© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/00 10. November 2000

 
Helau: Europas kleinster Karnevalsumzug macht Furore
Reif fürs Guinness-Buch
Gero Brandes

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Helmut Scherer, ausgebildeter Pfleger aus Unna, weiß das ganz genau. Geboren 1934 in Paderborn, ist Unnas größter Medienstar – neben Radprofi Eric Zabel und BVB-Spieler Guiseppe Reina – nicht unbedingt in einer Zeit aufgewachsen, die zum ausgelassenen Feiern anleitet. Nachdem er seine Eltern im Krieg verloren hatte, wurde der kleine Helmut in ein katholisches Internat aufgenomen, in dem er von vielen wohlmeinenden Klosterfrauen bemuttert wurde. Als eines Tages die geistlichen Frauen verkleidet im erzbischöflichen Palais einen Faschingsumzug veranstalteten, rieb sich der kleine Helmut verwundert die Augen. "Ist das hier eine Prozession?" Aber schon bald war der Junge, der auch hinter dem Rücken der Nonnen klammheimlich den Meßwein probierte, vom Karneval hellauf begeistert. Als er schließlich 1956 das Internat in Paderborn verließ, um in Unna als Pfleger im dortigen katholischen Krankenhaus tätig zu werden, kam ihm bei einem Martinsumzug der Kleinsten der Gemeinde die Idee, den Karneval auch Unna nahezubringen. Doch wie der Esel gegen seinen Unterdrücker, welcher auf dem Unnaer Alten Markt in Guß geschlagen wurde und das Wesen der "westfälischen Sturköppe" ausdrücken soll, so sträubten sich die Einwohner anfangs gegen diese scheinbar verrückte Idee. "Ausgerechnet Unna!" bekam Herr Scherer zu hören. Aber wer damit rechnete, daß diese Utopie damit begraben war, kannte diesen ehrgeizigen Mann schlecht. So machte dieser sich auf, die "Sturköppe" zu missionieren und zum Frohsinn zu bekehren. Nachdem er Umzüge in Düsseldorf, Dortmund, Hamm und Werne a.d. Lippe hinter sich gebracht hatte, dort auch origineller Wagen wegen für Furore sorgte und eine beträchtliche Summe an Preisen einheimste, ging er auch nach Münster. Da hatte sich im Schatten der rheinischen Karnevalsmetropolen Düsseldorf und Köln eine jahrhunderte alte Faschingstradition entwickelt, dort mischte er nun munter mit. Eins war dabei für Helmut Scherer sonnenklar. "Natürlich gibt es Unterschiede zwischen rheinischem und westfälischem Karneval, Unterschiede in den Büttenreden, Umzügen und vor allem in der Mentalität, aber diese Vielfalt muß gerade gefördert werden." Anbiederungen an den Kölner Karneval lehnt der gebürtige Paderborner ab. "Westfälisch muß Westfälisch bleiben!" Da es in Unna jedoch kaum jemanden gab, der sich bereiterklärte, mit ihm in vorderster Front im Karnevalszug durch die Innenstadt zu marschieren, beschloß er, aus der Not eine Tugend zu machen. So entstand "Europas kleinster Karnevalszug" – Scherers Ein-Mann-Betrieb. Gegen Mitte der Neunziger fingen die Medien an, ihr Interesse an diesen kuriosen Vorgängen anzumelden. Zuerst tat es der WDR, danach berichteten auch ZDF, ARD, RTL und PRO 7 in immer kürzeren Zeitabständen von dem westfälischen Unikum. Schließlich gelang es Scherer auch, in der ARD-Produktion "Wat is?" den Moderator und Hobby-Philosophen Jürgen von der Lippe, welcher versuchte, ihm aufgrund seiner klösterlichen Nonnenerfahrungen ein wildes Sexleben a la Jenny Elvers anzukreiden, geschickt verbal auszukontern: "Weißt du, Jürgen, über Geld und Frauen sprechen wir nicht..."

Obwohl er sich durch seine Aktivitäten reichlich mit Ruhm bekleckert hat, bleibt er "mit die Füße auffe Erde". Nach jedem vielumjubelten Fernsehauftritt ging der Pfleger ganz normal seiner Arbeit wieder nach. Neben seiner Sorge um einen möglichen Identitätsverlust der Deutschen ("früher gab es Martinsumzüge, heute feiern die Kleinen Halloween!") bereitete ihm vor allem die Entwicklung des kommerziellen Karnevals große Kopfschmerzen. "Zweideutige Sachen" widern ihn an, auch findet er, man solle die Kirche nicht durch den Dreck ziehen. Am stärksten kritisiert er allerdings jene, die glauben, aus dem Spaß der kleinen Leute Geld schöpfen zu müssen. "Der Charme des Karnevals besteht nicht aus dem großen Geld, sondern aus Spaß an der Freud".


 
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