, Santiago) bildeten den Kern des Nationalbewußtseins, das sich von älteren Formen des Wir-Gefühls in zwei Punkten unterschied: im Hinblick auf die größere Abstraktheit, denn die patria war ja nicht einfach Heimat, sondern ein Gebiet, dessen Teile man nur ausnahmsweise durch persönliche Anschauung kannte, und im Hinblick auf die sittliche Vertiefung. Die Nation war wie sonst nur die Kirche corpus mysticum, die Einheit der vielen, im Besitz von Identität, Integrität und Ehre. Dieser Sachverhalt ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil er verständlich macht, warum allein im christlichen Europa Nationen entstanden. Die frühen, die asiatischen und die amerikanischen Hochkulturen konnten nicht zu Nationen werden, weil ihnen der Gedanke einer umfassenderen Brüderlichkeit fremd geblieben ist, wie er zuerst im Christentum und dann in der Vorstellung von der nationalen Gemeinschaft zum Ausdruck kam.

Die Deutschen sind den beschriebenen Weg der westlichen Nationen nicht gegangen. Die Übernahme der kaiserlichen und römischen Überlieferung hat zwar durchaus ein Reichsbewußtsein begründet, aber der Stolz der homines imperatoris war nicht umzusetzen in einen Patriotismus, wie er in England oder Frankreich entstand. Das Nationalbewußtsein in den übrigen europäischen Ländern hatte einen starken Antrieb in der Wendung gegen das staufische Kaisertum erhalten, aber dieser Impuls ließ sich nicht umkehren. Noch vor der Herrschaft Heinrichs VI., der den universalen Anspruch am weitesten Geltung verschaffen konnte, sah Hildegard von Bingen in einer Vision den weiteren Gang der Dinge voraus: "In jenen Tagen werden die Kaiser des Römischen Reiches die Kraft, mit der sie jenes Reich zuvor gehalten haben, verlieren; sie werden machtlos sein in ihrer Glorie. Die Könige und Fürsten der vielen Völker, die vormals dem römischen Kaiserreich untertan waren, werden sich von ihm losmachen und ihm nicht länger unterwürfig sein. Und so wird das Römische Reich schwinden und zerstreut werden. Denn jedes Land und jedes Volk wird sich dann einem eigenen König unterstellen und ihm gehorchen."

Das Imperium hat noch in der Agonie etwas von seiner übernationalen und sakralen Bedeutung erhalten, auch wenn die Stimmen seit dem Ende des Mittelalters zahlreicher wurden, die das Reich als ein "deutsches Reich" betrachteten. Im 16. Jahrhundert sprach man schließlich davon, daß Deutschland das "Vaterland" sei, ohne doch diesen Anspruch in eine politische Form bringen zu können. Die Versuche des Kaisers und der Stände, das patriotische Motiv zu reklamieren, blieben ebenso erfolglos wie die Bemühungen der Landesherren, eine je eigene österreichische, preußische, bayerische Nation zu machen.

Eigentlich fruchtbar war nur die Entwicklung einer eigenen Variante des Nationalbewußtseins, das sich vom Zeitalter des Humanismus über Aufklärung und Romantik endgültig ausformte und seinen Schlüsselbegriff in dem Wort "Volk" fand. Während folk im Englischen und peuple im Französischen immer einen abwertenden Beigeschmack behielten, gewann "Volk" im Deutschen eine positive Bedeutung, wurde sogar häufig ausdrücklich dem westlichen Nationenbegriff entgegengesetzt, der "nur politisch, nie vital" (Max Lenz) gemeint sein konnte.

Nationen wie Frankreich oder England haftete immer etwas Gemachtes an, das sich durch die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur nicht verlor, sondern verstärkte. Sie waren mittels Expansion kleiner Machtkerne entstanden und hatten sich durch militärischen, politischen und kulturellen Zwang ihre relative Homogenität verschafft. Anders als diese Nationalstaaten war Deutschland im Laufe der Jahrhunderte, soweit es seine staatliche Organisation betraf, immer weiter reduziert worden, aber der Zusammenhalt in Sprache und Bewußtsein blieb gewahrt. Selbst Auswanderergruppen, die wie die Siebenbürger Sachsen das Reich im Mittelalter verließen, verloren in der fremden Umgebung dieses Bewußtsein nicht, sondern verstanden sich weiter als deutsche natio, die sogar die Reformation mitvollzog und damit den Abstand zu den anderen Ethnien, die sie umgaben, weiter vergrößerte.

Die Vorstellung vom Volk als Grundlage der Nation entsprach wesentlich besser den Gegebenheiten in Nord-, Mittel- und Osteuropa als die westeuropäische Idee des Nationalstaates. Eine politische Organisation haben in diesem Raum praktisch nur Dänen und Schweden seit dem Mittelalter ungebrochen aufrechterhalten können, alle anderen besaßen lediglich eine Erinnerung an frühere Zeiten staatlicher Unabhängigkeit (zum Beispiel Serben, Kroaten, Polen) oder ein Volksbewußt-sein (zum Beispiel Norweger, Finnen, Balten), das oft genug erst durch deutsche Hilfe wieder zu sich selbst kommen konnte; es gibt Gründe für die Verehrung, die man Herder auch heute noch in Lettland, Estland, Litauen entgegenbringt.

Das "Gefühlsdemokratische" (Max Scheler) in dem Begriff "Volk" hat nicht nur zur Anerkennung der Leistungen der illiteraten Schichten in Volkslied, Volksmärchen und Volksbrauch geführt, es hat auch häufig zu einer unangebrachten Sicherheit im Blick auf den Bestand des Volkes beigetragen. Das Volk galt in einem Sinn als natürlich, der den Einfluß Rousseaus auf die deutsche Romantik hervortreten läßt. Dagegen bleibt zu sagen, daß das Volk immer auch das Ergebnis von Volksbildung und Volkserziehung ist. Der Volksgeist kann nur manifest werden, wenn es die gibt, die dafür sorgen. In Goethes "Maximen und Reflexionen" heißt es über den Begriff der "Volkheit": "Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr. Dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt."

Goethes Wort "Volkheit" steht für die Annahme einer substanziellen Größe "Volk", die ihren Willen vielleicht nicht oder nicht immer adäquat zum Ausdruck bringt, aber doch vorhanden ist und jeder Zeit ihr Recht einfordern kann. Dem entspricht in der Staatsrechtslehre der pouvoir constituant, der in einem souveränen Akt die Verfassung hervorbringt. Welcher Art dieser Akt war, mag umstritten sein, aber die Annahme dieses Vorgangs ist für das demokratische Credo unabdingbar: Die Behauptung, daß man dieses "Klapperstorchmärchen" (Josef Isensee) beiseite schieben und sich allein an das Funktionieren der Verfassung halten könne, erscheint als problematischer Kurzschluß, durch den jedenfalls der "Mythos" von der Einheit des Volkes nicht in dem Maße ernst genommen wird, wie er es verdiente. Denn dieser Mythos ist letztlich der entscheidende, Legitimität verbürgende Faktor, der für wahr zu halten ist. Man kann ihn als verzichtbar betrachten, nur solange die Verfassung nicht wirklich in Frage gestellt wird. Eben das geschieht aber in dem Maß, in dem das Volk verschwindet oder zum Verschwinden gebracht wird.

Dafür gibt es allgemeine Gründe, wie das moderne Nomadentum, das mit Lust den Staub von den Füßen schüttelt, der vom Boden der patria haften geblieben ist, und die Förderung jener Klugheit, die im Staat wieder die Maschine sieht, die keine Ansprüche auf das Herz der Menschen machen kann. Dem ist nicht zu begegnen, wenn man das Deutsche in Ernährungsgewohnheiten oder Werten sucht. Dem ist nur zu begegnen durch die Verständigen und Vernünftigen und Guten in dem von Goethe gemeinten Sinn. Was bis auf weiteres genügen muß, um sie zusammenzuhalten, ist die "spezifische Art von Pathos" (Max Weber), in der das Deutsche weiter lebt: in Walters Überschwang und in der Sehnsucht nach Etzels Halle, im Stolz auf die Taten der beiden Friedrich und in der Trauer über das Schicksal Konradins, in den Worten Meister Eckehards und im Anblick der Wartburg, im Choral von Leuthen und in den Werken Herders, Goethes, Fichtes, Hegels, Nietzsches, in der Sehnsucht nach Synthesen, in der Freude über das neue Reich und die Trauer über die Gefallenen beider Weltkriege und die Opfer der Lager, und im Gefühl der Verpflichtung durch Stauffenbergs Todesruf.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Mit seinem Text setzt die JF ihre Forum-Debatte zum Thema "deutsche Leitkultur" fort, die Angelika Willig in der vorigen Woche eröffnete.


 
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