© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/00 17. November 2000

 
Pankraz,
Dostojewski und das protestierende Volk

Kaum ein anderes Urteil über die Deutschen hat Pankraz so beeindruckt wie das Dostojewskis: "Die Deutschen sind das protestierende Volk." Das war damals vor hundertzwanzig Jahren ganz sachlich gemeint, weder positiv noch negativ. Und gerade dadurch gewann es Widerhall, wurde oft zitiert, Thomas Mann hat ihm in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" zentralen Platz eingeräumt.

Dostojewskis Sympathie und Anteilnahme gehörten dem russischen Volk, dem "christlichen Volk sui generis", das in Übereinstimmung mit der Botschaft des Herrn zu leben trachtete. Nur Verachtung hatte er für den westlichen Utilitarismus und Hedonismus, der "das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" zum absoluten Ideal erklärte. Aber bei der Durchmusterung der deutschen Geistesgeschichte geriet er in Irritationen. Die Deutschen waren weder unverbrüchlich christlich noch flach utilitaristisch. Sie paßten in kein Schema und waren immer irgendwie dagegen. So wurden sie für alle Seiten zum Stein des Anstoßes.

Ins römische Reich ließen sie sich nicht integrieren, zerstörten es statt dessen. Während des Mittelalters mochten sie sich nie entscheiden, wer denn nun der Stellvertreter Christi auf Erden sein sollte, der Kaiser oder der Papst. Am Ende inszenierten sie das große reformatorische Schisma, zu dem es vorher weder bei den Katharern noch bei den Hussitten gereicht hatte.

Aber auch im modernen Rationalismus und in der Aufklärung legten sie sich quer, zuerst mit dem Pietismus, dann mit dem Kritizismus, schließlich mit Romantik und absolutem Idealismus. Dostojewski hat noch voll die konturenauflösende, alles verflüssigende "Hegelei" mitbekommen, nicht zuletzt den ungeheuren Einfluß, den diese Hegelei auf die junge russische Intelligenz der Epoche gewann. Unter dieser Erfahrung lehnte er den deutschen Idealismus scharf ab, erkannte jedoch gleichzeitig, was für ein gewaltiges, gerade die edlen Geister ergreifendes Gegenmittel gegen westlichen Atheismus und Materialismus er war.

So kam es also zu dem Spruch: "Die Deutschen sind das protestierende Volk." Dostojewski wußte, daß Protest produktiv und erfindungsreich macht, glänzende Blüten des Geistes hervorzutreiben vermag, doch er wußte auch, daß er – zum Prinzip und zur primären Lebenshaltung erklärt – vom wirklichen Leben isoliert, negativistische, nihilistische Kräfte freisetzt. Politisch manövriert sich der geborene Protestant leicht in unerwünschte Ecken, provoziert übermächtige Allianzen gegen sich, und Dostojewski sagte den Deutschen deshalb eine ungemütliche Zukunft voraus, womit er ja auch recht behalten hat.

Heute ist vom deutschen Protestantismus nicht mehr viel übrig. Er protestiert nur noch gegen sich selbst, ist nicht mehr willens und in der Lage, seinen Impetus auf konkrete Tatbestände zu beziehen, nölt nur noch herum, um sich anschließend still und eifrig ins fremdbestimmt "Unvermeidliche" zu fügen. Sein Erfindungsreichtum und seine Kreativität scheinen erloschen.

Das ist sehr schade, denn gerade die gegenwärtige Weltsituation könnte ein geistiges Zentrum protestierenden Einfallsreichtums gut gebrauchen, eine vor Geschäftigkeit brodelnde Alternativenküche und Experimentierfläche. Nicht einmal die rosigsten Schönredner wagen ja noch zu behaupten, daß die Dinge, so wie sie laufen, optimal liefen und daß es keine Notwendigkeit gäbe, über differierende Sozialentwürfe, Weltansichten und Tatantriebe nachzudenken.

Widerstände, die sich regen, bleiben indessen im bloßen Ressentiment stecken, beharren blindlings auf Tradition und Anderssein, finden keine anspruchsvolle und zeitgemäße Artikulation und schon gar keine Institution, die solcher Artikulation Halt und Echo böte. Nicht jede Weltgegend eignet sich eben für professionellen Protestantismus. Teheran wird wohl nie ein globales Wittenberg werden und Kabul nie ein neues Weimar.

Im Grunde wäre jetzt die große Stunde der Deutschen, insofern sie der Einschätzung des Fjodor Dostojewski auch nur noch einigermaßen gerecht würden. Niemand könnte ihre geistigen Eliten daran hindern, protestierende, reformatorische Originalität vorzuzeigen. Aber ach, die Dinge, sie sind nicht so.

"Noch nie", sagte soeben die emigrierte ehemalige Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die heute in Kroatien lebt, dem Spiegel, "war das politische und geistige Leben in Deutschland auf einem so niedrigen Niveau wie im Augenblick." Das trifft voll zu und bezeugt nicht einmal besonderen Scharfblick; der König hat wirklich keine Kleider mehr an, jeder kann es sehen.

Aber wie in solchen peinlichen Momenten üblich, redet man sich ein, es sei nicht so, die Kleider seien im Gegenteil überaus prächtig. Von einer "schon lange nicht mehr dagewesenen" Blüte der deutschen Literatur schwärmen die maßgebenden Kritiker, es wimmele geradezu von jungen, frischen Talenten. Die Politiker bescheinigen sich unisono und in penetranter Wiederholung "höchste demokratische Reife", die Talkmaster schwärmen von ihrer "hohen Debatten- und Diskurskultur".

Nur das Volk selbst, heißt es, sei leider noch nicht auf dem von den Großkopfeten längst erreichten Niveau, "mindestens zwölf Millionen" innerhalb dieses Volkes seien sogar ausgesprochene Barbaren und müßten durch machtvolle, vom Staat organisierte Straßendemos in die Schranken gewiesen werden.

"Wenn man Menschen und Völker niederdrücken und vernichten will", schrieb Dostojewski in seinen Mitteilungen "Aus einem Totenhause", "so braucht man ihnen nur das völlige Gegenteil von dem, was wirklich ist, einzureden, um sie dann in die Freiheit zu entlassen. Sie werden nur noch umhertorkeln, und einige werden zu Mördern werden".


 
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